VIER

»Ich denke, also bin ich.« Tyger pustete in seine dampfende Teetasse. »Was fällt euch dazu ein?«

Es war Mittwochmorgen und eigentlich hätte unser Philosophielehrer Herr Hoppenkamp hinter dem Pult stehen müssen. René Descartes war im Moment das Thema und heute hätten wir uns mit der Biografie des französischen Philosophen beschäftigen sollen. Aber Herr Hoppenkamp war krank und unser Englischlehrer vertrat ihn.

»Cogito ergo sum«, meldete sich Lennart zu Wort. Lennart war mit Suse und mir in die Grundschule gegangen und meine beste Freundin hielt ihn für eine Kreuzung aus Giraffe und Heino, weil sich sein langer blasser Hals rot fleckte, sobald er den Mund aufmachte – und das tat er trotz der unschönen Begleiterscheinung ziemlich oft.

»So lautet die lateinische Übersetzung dieses Grundsatzes«, fuhr Lennart eifrig fort. »Descartes wollte damit aufzeigen, dass wir an allem, was existiert, zweifeln können, nur nicht an dem eigenen denkenden Ich. Er meinte . . .«

»Ich habe nicht nach Descartes’ Ausführungen zu diesem Thema gefragt«, unterbrach ihn Tyger ungnädig. »Ich habe gefragt, was euch dazu einfällt.«

»Die Fähigkeit zu denken macht uns einzigartig«, sagte Lilith Hopf, das Mädchen mit der Schweinenase. »Es unterscheidet uns von den niederen Lebewesen. Den Tieren.«

»Soll das etwa heißen, dass Tiere nicht sind?« Suse warf Lilith einen verächtlichen Blick zu. »Ich glaub zwar nicht, dass mein Hamster in seinem Laufrad philosophiert, aber lebendig ist er durchaus.«

Unterdrücktes Kichern ertönte im Klassenzimmer.

»Die Gedanken sind unser wertvollster Besitz«, kam es von Super Mario. Sein Vater war unser Elternsprecher. Janne hasste ihn, weil er jeden Elternabend mit endlosen Debatten in die Länge zog.

»Ob wir dick oder dünn sind, reich oder arm, zählt am Ende nichts«, vertiefte er seine Behauptung. »Ein kluger Hartz-IV-Empfänger ist demnach mehr wert als ein reicher Sack, der nur blödes Zeugs im Kopf hat.«

»Aber Idioten denken auch«, sagte Sebastian. Er war der einzige Schüler, dem Tyger gestattete zu reden, ohne sich vorher zu melden. Jenni und Paula, die rechts von ihm saßen, hingen an seinen Lippen und auch Sheila drehte sich jetzt zu ihm um. »Ich kann darüber nachdenken, wie viele Gläser Bier ich mir am Abend hinter die Binde kippe, wie viele Frauen ich im letzten Monat flachgelegt habe oder wie ich dem Türken von nebenan am besten die Fresse poliere. Damit verdiene ich mir nicht unbedingt den Nobelpreis, aber es sind Gedanken.«

»Gedanken si-hind frei«, sang Sheila und warf sich in Pose, als stünde sie vor der DSDS-Jury. »Niemand kann sie erraten . . .«

»Und das ist in manchen Fällen ein großer Segen«, kommentierte Tyger. »Gibt es vielleicht noch ein paar intelligentere Assoziationen? Ja, Aaron?«

»Koitus ergo sum.« Unser Klassenclown feixte in die Runde und erntete brüllendes Gelächter. Selbst Tygers Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln. Nur Sheila runzelte angestrengt die Stirn. Sie wollte wissen, was ein Koitus sei, und als Aaron versprach, es ihr bei nächster Gelegenheit zu zeigen, explodierte die Klasse. Auch ich musste lachen, obwohl ich heute Morgen wieder mal schwer aus dem Bett gekommen war und vor lauter Müdigkeit kaum aus den Augen sehen konnte. Die Aussicht auf eine Doppelstunde bei Schlaftablette Hoppenkamp war auch nicht gerade der beste Antrieb gewesen, aber wenn ich gewusst hätte, dass mein Lieblingslehrer mich hier erwartete, hätte ich definitiv geschwänzt. Ohne Vorwarnung Tyger morgens um acht, das war einfach zu viel für mich.

Während sich die Klasse langsam beruhigte, blieben seine hellen Augen prompt an mir haften. »Was ist mit dir, Rebecca? Hättest du die Freundlichkeit, uns an deinen Gedanken zu diesem Thema teilhaben zu lassen?«

Ich drehte den Bleistift, mit dem ich in den letzten Minuten ungefähr ein Dutzend Carpe diems in mein Heft gekritzelt hatte, in meiner Hand. Das Thema? Ich versuchte, mich zu konzentrieren, um einen halbwegs vollständigen Satz zustande zu bringen. Seltsamerweise kam er, ohne dass ich darüber nachdenken musste. »Für mich ist dieser Spruch von Descartes nur die eine Seite der Wahrheit«, hörte ich mich plötzlich sagen.

»Aha?« Tyger zog eine Augenbraue hoch. »Interessant. Und wie lautet die andere, wenn ich dich noch ein wenig belästigen darf?« Diesmal achtete ich nicht auf Tygers Ironie. Irgendwas in seinem Gesicht brachte mich dazu, die Frage ernst zu nehmen.

»Dass . . . wir manchmal viel mehr sind, wenn wir nicht denken«, setzte ich an. »Wenn wir fühlen oder wenn wir . . . einfach . . . sind.«

Für eine kurze Sekunde bohrten sich die Augen meines Lehrers tief in mich hinein. Doch schon in der nächsten Sekunde war die kühle Maske wieder da. »Dann versuchen wir es doch einmal«, sagte er mit einem überlegenen Schmunzeln. »Ein kleines Experiment.« Tyger zog seine Taschenuhr aus dem Jackett und klappte sie auf. »Schließt eure Augen«, befahl er. »Na los, macht die Augen zu.«

Wieder wurde ein Kichern laut. Suse kickte mir in die Seite. »Weck mich, wenn ich einschlafe«, murmelte sie.

Aber ich war plötzlich hellwach. Ich tat, was Tyger sagte, und schloss die Augen. Fast unmittelbar nahm ich ein sanftes Pulsieren hinter meinen Schläfen wahr.

»Und jetzt«, drang Tygers Stimme an mein Ohr, »hört auf zu denken. Ich gebe euch drei Minuten Zeit. Auf geht’s.«

Schon nach den ersten Sekunden prusteten die Ersten los. Füße scharrten, Papier raschelte, irgendjemand täuschte ein Schnarchen vor, doch als Tyger sich räusperte, wurde es ruhiger. Ich versuchte, meinen Kopf leer zu machen, aber mein Gehirn gehorchte nicht. Wie eine Maschine, bei der die Stopptaste klemmte, begann es, Empfindungen in Worte umzuwandeln und eine nach der anderen auszuspucken.

Suse riecht nach Mandarinen. Meine Finger sind kalt. Irgendjemand hat grässliche Schweißfüße. Sebastian hat recht, auch das sind Gedanken. Ich denke an Schweißfüße, also bin ich? Hilfe! Was ist überhaupt mit ihm los in den letzten Tagen? Seit Montag hat er kaum ein Wort mit mir gesprochen. Hab ich was . . . Stopp, Rebecca, nicht denken!

Aber es war unmöglich. Es fühlte sich an, als ob ich innerlich mit aller Kraft eine Schleuse zudrückte, gegen die sich eine geballte Masse stemmte. Widerstand zwecklos. Ich gab auf. Die Schleuse öffnete sich und die Gedanken, die ich am meisten hatte verdrängen wollen, strömten auf mich ein.

Wer bist du? Was willst du von mir? Warum tauchst du auf wie aus dem Nichts, um gleich darauf wieder zu verschwinden? Und was waren das für seltsame Dinge, die du zu mir gesagt hast? Woher wusstest du, was auf der Rückseite meines Anhängers steht? Warum hast du den Satz auf Englisch übersetzt? Du hast Seize the day gesagt. Dad spricht englisch mit mir, aber du kennst meinen Dad nicht, du weißt nichts von ihm. Oder doch? Warum muss ich ständig an dich denken? Oh Gott, das ist verrückt!!! Ich will das nicht denken, ich . . .

Das Zuschnappen von Tygers Taschenuhr holte mich zurück ins Klassenzimmer. Bildete ich es mir ein oder hatte mein Lehrer mich die ganze Zeit angeschaut?

»Ihr habt es nicht geschafft«, sagte er und es war keine Frage. »Ganz egal, ob weiße Stiefel, die nächste Party oder der Widerstand gegen diese Aufgabe durch euer Gehirn gegeistert sind, ihr habt gedacht. Jede winzige Sekunde lang. Selbst euer Wunsch, nicht zu denken, war ein Gedanke. Rebeccas Bemerkung war im Grunde gar nicht so dumm. Nicht zu denken und trotzdem zu sein, könnte eine Erlösung sein. Aber diese Fähigkeit ist euch nicht gegeben.«

Mein Lehrer ließ seine Taschenuhr in seinem Jackett verschwinden. »Der englische Schriftsteller Lovell hat seinem Leben ein Ende bereitet, weil ihn seine quälenden Gedanken nicht mehr losließen«, sagte er. »Ihr seid – also denkt ihr. Das macht euch zu den einzigen Lebewesen, die sich mit ihren Unzulänglichkeiten, Zweifeln und Ängsten herumschlagen müssen. Mit dem Denken aufhören könnt ihr erst, wenn ihr tot seid.«

»Sollte das eine Ermunterung zum Selbstmord sein?«, fragte Suse, als wir in der Pause zu Doris’ Diner gingen. »Meine Güte, der war ja mal wieder voll drauf, was?«

»Mhm«, murmelte ich. Mich beschäftigten vor allem die Sätze, die Tyger am Schluss der Stunde von sich gegeben hatte. Ihr seid, also denkt ihr.

»Ist dir das auch aufgefallen?«, fragte ich Suse. »Als es darum ging, dass wir die eigenen Gedanken nicht abstellen könnten, sagte Tyger ihr und euch. Als ob er nicht dazugehören würde.«

»Wow!« Suse stupste mich an. »Worauf du alles achtest! Und das morgens um halb neun. Mir ist das selbst jetzt noch zu hoch, wenn ich ehrlich bin. Ich sterbe nämlich gleich vor Hunger. Und ich glaube, da vorne will jemand Klartext reden.« Suse nickte zum Diner. Sebastian wartete mit verschränkten Armen neben der Tür.

»Der hat dich die ganzen Tage schon so düster gemustert«, flüsterte Suse mir zu. »Was ist los, habt ihr Stress?«

»Nicht dass ich wüsste«, entgegnete ich unsicher. Dass wir uns wieder trafen, hatte ich Suse erzählt und sie hatte es stirnrunzelnd zur Kenntnis genommen.

»Na dann.« Suse klopfte mir auf die Schulter. »Ich denke, ich bin unterzuckert, also esse ich. Und du schrei um Hilfe, wenn du denkst, du brauchst mich.« Suse drückte meinen Arm und verschwand im Diner.

»Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«, fragte Sebastian, als wir allein waren. »Oder besser gesagt: jemanden?«

Ich duckte mich unwillkürlich unter dieser Frage. »Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete ich zögernd.

»Schwarze Haare«, sagte Sebastian. »In etwa so groß wie du. Punkige Lederjacke. Reicht das? Oder brauchst du noch ein paar zusätzliche Stichworte?«

Ich starrte ihn wortlos an, mein Herz klopfte schneller. »Du hast ihn gesehen?«

»Sheila«, entgegnete Sebastian knapp. »Und sie hat nicht ihn gesehen, sondern euch. Laut ihrer Aussage wart ihr ziemlich vertieft in euren kleinen Flirt. Ich muss sagen, dass ich das ganz schön heftig von dir finde. Ich lass dir gerne Zeit, Becks. Aber nicht für einen anderen. Das kannst du vergessen.«

»Scheiß auf Sheila Hameni«, fluchte ich, als mir wieder einfiel, wie sie mich am Sonntag hinter vorgehaltener Hand in der Fischauktionshalle angestarrt hatte. »Glaubst du alles, was die blöde Kuh dir erzählt? Das war kein Flirt. Das . . .«

»Ja?« Sebastian sah mich an. »Du brauchst nicht stottern. Ich höre dir zu.«

»Ich hab meinen iPod verloren, okay?«, stieß ich ungewollt heftig aus. »Der Typ hat ihn gefunden und mir in die Hand gedrückt. Ich hab mich bedankt und das war alles. Ich weiß nicht mal seinen Namen.« Wenigstens das entsprach der Wahrheit.

»Aha. Na, wenn das so ist.« Sebastians Miene war wie versteinert.

»Ja, so ist es! Und wenn du mir nicht glaubst, kann ich dir auch nicht helfen.«

Sebastian zuckte mit den Achseln. Plötzlich sah er hilflos aus. »Egal, vergiss es einfach. Lass uns reingehen.«

Ich folgte ihm und merkte, wie sich alles in mir zusammenkrampfte. Er hatte ja recht. Das, was ich abzog, war alles andere als fair ihm gegenüber.

Andererseits – ich hatte den fremden Jungen, dessen Namen ich ja tatsächlich nicht einmal kannte, erst dreimal gesehen. Jedes Mal für kurze Zeit. Warum fühlte es sich dann so an, als ob Sebastian allen Grund dafür hätte, eifersüchtig zu sein?

»Becks, kommst du?« Sebastian hatte ein Lächeln aufgesetzt, das wohl seine Unsicherheit überspielen sollte. Er hielt mir die Tür zum Diner auf. »Seltsam, was Tyger am Schluss gesagt hat, oder? Warum hat er sich selbst nicht auch genannt, als er darüber sprach, dass uns Gedanken quälen? Meinst du, er hat ein Geheimrezept? Würde ihm ähnlich sehen.«

Ich hatte es nicht verdient. Ich hatte es einfach nicht verdient, wie nett Sebastian zu mir war. Aber ich fühlte die Erleichterung fast körperlich. Sebastian war mein bester Freund und ich wollte ihn um keinen Preis der Welt verlieren. Ich hakte mich bei ihm unter. »Bruder«, sagte ich, »dasselbe habe ich mich auch gefragt.«

Wir setzten uns zu Suse an den Tisch. Sie hatte schon bestellt und schaufelte ihre Pommes in sich hinein. Sebastian orderte ein Truthahnsandwich für sich und einen Veggieburger für mich und zahlte beides. Und während wir kauten, sorgte Suse für Unterhaltung. In knapp zehn Tagen wollte sie ihren Geburtstag feiern und hoffte auf einen halbwegs warmen Herbsttag, damit sie wie letztes Jahr an der Elbe grillen konnte. Sie betete, dass Dimo kommen würde. Gestern war Bandprobe gewesen und Dimo hatte T-Shirts für seine Backvocals anfertigen lassen. Sie waren weiß mit rotem Kreuz und trugen den Aufdruck Kranke Schwester.

Jedes Mal wenn Suse Dimos Namen fallen ließ, flackerten ihre Augenlider und Sebastian stieß mich mit dem Fuß unter dem Tisch an.

Okay, dachte ich. Alles ist wie früher. Alles ist wie immer. Ich atmete aus, lehnte mich zurück – und sah den schwarzen Haarschopf am Tresen.

Ich verschluckte mich vor Aufregung und fing wie wild an zu husten. Während Sebastian mir den Rücken klopfte, erkannte ich das schmale Gesicht mit den dunklen Augen.

Er saß am Tresen, ganz hinten in der Ecke und hielt ein Glas Cola in die Höhe. Er sah aus, als prostete er mir zu.

Ich röchelte. Ein Stück Salat hatte sich in meiner Speiseröhre verfangen. Tränen stiegen in meine Augen, doch ich wendete meinen Blick nicht ab.

Jetzt glitt der Junge von seinem Barhocker und kam durch den vollen Diner auf uns zu. Auf seinem Gesicht lag ein konzentrierter Ausdruck. Obwohl er langsam ging, waren seine Bewegungen leichtfüßig, geschmeidig, wie bei einem Raubtier, das sich auf leisen Pfoten seiner Beute nähert. Weder Suse noch Sebastian schienen ihn wahrzunehmen, was vielleicht auch an meinem Hustenanfall lag. Der Junge war nur noch wenige Schritte von unserem Tisch entfernt. Er machte einen demonstrativ tiefen Luftzug, wobei er mich nicht aus den Augen ließ. Sein Mundwinkel verzog sich zu einem schiefen Lächeln und dann ging er an mir vorbei.

Am liebsten wäre ich hinter ihm hergerannt, aber in diesem Moment bekam ich endlich wieder Luft, und als ich mir die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, war er um die Ecke verschwunden.

Suse sah mich besorgt an und Sebastian hielt mir sein Glas hin. »Hier, trink was. Mensch Becks, du bist ja rot wie ein Krebs. Besser?«

Ich trank, schluckte, dann nickte ich wieder. Dass mein Puls verrücktspielte, lag nicht an meinem Hustenanfall.

»Ich komm gleich nach«, sagte ich, als Suse und Sebastian schließlich aufstanden und ihre Tabletts zurückgaben. »Ich muss kurz aufs Klo, geht schon mal vor.«

Als sich die Tür hinter den beiden schloss, stürzte ich zum Tresen. »Entschuldigung«, wandte ich mich an die Bedienung. Sie hatte kurze knallgrüne Haare und ein Salamandertattoo auf dem Oberarm. »Der Junge, der hier vorhin saß.« Ich räusperte mich. »Weißt du zufällig seinen Namen? Oder hast du ihn hier schon mal gesehen?«

Die Grünhaarige drehte ihren Kopf zu dem Platz, an dem der Junge gesessen hatte. Das Colaglas und der Teller standen noch da, beides leer, bis auf ein Salatblatt, das einsam auf dem Tellerrand lag.

»Oh Shit!«, rief sie aus. »Der Arsch hat nicht bezahlt!« Ihr Gesicht war rot vor Wut, als sie sich mir wieder zuwandte. »Nein, ich habe nicht seinen Namen. Und wenn ich ihn hätte, würde ich die Bullen rufen. So ein Scheißkerl! Hat er dir etwa auch was geklaut?«

Als ich stumm den Kopf schüttelte, runzelte sie die Stirn.

»Moment mal. Hast du nicht da vorn neben der Tür gesessen? Du hattest einen Hustenanfall?«

»Ähm . . . ja«, stammelte ich.

»Na super!« Die Grünhaarige schnaubte. »Der Typ hat mich auch nach dir gefragt. Wollte wissen, ob du öfter hier bist. Und ob dieser blonde Chico, der auf deinem Rücken rumgetrommelt hat, dein Freund sei.«

Mir wurde schwindelig. »Und . . . was hast du ihm gesagt?«

»Was ich gesagt habe?« Die Grünhaarige stemmte ihre Fäuste in die Seiten. »Bin ich eine Partneragentur, oder was? Ich hab gesagt, dass er dich das gefälligst selbst fragen soll. Und als Dankeschön prellt er die Zeche.« Sie schüttelte den Kopf. »Fuck, und ich hab nicht mal mitgekriegt, dass er sich aus dem Staub gemacht hat!«

Ich holte tief Luft. »Wie viel?«

»Hä?« Die hellen Augenbrauen der Grünhaarigen schoben sich dicht zusammen.

»Das Essen.« Ich deutete auf den leeren Platz am Tresen. »Wie viel?«

»Oje.« Ein mitleidiges Lächeln erschien auf den Lippen der Servicekraft. »Dich scheint es ja schwer erwischt zu haben, Herzchen. Aber bitte, bevor ich es aus meiner eigenen Tasche zahle . . .« Sie streckte die Hand aus. Sechs Euro neunzig. Trinkgeld nicht mitgerechnet.«

»Hier.« Ich öffnete mein Portemonnaie und drückte der Grünhaarigen sieben Euro in die Hand. »Stimmt so.«

»Besten Dank. Und für die zehn Cent lass ich noch einen kleinen Tipp springen. Halt dich von solchen Typen fern. Die bringen nur Ärger.«

Dann drehte mir die Grünhaarige den Rücken zu und verschwand in der Küche.

Nach der Mittagspause hatten wir noch eine Stunde Französisch, in der wir einen Test schrieben (für den ich nicht gelernt hatte), und eine Doppelstunde Englisch, in der uns Tyger eine Schauergeschichte von Lovell vorlas (von der ich kein einziges Wort mitbekam). Schwarze Haare, dachte ich. In etwa so groß wie ich. Punkige Lederjacke. Brauchte ich noch ein paar Stichworte? Ja, jede Menge, aber davon würde ich Sebastian wohl kaum erzählen können. Verdammt, Tyger hatte recht. Ich hätte viel darum gegeben, das Denken einzustellen.

Gleich von der Schule aus fuhr ich zur Alsterschwimmhalle. Hier hatte ich sieben Jahre lang trainiert, dreimal die Woche. Mein Trainer hielt große Stücke auf mich, aber meine Mannschaftskolleginnen gingen mir mit jedem Jahr mehr auf den Geist. Ich passte nicht ins Bild. Meine Hüften waren zu rund, meine Brüste zu groß – und dass ich trotzdem zu den Besten gehörte, trug nicht gerade zu meiner Beliebtheit bei. Nach meinem sechzehnten Geburtstag war ich aus dem Verein ausgetreten und bereute es keine Sekunde.

Aber das Schwimmen war nach wie vor die einzige Sportart, die ich liebte. Ich trainierte für mich allein, maß mit dem Polar meine Geschwindigkeit und verbesserte meine Kondition von Monat zu Monat.

Heute war zum Glück nicht viel los, sodass ich eine ganze Bahn für mich allein hatte. Ich fing mit Brust- und Rückenschwimmen an, um mich aufzuwärmen. Dann begann ich zu kraulen und irgendwann tauchte ich im wahrsten Sinne des Wortes ab. Hier im Wasser wurde alles leichter, schwereloser, schwebender. Nicht nur mein Körper, auch die Gedanken. Gerade die Gedanken.

Schwimmen war für mich wie Fliegen ohne Flügel. Und irgendwann kam dieser berauschende Punkt, an dem ich die eigene Anstrengung nicht mehr wahrnahm, nur noch den Rhythmus im Wasser, die Einheit von Bewegung und Getragensein. Erst als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, merkte ich, was ich geleistet hatte. 6,2 Kilometer in 72,22 Minuten. Ich fühlte jeden einzelnen Muskel und mein Puls rauschte mir in den Ohren. Aber in meinem Kopf herrschte endlich Ruhe, zumindest für den Moment.

Auf dem Weg nach Hause nahm ich mir fest vor, den Fremden aus meinem Kopf zu verbannen. Es war wieder Mittwoch und es war genau eine Woche her, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Schluss mit dem Gegrübel, Schluss mit den quälenden Fragen, was er von mir wollte oder welche Zufälle uns immer wieder zusammenführten.

Heute war ich die Mittwochskönigin und ich würde mit Spatz und Janne Ocean’s Eleven schauen. Ich würde essen und den Film genießen und schlafen – und morgen würde ich versuchen, das Ganze logisch zu betrachten.

Unsere Wohnung roch nach Tausendundeiner Nacht. Janne hatte laut Spatz über vier Stunden in der Küche verbracht. Mit den orientalischen Vorspeisen, die sie zubereitet hatte, hätte man eine halbe Armee versorgen können oder, wie Spatz bemerkte, einen orientalischen Harem.

Janne war die Chefköchin in unserem Frauenhaushalt, und wenn sie Stress im Job hatte, konnten ihre Kocharien schon mal ausarten. Wenn Jannes Kollegen, mit denen sie und Spatz befreundet waren, zu Besuch kamen, flehte Spatz sie jedes Mal an, meiner Mutter doch die besonders schwierigen Fälle weiterzuvermitteln. Ich protestierte dann immer entschieden. Spatz konnte so viel essen, wie sie wollte, ohne auch nur ein Gramm zuzulegen. Bei mir dagegen bedeutete ein besonders gestörter Patient von Janne garantiert ein Gürtelloch mehr.

Worauf ich mich heute wieder einmal einstellen konnte. Ungefähr zwei Dutzend gefüllte Schälchen verteilten sich auf dem langen Beistelltisch neben dem Tagesbett. Im Vogelbauer stritten sich Jim Bob und John Boy um ihren Ehrenplatz an der frischen Hirsestange. Auf dem Fernseher thronte der nimmersatte Anton und auf dem Bildschirm verkündete Dash seinen Komplizen: »Wir stecken voll in der Scheiße! Wenn wir nicht geil darauf sind, auf Monaco auszuweichen, sind wir voll Backe.«

»Arschbacke!«, tönte Spatz im gleichen Atemzug wie Dash. Wir sahen den Film zum zweiten Mal in diesem Jahr und Spatz hatte, selbst was die dämlichsten Witze betraf, ein gutes Gedächtnis. Wahrscheinlich lag es an ihrem Zweitberuf. Sie jobbte im Theater als Souffleuse.

Sie saß mit untergeschlagenen Beinen neben mir auf dem breiten Tagesbett unseres Dachbodens. Seit einer Woche häkelte sie an dem ersten Objekt ihrer neuen Serie: Sponglia beatificae. Glücksschwamm. Noch war nicht genau zu erkennen, zu welchem Ganzen sich die changierenden Goldfäden verbinden würden, aber Spatz war Feuer und Flamme und hatte vor, mit dieser Serie ihre erste Ausstellung zu machen. Das Garnknäuel lag auf meinem Schoß und ich gab mir Mühe, es nicht vollzukrümeln.

Janne saß rechts von mir, und während Spatz zumindest mit den Ohren das Geschehen auf dem Bildschirm verfolgte, war meine Mutter nicht wirklich bei der Sache. Ähnlich wie ich schien sie sich nur schwer auf den Film konzentrieren zu können.

Sie aß ihren Couscous-Salat auf, den sie sich auf den Teller gehäuft hatte, streckte sich und stand auf. »Ladys, ihr seid mir nicht böse, wenn ich euch mit dem Rest des Films allein lasse? Ich muss morgen früh raus.«

Spatz sah von ihrer Häkelei auf.

»Alles okay?«, fragte sie besorgt und Janne nickte. »Alles bestens, ich brauch nur ein bisschen Schlaf. Gute Nacht, ihr beiden. Gute Nacht, John Boy. Gute Nacht, Jim Bob.« Sie warf einen Luftkuss in die Runde und wandte sich zur Wendeltreppe. »Räumt ihr bitte das Geschirr weg?«, hörten wir sie im Heruntergehen rufen.

»Schwerer Fall?«, fragte ich Spatz, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden.

»Nicht dass ich wüsste«, entgegnete sie.

Spatz war die einzige Privatperson, der sich Janne – wenn überhaupt – anvertraute, was ihre Arbeit anging. Meine Mutter war eine Verfechterin der Schweigepflicht. Nie hätte sie mir gegenüber ein Wort über die Probleme ihrer Klienten verloren. Aber natürlich wusste ich, was Janne in ihrem Beruf so alles zu hören bekam, und damit meinte ich nicht Menschen wie unsere Nachbarin Frau Dunkhorst, die ihre Stunden bei Janne wahrscheinlich nur dazu nutzten, ihre zahlreichen Krankheitssymptome zu schildern. Unter Jannes Klienten waren Frauen, die vergewaltigt oder in ihrer Kindheit misshandelt worden waren, genauso wie Menschen, die ihre eigene Gewalt nicht im Griff hatten. Für Janne waren auch Täter Opfer. Vor ein paar Jahren hatte ich einmal mitbekommen, wie sie auf ihrem Notfallhandy mit einem Mann sprach, der unter Gewaltfantasien litt.

Ich wusste nicht, was stärker war: meine Abscheu, dass meine Mutter so verständnisvoll auf diesen kranken Typen am anderen Ende einging – oder meine Bewunderung für sie. Oft fragte ich mich, wie sie das aushielt.

Ich drückte auf die Stopptaste der Fernbedienung. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf den Film. Aber genauso wenig wollte ich ins Bett. Ich brauchte die Gesellschaft von Spatz, ich brauchte sie, damit sie mich ablenkte.

»Wollen wir deine Platte hören?«, schlug sie vor. »Sie ist wunderschön.«

Ich nickte. Spatz legte ihr Häkelzeug zur Seite und griff nach der Schallplatte von Joan Armatrading, die ich ihr am Sonntag vom Flohmarkt mitgebracht hatte. Es war nicht unbedingt meine Art von Musik, aber das leise Kratzen der Platte hatte etwas Beruhigendes und die Sängerin hatte eine wunderschöne, sonore Stimme.

Das Lied hieß Save me und Spatz sah mich an und ihr Gesichtsausdruck wurde weich. »Dieses Lied habe ich an dem Abend gehört, als ich deine Mutter kennenlernte«, sagte sie mit ihrer hohen Stimme. »Es lief im Radio, als ich in dem Café neben dem Kinderkrankenhaus etwas zu essen für sie holte.«

Ich nickte. Ich hatte keine Erinnerung mehr an diesen Tag, ich war noch zu klein gewesen, aber die Geschichte kannte ich natürlich. Als Kind hatte ich sie wieder und wieder hören wollen. Und bis heute staunte ich, dass ausgerechnet ich der Grund dafür war, dass die beiden sich getroffen hatten.

Spatz schloss ihre Augen und wir lauschten dem Gesang von Joan Armatrading:

Like a moth, with no flame to persuade me Like blood in the rain, running thin

While you stand on the inside, looking in Save me . . .

»Erzähl mir davon«, bat ich Spatz. »Erzähl mir die Geschichte noch einmal.«

Spatz schlang die dünnen Arme um ihre Knie und lächelte mich an. »Meinst du das im Ernst?«, fragte sie.

»Ja«, sagte ich. Geschichten aus meiner Kindheit, und diese im Besonderen, hatten oft die gleiche Wirkung auf mich – sie strahlten immer so etwas wie Trost aus. Und Trost war das, was ich heute Abend brauchte.

»Na dann«, sagte Spatz. »Du warst drei Jahre alt . . .«

Ich nahm mir noch eine Halbmondtasche und lehnte mich in die dicken Kissen zurück.

» . . . und du hast auf dem großen Spielplatz im Stadtpark geschaukelt. Es war ein wunderschöner Herbsttag, Janne trug ihren blauen Wollmantel und stieß dich an. Höher, Mam, hast du gerufen, immer lauter, immer aufgeregter. Höher, höher! Bis zum Himmel! Janne stand hinter dir und hat dich immer stärker angestoßen, während du gejubelt hast. Ich habe auf der Wiese gesessen und gezeichnet, aber ihr beiden habt mich abgelenkt – nein, Janne hat mich abgelenkt.« Spatz lächelte. »Sie nahm nichts und niemanden wahr, nur dich. Sie schien völlig in deinem Glück aufzugehen. Die Sonne fiel genau auf ihr Haar, es schimmerte und ihre Augen strahlten. Und dann, wie aus heiterem Himmel, hast du die Schaukel losgelassen. Sie war hoch oben in der Luft und du bist abgestürzt. Plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Es war einer dieser Momente, die wie eingefroren wirken: du in der Luft, Janne hinter dir, die Hände ausgestreckt, als könnte sie dich auffangen. Was natürlich absolut unmöglich war. Du bist mit dem Hinterkopf auf eine Steinplatte gekracht. Es war ein fürchterliches Geräusch und danach hast du dich nicht mehr gerührt.«

Spatz schloss für einen Moment die Augen und verzog das Gesicht. »Janne schrie und es klang fast noch schlimmer als dein Aufprall. Es war ein gellender, markerschütternder Ton, der nichts Menschliches mehr hatte. Ich sah eine rote Blutspur unter deinem Kopf und hatte den völlig idiotischen Gedanken, dass rotes Blut und weißer Stein irgendwie nicht zusammengehören.«

Spatz schüttelte den Kopf. »Bescheuert, was das Gehirn in solchen Momenten produziert. Jedenfalls war viel Betrieb auf dem Spielplatz und im Nu hatte sich eine kleine Menge um euch versammelt. Irgendjemand rief nach einem Krankenwagen. Als ich mich durch die Leute gedrängelt hatte, hielt Janne dich im Arm. Ich habe niemals zuvor und niemals danach so viel Angst im Gesicht eines Menschen gesehen. Deine Ärmchen hingen schlaff herunter und es war offensichtlich, dass auch sie nicht mehr hätte weiterleben können, wenn du gestorben wärst.«

Spatz zupfte nachdenklich an ihrem Glücksschwamm herum. »Niemand, der kinderlos ist, kann wirklich verstehen, was in solchen Momenten in einer Mutter vorgeht«, sagte sie leise. »Aber ich habe es gesehen.«

Sie machte eine kleine Pause und stupste mich an. »Manchmal bin ich traurig, dass ich so was nicht fühlen kann, weißt du?«

Ich nickte. Spatz hatte keine eigenen Kinder. Sie machte kein großes Aufhebens darum, aber ich wusste, dass es für sie ein Thema war.

»Deine Mutter und du, ihr seid umringt gewesen von Menschen, die es zweifellos alle gut meinten«, fuhr sie fort. »Ein Mann, der mit seinem Handy den Krankenwagen gerufen hatte, machte sich furchtbar wichtig. Damals trug kaum jemand ein Handy bei sich, aber er fuchtelte die ganze Zeit mit dem Teil in der Luft herum, damit es jeder sehen konnte.«

Spatz legte den Glücksschwamm zur Seite und grinste mich an. »Der Typ war einfach nur grottenpeinlich. Er trug den scheußlichsten Anzug, den ich je gesehen hatte. Und kurz bevor der Krankenwagen kam, dongelte das Teil plötzlich los und der Typ fing doch tatsächlich an, sich lautstark mit irgendeinem Kunden zu unterhalten.«

Spatz plusterte sich auf und ahmte die Stimme des Mannes nach. »›Um ehrlich zu sein, Ihr Anruf erreicht mich ein wenig ungelegen, da ich gerade sozusagen privat im Einsatz bin . . .‹« Spatz rollte mit den Augen. »Es war echt unfassbar, wie der sich aufgeführt hat, aber ich hätte ihm trotzdem am liebsten seine polierte Halbglatze geknutscht. Und dir hat er letztendlich das Leben gerettet. Tut mir ja auch leid, dass es so ein blöder Affe sein musste.« Spatz fing scheppernd an zu lachen. »Den Halbglatzenkuss«, fuhr sie fort, »habe ich mir natürlich gespart. Stattdessen hab ich deinen kleinen weißen Bären aufgehoben. Er lag neben der Schaukel.«

»Momas Bär«, sagte ich und dachte an letzten Mittwoch, als Janne ihn aus der Kiste gekramt hatte. Seitdem lag er wieder in meinem Bett.

»Ja, genau«, Spatz nickte. »Kurz darauf kam endlich der Krankenwagen. Du warst noch immer ohne Bewusstsein, und als die Sanitäter dich aus Jannes Armen nahmen, um dich auf die Trage zu legen, sah deine Mutter aus, als ob man ihr das Herz ausgerissen hätte. Sie war starr vor Schmerz. Dann trafen sich unsere Blicke. Ich stand da mit deinem kleinen Bären in der Hand und Janne streckte ihre Hand nach ihm aus. Und irgendwie wusste ich, dass sie nicht nur den Bären meinte.«

Spatz schwieg einen Moment. »Ohne ein Wort ging ich mit ihr, wir stiegen in den Krankenwagen, der mit lautem Sirenengeheul losfuhr. Du lagst auf der Trage, der Sanitäter hatte dir eine Sauerstoffmaske auf Nase und Mund gelegt. Du warst so winzig und Janne sah so verloren aus.«

Sie räusperte sich. »Im Krankenhaus ging alles ganz schnell. Du wurdest auf die Intensivstation gebracht, wohin Janne nicht mitdurfte, und als sich die Tür hinter dir schloss, brach sie zusammen. Sie ging einfach in die Knie, ohne einen Laut, ohne etwas zu sagen. Es sah nicht so theatralisch aus, wie es klingt, sondern so, als hätte man deiner Mutter sprichwörtlich den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich ging zu ihr, setzte mich neben sie und so warteten wir, eine Ewigkeit lang.« Spatz verschränkte ihre Finger ineinander.

»Janne hielt den kleinen Bären umklammert, starrte ihn die ganze Zeit an und flüsterte, dass er bei dir sein müsste, dass du nicht alleine sein dürftest. Dann sagte sie den Namen deines Vaters, immer wieder. Alec. Alec. Alec . . . Ich fragte, ob ich ihn anrufen sollte, aber sie wusste nur, dass er auf einem Dreh war. Sie hatte keine Nummer.«

Spatz zwirbelte eine Strähne ihrer Haare zwischen den Fingern. »Es dauerte eine Ewigkeit, ich nervte immer wieder alle Schwestern, aber endlich öffnete sich die Tür. Der Arzt, es war ein junger Mann mit roten Haaren und Sommersprossen, kniete vor uns nieder. Ich weiß noch, wie tief mich diese Geste rührte. Er nahm die Hände deiner Mutter in seine und sagte, dass alles gut sei. Für ein paar Minuten hättest du tatsächlich in Lebensgefahr geschwebt, aber jetzt seist du außer Gefahr.«

Sie schüttelte den Kopf. »In diesem Moment begann deine Mutter, am ganzen Körper zu zittern, und sie hörte nicht auf, bis wir zu dir in den Aufwachraum durften. Wie ein winziges Schneewittchen hast du in dem Bett ausgesehen, deine bleiche Haut, das schwarze Haar und die dunklen Lippen. Aber du hast gelächelt, Rebecca.«

Ich schloss für einen Moment die Augen.

»Später wurdest du dann wach, aber nur kurz. Das Erste, was du sagtest, war: ›Wo ist Lu?‹ Janne legte dir deinen Bären auf die Brust, aber du warst noch ganz verwirrt und hast nicht aufgehört, nach ihm zu fragen, jedes Mal, wenn du aus deinem unruhigen Schlaf aufgeschreckt bist. ›Patrizia hat Lu für dich aufgehoben‹, sagte deine Mutter dann immer wieder zärtlich und drückte meine Hand. Irgendwann kamst du richtig zu dir und sahst mich zum ersten Mal.« Spatz ließ die Haarsträhne aus ihren Fingern gleiten. »Dann hast du gesagt: ›Patz hat auf Mama aufpasst.‹«

Sie verschränkte ihre Arme und starrte zur Decke hoch. »Aus Patz wurde Spatz und dabei ist es geblieben.«

Als ich in mein Zimmer kam, war es weit nach Mitternacht. Um sieben Uhr würde mein Wecker klingeln, aber ich war hellwach. Spatz und ich hatten noch lange auf dem Dachboden gesessen, alte Platten gehört und ich hatte sie immer wieder angefleht, noch nicht ins Bett zu gehen, aber irgendwann, kurz bevor sie auf dem Tagesbett einnickte, hatte ich es aufgegeben.

Ich würde allein klarkommen müssen.

Für einen Moment saß ich einfach nur da und überlegte, was ich als Nächstes tun könnte, um an meinem Vorsatz festzuhalten und die quälenden Gedanken wegzudrücken. Dann griff ich hastig meine Kopfhörer, drehte den iPod voll auf und setzte mich an den Computer, um meine Mails zu checken.

Ich hatte zwei ungelesene Nachrichten. Der erste Absender war Dad, die zweite Mail war erst ein paar Minuten alt und kam von Sebastian.

Ich öffnete Sebastians Mail zuerst.

Ich habe über deine Worte nachgedacht Was du heute im Unterricht gesagt hast. Dass wir manchmal mehr sind, wenn wir fühlen. Ich kenne das. Ich hab das erlebt.

Mit dir. Schlaf gut. S.

Mein Finger klickte auf Antworten.

Lieber Sebastian,

Es tut mir so leid, dass ich in der letzten Zeit . . .

Pause, Blackout, Gedankenstau. Auf meinem Zufalls-Mix lief ein Song von Wir sind Helden.

Ich weiß nicht weiter, ich weiß nicht, wo wir sind, ich weiß nicht weiter, von hier an blind . . .

Mein Zeigefinger klickte auf Abbrechen.

Dad schrieb:

Hi there little Wolf, was treibst du – und warum schreibst du mir nicht? Alles klar auf der anderen Seite der Erdkugel?

Hinter mir liegen anstrengende Dreharbeiten mit einem zickigen Model und genervten Kunden und zu Hause hat deine kleine Schwester wieder mal für Aufregung gesorgt. Am Montag rief ihre Lehrerin auf Michelles Handy an. Val hat ihren Sitznachbarn angestiftet, ihr Tintenfass leer zu trinken. Angeblich hat Val ihm erzählt, dass es Zaubertinte sei, die unsichtbar machen würde. Der Knirps kam ins Krankenhaus und jetzt will seine Mutter Anzeige gegen uns erstatten.

Ich bin froh, wenigstens eine Tochter zu haben, aus der etwas geworden ist.

Ansonsten ist hier alles im Wahlfieber.

Drück die Daumen für Obama and seize the day.

Love, Daddyo xxxoooxxx

Als ich den Absatz über meine Halbschwester las, musste ich lachen. Val sah aus wie ein blonder Engel, aber in ihrer Seele steckte mindestens ein kleiner Dämon, wenn nicht eine ganze Horde. Janne behauptete gehässig, diese Seite hätte sie jedenfalls nicht von Dad, aber ich wusste, dass sie das nur sagte, weil sie gekränkt war. Dad hatte Michelles Schwangerschaft damals mit keinem Wort erwähnt. Als er uns die Geburtsanzeige schickte, war Val schon ein paar Monate alt und das nahm Janne ihm furchtbar übel. Seitdem sprach sie noch schlechter über Michelle und die Freundschaft mit Dad war nicht mehr das, was sie früher gewesen war.

Zugegeben, auch mich hatte es verletzt. Aber jetzt mailte Dad regelmäßig Fotos und berichtete mir, was Val alles anstellte. Schon im Kindergarten war Valerie das Grauen aller Erzieherinnen gewesen. Sie hatte Pantoffeln in der Toilette versenkt, tote Nacktschnecken in den Suppentopf geworfen oder besonders schüchternen Kindern an deren Eingewöhnungstag erzählt, die Erzieherinnen seien böse Hexen, die sich während jeder Mittagsruhe ein schlafendes Kind aussuchten, um es im Ofen zu braten. Ich fragte mich ab und zu, ob Michelles und Dads Erziehungsstil etwas damit zu tun hatte, aber darüber schwieg sich Dad aus. Um das Thema Michelle machten wir ohnehin einen weiten Bogen.

Ich schickte Dad eine Antwort und erhielt postwendend eine neue Mail.

Little Wolf, du bist noch wach?
GERADE habe ich an dich gedacht!
Deine Mail erreicht mich am Lake Nacimiento. Ich gönne mir eine kleine Auszeit und schick dir ein paar Fotos.
Die Katze, die du auf dem ersten Foto siehst, ist mir zugelaufen, obwohl es eigentlich eher so war, als wäre ich ihr zugelaufen. Als ich Montagabend hier ankam,
war die Katze schon da und schlief auf dem Schaukelstuhl, als gehöre sie hierher. Manchmal streift sie durch die Gegend, aber sie kommt immer zurück.
Ein bisschen erinnert sie mich an dich, mit ihrem schwarzen Fell und den funkelnden Augen.
Weißt du noch, damals, als wir den Sommer über hier waren? Du hast schwimmen gelernt und immer gesagt, wenn du groß bist, schwimmst du durch den ganzen Drachensee, vom Kopf bis zur Schwanzspitze. Was meinst du? Bist du langsam groß genug?
Wish you were here!
Love, Dad

Den Namen Drachensee hatte ich dem Lake Nacimiento gegeben, als Dad ihn mir zum ersten Mal auf der Landkarte zeigte. Der See hatte wirklich die Form eines Drachen, mit einer langen, zackigen Schwanzspitze. »Unser Haus«, hatte Dad damals gesagt und auf die Brust des Drachen getippt, »ist hier.«

Ich betrachtete die Fotos, die mein Vater mitgeschickt hatte. Das erste zeigte die Veranda von Dads Ferienhaus. Die Katze schlief auf dem Schaukelstuhl, sie hatte sich zusammengerollt und ihren Rücken zur Kamera gedreht, sodass sie aussah wie eine schwarze Pelzkugel.

Das zweite Foto zeigte den See bei Nacht. Es war eine unwirkliche, fast mystische Stimmung. Am schwarzblauen Himmel zwischen weißen Nebelschleiern stand der Vollmond, er warf einen strahlenden Hof auf die Oberfläche des Wassers. Das Schilf am Ufer leuchtete silbrig und zwischen den Gräsern führte ein Holzsteg ins Wasser. Er war leuchtend rot gestrichen und sah aus wie ein langer Pfeil. Ich berührte meinen Bildschirm mit der Fingerkuppe. Als ich sie zurückzog, hatte ich auf der spiegelglatten Wasserfläche meinen Abdruck hinterlassen. Sogar die feinen Rillen meiner Fingerspitzen konnte man erkennen.

Ich stand auf, griff mir den kleinen weißen Bär von meinem Bett und ging zum Fenster. Die Musik hatte aufgehört. Im Zimmer war es still.

»Lu«, flüsterte ich und sah von seinen dunklen Knopfaugen auf die leere Straße. »Was zum Teufel ist los mit mir, Lu?«

Lucian
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