ZEHN
Die Amsel war zu dick für den Zweig. Sie hatte sich darauf niedergelassen, flatterte erschrocken, als er unter ihr wegknickte, fing sich dann aber wieder und arbeitete sich in emsigen Trippelschritten nach oben, zu einer bruchfesteren Stelle. Dort angekommen, legte sie ihren Kopf schief und blickte durch die schlierige Fensterscheibe zu mir herüber. Im nächsten Moment hob sie ihre Flügel und flog davon in den grauen Himmel. Ich starrte hinter ihr her.
Can you hear me, can you hear
me
Through the dark night, far away . . .
Die Stimme erreichte mein Ohr wie durch Nebel. Sie klang leise, rau – und ein klein wenig ironisch. Ich kannte die Melodie. Ich kannte den Text. Rod Stewards Sailing. Im Hintergrund ertönte Kichern.
Mühsam riss ich meinen Blick vom Fenster los. Und merkte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Das Objekt der allgemeinen Belustigung war ich. Tyger sang diesen blöden Song und machte mich vor der ganzen Klasse zur Idiotin. Ich fasste es nicht, dass ich es nicht gleich mitbekommen hatte. Wo war Tyger überhaupt? Er stand nicht am Pult. Er stand auch nicht am Fenster oder an der Wand neben der Tür.
Can you hear me, can you hear me . . .?
Das Kichern im Klassenraum verwandelte sich in haltloses Gelächter. Sämtliche Blicke waren auf mich gerichtet, mit Ausnahme von Sebastian, der demonstrativ in sein Buch schaute. Auch Suse konnte sich nur mühsam beherrschen. Sie presste ihr Knie gegen meins und zeigte unauffällig mit dem Daumen nach hinten. Tyger stand direkt hinter meinem Stuhl, so nah, dass ich seinen hellgrauen Anzug mit dem Ellenbogen streifte, als ich mich umdrehte.
»Hello there, Miss Wolff«, sagte er mit seinem ironischen Lächeln.
»Na, sind wir von unserem Segelflug in die Wolken zurück? Du solltest lieber auf der Erde bleiben mit deinen Gedanken. Noch besser: im Klassenzimmer. Du willst doch nichts versäumen, oder?«
»Nein«, schnappte ich verärgert zurück.
»Very well.« Tyger legte mir seine Hand auf die Schulter. Es war eine Berührung, die im Gegensatz zu dem unterkühlten Tonfall seiner Stimme stand. »Dann schlage ich vor, du konzentrierst dich auf das Hier und Jetzt. Es soll Menschen geben, die träumend vor ein fahrendes Auto laufen. Anderen Leuten auf diese Weise das Leben zu versauen, gehört sich nicht.«
Empört schnappte ich nach Luft, aber da war Tyger schon wieder zum Pult gegangen. Er nippte an seinem Tee und fragte nach Freiwilligen, die ihren Aufsatz vorlesen wollten. Ich hatte meinen nicht mal angefangen und hoffte, dass mich Tyger für den Rest der Stunde in Ruhe lassen würde.
Zu meinem Erstaunen war es Sheilas Hand, die jetzt in die Höhe schoss. Tyger hob eine Augenbraue, als er sie drannahm. Sheila hatte den ersten Satz aus Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray ausgewählt. Um niemals zu altern und ewig schön zu bleiben, war der junge Dorian Gray bereit, seine Seele zu opfern. Der Roman begann mit den Worten Das Atelier war voll vom starken Dufte der Rosen und Sheila beschrieb mit ihrem fürchterlichen Akzent, aber dennoch fehlerfrei, wie der irische Schriftsteller Oscar Wilde schon in diesem ersten Satz deutlich machte, dass natürliche Schönheit vergänglich ist. Der Duft, der jetzt noch stark war, würde vergehen. Die Rosen, die jetzt noch blühten, würden welken. Nicht zuletzt das Wissen darum mache ihren Anblick noch schöner, ihren süßen Duft noch intensiver.
»Excellent work«, bemerkte Tyger, als Sheila ihren Aufsatz zu Ende vorgelesen hatte. Aber sein Blick richtete sich nicht auf Sheila, sondern zielte in eine andere Richtung. »Was hast du dafür genommen, Sebastian? Oder war dir Sheilas Schönheit Anreiz genug für diese kleine Dienstleistung?«
Wieder wurde unterdrücktes Kichern im Klassenzimmer laut. Auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Dass dieser Aufsatz nicht auf Sheilas Mist gewachsen war, war offensichtlich, aber dass Tyger den wirklichen Verfasser so treffsicher entlarvt hatte, überraschte selbst mich.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Sebastian setzte sein bestes Pokerface auf, doch Sheila war rot bis unter die Haarwurzeln geworden.
»Das habe ich selbst geschrieben!«, verteidigte sie sich.
»Daran habe ich keine Sekunde gezweifelt«, pflichtete Tyger ihr wohlwollend bei. »Machen wir es so. Du gibst mir den Aufsatz, und wenn du Sebastians Vorlage wirklich fehlerfrei abgeschrieben hast, setze ich vor deine Sechs noch ein Plus, als Zeichen meines Sportsgeistes. Einverstanden?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Tyger von der mittlerweile mit den Tränen kämpfenden Sheila ab. »Und welches Buch hast du für dich gewählt, Sebastian?«
Sebastian räusperte sich. Dann las er seinen Aufsatz vor, von dessen Inhalt er mir in der letzten Woche bereits erzählt hatte, kurz bevor er mich hatte küssen wollen.
Fünf Tage waren seit dem Maskenball vergangen. Fünf ätzende Tage, an denen ich der nervtötenden Achterbahnfahrt meiner Gefühle ausgeliefert war. Ich war verstört gewesen, verwirrt, traurig, ängstlich, hilflos, ratlos. Aber jetzt war ich nur noch wütend, und zwar auf Gott und die Welt. Die da wäre: Tyger mit seinen zynischen Scherzen und seinem Röntgenblick. Suse, die reumütig meine Nähe suchte. Sebastian, der mir die kalte Schulter zeigte und so tat, als wäre ich Luft. Janne, die Sonntag aus dem Krankenhaus gekommen war und mir seitdem mit dieser aufgesetzten Freundlichkeit begegnete. Und Lucian, der mich mit lauter Fragen zurückgelassen hatte.
Aber am allermeisten war ich wütend auf mich selbst. Ich hasste dieses grübelnde, verstörte Etwas, zu dem ich mutiert war. Die Leere in meiner Brust, diese Scheißsehnsucht – nach einem Jungen, der bis zum Hals in Problemen steckte und mir nichts als Rätsel aufgab.
Um mit Tygers Worten zu sprechen: Nein: Ich hatte nicht vor, anderen Leuten vors Auto zu laufen und ihr Leben zu versauen. Ich wollte mein Leben zurück! Ich wollte Spaß haben, albern sein. So wie immer. So wie früher.
Stattdessen lief ich durch die Gegend wie ein gepanzerter Einsiedlerkrebs, ließ niemanden an mich heran und konnte mich auf nichts konzentrieren, nicht mal, wenn ich in der Alsterschwimmhalle auf das Wasser eindrosch.
Seit Janne meine Ausgangssperre aufgehoben hatte, flüchtete ich jeden Nachmittag dorthin, aber genau wie in den letzten Tagen fühlte ich mich auch heute schwer und träge, und als mir zwei alte Tanten mit geblümten Bademützen die Bahn versperrten – gerade als ich ausnahmsweise einmal in Fahrt war –, fauchte ich sie an wie eine wild gewordene Furie.
Die beiden Tanten quietschten erschrocken auf, bevor sie auf die andere Bahn flohen. Na bitte, geht doch, dachte ich grimmig. Der Weg vor mir war frei.
Hast du ein Kleid getragen? Ein blaues? Hellblauer Frottee? Mit einem aufgedruckten Goldfisch? Deine Schultüte? War sie rot? Mit weißen Punkten?
Irgendwie schien mein Gedächtnis seinen eigenen Wertespeicher zu haben. Während ich nicht den Hauch einer Ahnung hatte, was ich an meinem ersten Schultag getragen hatte, wusste ich seltsamerweise noch ganz genau, was es an jenem Tag zum Mittagessen gegeben hatte: Buchstabensuppe bei Mama Leone, einem Italiener in Altona, der viele Jahre lang unser Stammrestaurant gewesen war. Ich erinnerte mich an Dad, Janne und Spatz, die mit mir an dem Tisch neben der Bar saßen, und ich erinnerte mich an den schönen Kellner, der mich immer Signorina nannte. Er hatte Wimpern wie Liza Minelli (hatte Spatz festgestellt) und ein Lächeln, das ich am liebsten in einem Doggybag mit nach Hause genommen hätte, weil es gute Laune machte. Aber alles andere war weg, versunken in irgendeiner Tiefe, an die ich nicht herankam.
Natürlich gab es auch Fotos von jenem Tag und ich hatte noch Samstagnacht den Dachboden durchwühlt, um sie mir anzusehen, aber ich hatte sie nicht gefunden. Das ganze Album war verschwunden.
Janne, Spatz und ich hatten es an einer verregneten Ladys Night zusammen angefertigt. Ich war damals zehn oder elf gewesen. Wir hatten einen Karton voller Bilder ausgeschüttet und Janne hatte gelacht und gesagt, wie seltsam das sei, ein ganzes Puzzle aus Vergangenheit, zusammengewürfelt vom Zufall. Wir sortierten die Bilder, klebten sie ein und hielten sie fest, diesmal in einer stimmigen Folge. Janne schwanger. Janne auf der Geburtsstation im Krankenhaus Barmbek. Janne mit mir als winzigem Paket in ihren Armen, meine Augen fest geschlossen, als sei der Schlaf harte Arbeit, auf die ich mich konzentrieren musste. Unter dem Foto war das Gedicht von Rilke, das Janne und Dad als meinen Geburtsspruch ausgewählt hatten.
Geheimnisvolles Leben
du,
gewoben
aus mir und vielen unbekannten Stoffen,
geschieh mir nur.
Mein Sinn ist allem offen,
und meine Stimme ist bereit zu loben.
Ich hatte Spatz auf das Album angesprochen, bevor sie ins Krankenhaus gefahren war, um Janne zu holen. Aber sie wusste nicht, wo es war, und Janne, die ich abends danach gefragt hatte, hatte nur stumm den Kopf geschüttelt.
Sie hatte nach Schweiß und Krankenhaus gerochen. Mühsam war sie auf Krücken zur Tür hereingehumpelt, schweigsam, nervös und unendlich erschöpft.
Nachts hatte ich Dad gemailt, dass ich ein paar Fragen an ihn hätte, aber es kam nur eine Autoreply zurück.
Und heute, vier Tage später, war ich immer noch nicht weiter. Nach dem Schwimmen ging ich nach Hause, versuchte, meine Hausaufgaben zu machen, und fluchte, weil ich mich nicht mal auf die dämlichsten Übungen konzentrieren konnte.
Meine Mutter war seltsam aufgekratzt. Stur hangelte sie sich trotz Krücke und gebrochenem Knöchel die Wendeltreppe nach oben und verkündete (heute war sie die Mittwochskönigin), dass sie sich einen Spieleabend wünschte.
Wir spielten Kanasta und Scrabble. Ich kicherte hysterisch, als ich die Buchstaben L, U, C, I, A, N auf meiner Bank zu seinem Namen an ordnete, versuchte eine geschlagene Viertelstunde, ein Anagramm aus ihnen zu bilden, aber es gelang mir nicht, also verteilte ich die Buchstaben in den Worten Luchs und Anis. Wir hörten Mozart. John Boy und Jim Bob zwitscherten im Takt, und als Spatz das Wort Kalender legte, wusste ich plötzlich, wie ich mit meinen Fragen weiterkommen würde.
Ich brauchte einfach nur zu warten, bis meine Mutter und Spatz ins Bett gingen.
Ausgerechnet heute fand Janne kein Ende. Als sie nach der fünften Scrabblerunde endlich gähnte, war es kurz vor halb zwölf.
»Was ist mit dir?«, fragte sie mich, als Spatz ihr hochhalf. »Bist du noch nicht müde?«
»Ich will noch Nachrichten sehen«, log ich. »Wegen der Wahlen in den USA.«
Spatz nickte. Sie war schon den ganzen Abend in Hochstimmung, weil sie übernächste Woche ihr neues Atelier beziehen würde. »Er wird es«, sagte sie. »Obama wird gewinnen. Jede Wette.«
Ich zappte mich zu NTV durch, wo die Vorbereitung für die Präsidentschaftswahlen in vollem Gang waren. Es sah gut aus für Obama, alle glaubten an ihn, alle glaubten an die Wende, an sein leuchtendes Yes, we can – aber mir war sein Sieg in diesem Moment so egal wie irgendwas. Ich brauchte nur eine Ausrede, um ungestört hier oben zu bleiben.
Als mir Janne und Spatz von unten eine gute Nacht zuriefen und John Boy und Jim Bob ihre Köpfe unter ihr Federkleid steckten, machte ich mich an Jannes Sekretär zu schaffen, der einst meiner Urgroßmutter gehört hatte.
Janne hatte sehr an Moma gehangen, denn meine Urgroßmutter hatte ihr das gegeben, was Janne von ihrer eigenen Mutter nie bekommen hatte: Anerkennung, Zärtlichkeit, Zuspruch. Als sich Janne zum ersten Mal in ein anderes Mädchen verliebte, hatte sie ihr Herz bei Moma ausgeschüttet – und Moma war es auch gewesen, die Janne dazu ermunterte, ihrem Wunsch nach einem eigenen Baby nachzugehen und Psychologie zu studieren.
Moma hatte in Düsseldorf gelebt, in einer kleinen Mansardenwohnung mit Balkon und Blick auf den Rhein. Obwohl sie längst zu alt war, um die vielen Treppen zu steigen, wehrte sie sich beharrlich gegen einen Umzug. Janne und ich besuchten sie jedes Jahr in den Frühlingsferien. Ich erinnerte mich an Momas falsche Zähne, die sie abends in ein Glas Wasser auf ihren Nachttisch stellte, und ich erinnerte mich, dass sie eine Schwäche für Kö-Diamanten hatte. Das waren mit Jamaika-Rum gefüllte Pralinenkugeln aus Bitterschokolade, Marzipan und Trüffelmasse. Janne musste sie bei Otto Bittner, einer Düsseldorfer Konditorei, kaufen. Während Moma auf ihrem geblümten Sofa saß und – zu meiner Faszination am liebsten zahnlos – ihre Pralinen naschte, erzählte sie mir Geschichten aus ihrer Kindheit und fragte mich nach meiner aus.
Kurz nach meinem zehnten Geburtstag starb Moma an einer Lungenentzündung. Ein junger Mann aus ihrem Haus, der ihre Einkäufe erledigte und ihr die Post brachte, fand sie in ihrem Bett.
Moma hinterließ ein paar Tausend Euro, viele Bücher und ihre Möbel, von denen meine Mutter nur den Sekretär haben wollte. Wir brachten ihn in Jannes Kombi nach Hamburg.
Ich wusste, dass in einer der Schubladen der geblümte Karton mit den Briefen sein musste, die Janne an Moma geschrieben hatte. Ganz unten in der Kiste fand ich endlich, wonach ich suchte. Janne hatte damals einen weißen Fotokalender mit Bildern aus meiner Kindergarten- und Grundschulzeit an meine Urgroßmutter geschickt.
Ich blätterte mich durch die Monate. Das Bild von meinem ersten Schultag fand ich im August. Es war ein sonniger, wolkenloser Morgen. Ich stand vor der Schule. Hinter meinem Rücken sah ich einen Ausschnitt der weißen Stofffahnen, auf denen mit bunter Farbe die Namen der Erstklässler standen. Meine Haare waren zu Zöpfen geflochten und mein Blick war in die Kamera gerichtet, er war konzentriert und meine Arme waren fest um die Schultüte geschlungen, die rot war, rot mit weißen Punkten. Mein Kleid aus himmelblauem Frottee hatte mitten auf der Brust einen Aufdruck in Form eines Goldfisches. Und an meinem Hals blitzte die kleine Sonne.