SECHSUNDDREISSIG
Helles Sonnenlicht weckte mich. Im ersten Moment wusste ich nicht, wo ich war, und sah mich blinzelnd im Zimmer um. Am Fenster stand ein brauner Holztisch, an der Wand ein blau gestrichener Bauernschrank, in der Ecke ein weißer Stoffsessel. Auf dem Fußboden lagen verstreute Klamotten: ein dunkelblaues Flanellhemd, abgetretene Docks, mein Kapuzenpulli, zwei Paar Jeans, deren Beine ineinander verschlungen waren.
Mein Lächeln wurde breiter. Ich berührte den Arm, der schwer auf meiner Brust lag, drehte mich vorsichtig um und sah Lucian.
Er lag auf dem Bauch, sein Gesicht war mir zugewandt. Das schwarze Haar fiel ihm in die Stirn und seine Lippen, die leicht geöffnet waren, hatten ein fast unwirkliches Rot. Seine Wimpern warfen winzige Schatten und seine Augenlider zuckten nicht einmal. Er atmete ruhig und tief und sah dabei so glücklich aus, wie ich mich fühlte.
Ich küsste ihn auf die Wange. Er murmelte etwas im Schlaf, dann wand ich mich vorsichtig aus seinem Arm, angelte mir sein Hemd und tapste eingehüllt in den Geruch seines Körpers in den Flur, von dem links das Bad abging, rechts ein Schlafzimmer und weiter vorn ein großer Wohnraum mit einer offenen Küche.
Obwohl ich mich an nichts erinnern konnte, fühlte ich mich sofort zu Hause. Alles war in hellen Farben gestrichen und die Möbel wirkten viel gemütlicher als die kühle Einrichtung in dem Haus in Los Angeles. Es gab dicke rostrote Sessel, einen flauschigen Teppich, einen offenen Bauernschrank mit einer Stereoanlage und Regale voller Bücher und Spiele. In einer großen Tonschale am Boden lagen bemalte Steine und auf einer kleinen Kommode standen gerahmte Fotos.
Ich ging in die Küche. Im Geiste sah ich uns beide mit einem riesigen Tablett mit geröstetem Speck, Spiegeleiern und gebuttertem Toast im Bett frühstücken, aber die Realität holte mich schnell ein. Aus dem Kühlschrank starrten mir eine vergammelte Porreestange, eine Flasche Zitronensaft und eine Tube Ketchup entgegen.
»Hey, Kleidertausch ist unfair.«
Ich fuhr herum und musste lachen.
Lucian stand im Türrahmen. Er trug seine Jeans und hatte seinen nackten Oberkörper in meinen engen schwarzen Kapuzenpulli gequetscht.
Er grinste und deutete mit dem Kopf zum Kühlschrank. »Zitronenporree mit Ketchup. Ich hab gestern schon überlegt, ob das ein amerikanisches Nationalgericht sein könnte.«
»Jedenfalls keins, das ich ausprobieren will«, entgegnete ich lachend und sah zum Fenster, durch das die Sonnenstrahlen schienen. »Komm, lass uns frühstücken gehen.«
Lucian streifte meinen Pulli über den Kopf und stand da mit zerzaustem Haar. Er streckte mir seine Hand entgegen. »Erst duschen«, sagte er und lächelte mich an.
Wir gingen nicht frühstücken, sondern wir fuhren frühstücken, und zwar in einem Auto, das sich als geklaut herausstellte. Erst als wir vor das Haus traten und ich Lucian stirnrunzelnd ansah, wurde mir bewusst, was er mir gestern Nacht alles nicht erzählt hatte. (Zum Beispiel, dass er erster Klasse nach Amerika geflogen war, ohne zu bezahlen natürlich, und dass er sich das Autofahren auf den Straßen von San Francisco selbst beigebracht hatte.)
Der Wagen war ein alter metallicblauer Chevy, der reichlich klapprig wirkte. Auf der Heckscheibe prangte ein gelber Aufkleber, auf dem ein schwarzes Kapuzenmännchen eine Waffe schwang. Darüber stand in schwarzen Lettern: Voldemort votes Republican.
»Gute Wahl, Brother«, sagte ich und stieg auf der Beifahrerseite ein. Die Luft war noch ziemlich kühl, aber sie roch wunderbar. Nach See und Bergen und nach Sonne.
»Und wie hast du das Haus gefunden?«, fragte ich, nachdem wir losgefahren waren. Die Seeseite, an der das Haus meines Urgroßvaters lag, war ziemlich einsam und von einem großen Waldstück umgeben. Ich hatte kein anderes Haus in der Nähe gesehen. Ein paar Hundert Meter weiter hatten wir einen großen Campingplatz passiert und jetzt entdeckte ich Siedlungen von kleinen, zweistöckigen Sommerhäusern. Aber die meisten von ihnen schienen leer zu stehen, nur hier und dort parkte ein Wagen vor der Einfahrt, und von den Bootsverleihen, an denen wir vorbeikamen, hatten die meisten geschlossen.
»Die ersten Tage gar nicht«, erwiderte Lucian. Er war ein guter Autofahrer. Er lenkte den Wagen mit einer Hand, während seine andere auf meinem Bein lag. »Ich bin ziellos herumgekurvt. Dieser See ist verdammt riesig. Hundertsechzig Meilen Ufer. Keine Ortschaft, aber unzählige Häuser im Umland. Du hast dich wirklich ziemlich bedeckt gehalten.«
»Mein Dad und Michelle leben in Los Angeles«, murmelte ich beschämt. »Das Haus hier ist nur Dads Ferienhaus.«
»Eigentlich war es ein verrückter Zufall«, sagte Lucian. »Ich war wohl nicht der einzige Streuner in der Gegend. Jedenfalls tauchte plötzlich diese schwarze Katze auf. Sie kam aus dem Wald und taperte schnurstracks auf euer Haus zu. Ich bin ihr gefolgt. Frag mich nicht, warum.«
Der See lag nun zu unserer Rechten. Ein paar Boote waren unterwegs und ich entdeckte auch einige Surfer im Wasser. Die Häuser, die auf dieser Seite in die Berge gebaut waren, wirkten größer und teurer als die Ferienhäuschen, an denen wir vorhin vorbeigekommen waren. Auf den Weiden, die grün und saftig aussahen, grasten Pferde.
»Die Katze führte mich direkt vor den Hintereingang im Garten«, erzählte Lucian weiter. »Dort verschwand sie in der Katzenklappe und ich sah durch das Fenster dein Foto.«
Ich schüttelte den Kopf, ich wusste genau wie er, dass das kein Zufall gewesen war, genauso wenig wie unsere Liebe ein Zufall war.
Lucian schien mir anzusehen, was ich dachte, und stupste mir gegen das Bein.
»Hey Schneewittchen«, sagte er. »Ich glaube, eigentlich bist du der Zwerg. Denn diesmal hab ich von deinem Tellerchen gegessen. Und ich habe in deinem Bettchen geschlafen.«
Ich musste lachen und Lucian zeigte nach links.
»Was hältst du davon?«, fragte er und drosselte das Tempo.
Hinter einem Parkplatz, auf dem drei Autos und ein Truck standen, sah ich einen altmodischen Diner.
Die Markise war rot-weiß gestreift und auf dem Schild über dem Dach stand die Aufschrift Uncle Tom.
»Perfekt«, sagte ich.
Als wir Arm in Arm durch die Tür traten, musste ich an Doris’ Diner in Hamburg denken, wo ich unzählige Mittagspausen verbracht hatte, aber dieser Diner wirkte viel authentischer.
Der Boden war schwarz-weiß kariert, die Sitze waren aus quietschrotem Leder und auf jedem Tisch stand hinter einer Tube Senf und einer Flasche Tomatenketchup eine kleine Jukebox mit Oldies. An den Wänden hingen Fotos von Elvis Presley, James Dean und Marilyn Monroe. Es war kaum etwas los, nur ein paar alte Männer saßen an einem der Tische und tranken Kaffee.
Wir setzten uns an einen Zweiertisch ans Fenster, erst gegenüber voneinander, aber dann kicherten wir los, weil selbst der kleine Tisch zwischen uns zu viel war.
»Zu mir oder zu dir?«, fragte Lucian und hob eine Augenbraue in die Höhe. Ich hielt seine Hand fest und zog ihn auf meine Seite. Er legte den Arm um mich und ich schmiegte mich an ihn.
Die Bedienung kam an unseren Tisch und fragte uns nach unseren Wünschen. Sie hatte schwarz gefärbtes, hochtoupiertes Haar und ihre rot geschminkten Lippen lachten uns freundlich an.
Ich musste auch lachen. Wünsche? Ich hatte keine. Ich dachte an Lucians Worte vom Falkensteiner Ufer. Alles, was ich brauchte, war hier. Na gut, mein Magen war etwas anderer Meinung und machte knurrend auf sich aufmerksam. Wir bestellten frischen Orangensaft, Spiegeleier mit Speck, Pommes, Bagel und Cream Cheese.
Wir küssten uns, während wir auf das Essen warteten, kicherten über die alten Männer, die uns verstohlen beobachteten, und konnten selbst während des Essens unsere Hände nicht voneinander lassen. In der Jukebox fand ich den alten Abbasong Lovelight, den damals die Band in dem Lampenladen angestimmt hatte. Lucian fischte einen Quarter aus der Hosentasche, damit ich ihn spielen konnte. Als die Abbamädels I won’t let you out of my sight sangen, stieß ich Lucian an. »Du hättest das Gesicht des Glatzkopfes sehen sollen, als du ihm in den Nacken gegriffen hast.«
»Ich hätte ihm am liebsten ganz woanders hingegriffen«, knurrte Lucian und dann mussten wir schon wieder lachen.
Lucian tunkte eine Pommes in den Ketchup und hielt sie mir hin. Als ich zubeißen wollte, stippte er sie gegen meine Nase.
»Hey Kleine, du hast da was«, sagte er und küsste mir den Ketchup von der Nasenspitze. Dann kam die Bedienung, um unsere Gläser mit frischem Wasser zu füllen.
»Woher kommt ihr beiden Turteltauben?«, fragte sie.
Ich zögerte.
»Aus dem Knast«, sagte Lucian und legte wieder seinen Arm um mich. »Wir hatten beide lebenslänglich, aber dann wurden wir wegen guter Führung entlassen.«
»Na dann.« Die Frau zwinkerte uns zu. »Genießt eure Freiheit.«
Genau das hatten wir vor. Ich weihte meine neue Kreditkarte ein, und nachdem wir bezahlt hatten, zog mich Lucian vom Stuhl hoch. »Komm«, sagte er. »Ich will dir was zeigen.«
Arm in Arm gingen wir zurück zu dem Chevy, küssten uns, lachten über einen kleinen Hund, der vor dem Diner saß und eine alte Dame ankläffte, die vor Schreck fast ihre Handtasche fallen ließ, und brausten los.
Lucian schien in den Tagen, in denen er am See nach mir gesucht hatte, eine gute Orientierung bekommen zu haben. Er bog von der Straße auf einen holprigen Waldweg ab, der sich den Berg hinauf durch einen Laubwald schlängelte. Auf einem Schotterplatz in einer Lichtung hielt er an. Als wir aus dem Wagen stiegen, schwang sich ein paar Meter vor uns ein Adler in die Luft und etwas Großes schoss durch die Büsche ins Dickicht. Ich sah nur ein braunes Hinterteil und rasend schnelle Beine, die sich im nächsten Moment in Luft auflösten.
»Wo führst du mich hin?«, fragte ich.
Aber Lucian nahm nur meine Hand und wir liefen durch den Wald. Es war ein Mischwald, ein schmaler, kurviger Pfad wand sich bergauf. Wieder fiel mir auf, wie katzenhaft sich Lucian bewegte. Vereinzelte Sonnenstrahlen malten Flecken auf den Waldboden, die hohen Baumkronen rauschten und plötzlich hatte ich das Gefühl, wir waren die einzigen Menschen weit und breit. Nach einer Weile lichtete sich der Pfad und Lucian zog mich nach rechts, bis wir auf einem breiten Felsplateau stehen blieben. Außer Atem hielt ich mir die Seiten, aber als mich Lucian an den Abgrund führte, vergaß ich die Quälerei.
Tief unter uns lag die Schwanzspitze des Drachensees.
Kristallklar zog sich der grüne Flusslauf durch die Landschaft, in einem schmalen, gezackten Verlauf. Groß und mächtig wuchsen die Berge empor, dazwischen die sattgrünen Wiesen und über uns war nichts als Himmel. Er war wolkenlos und von einem klaren, tiefen Blau. Ein Schwarm von Vögeln segelte durch die Luft.
»Hier hab ich ein paar Mal gesessen«, sagte Lucian. »Und wenn ich nicht gewusst hätte, dass es nichts bringt, hätte ich mich wahrscheinlich in die Tiefe gestürzt.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich erschrocken. »Was hätte es dir denn bringen sollen außer . . . den Tod?«
Lucian lachte trocken. »Genau den eben nicht. Das hatte ich bereits in Deutschland herausgefunden.«
Ich fühlte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. »Du hast versucht, dich umzubringen?«
Lucian nickte.
»Wann?«, flüsterte ich. »Wie?«
»Bevor ich dir gefolgt bin«, sagte er. »Ich habe Tabletten geschluckt. Ich bin von der Brücke gesprungen. Ich habe mir mit einer Rasierklinge . . .« Lucian stockte und schüttelte entschlossen den Kopf. »Sagen wir einfach: Ich hab es mit allen Mitteln probiert. Aber es hat nicht funktioniert.
Er hielt mir sein Handgelenk hin. Ich starrte auf die glatte unversehrte Haut an seinen Pulsadern und dachte an Tyger und Faye, die ebenfalls versucht hatten, sich das Leben zu nehmen. Aber da waren sie bereits allein, während ich noch lebte.
»Ich kann es immer noch nicht glauben, Rebecca«, sagte Lucian leise und fügte dann mit einem Knurren hinzu: »Und ich kann nicht fassen, dass Morton mir verschwiegen hat, wer ich bin.«
»Wo bist du Tyger eigentlich begegnet?«, fragte ich.
Lucian ging in die Hocke und hob einen Stein vom Boden auf. »Irgendwo auf dem Kiez«, sagte er. »Es war in der Nacht, nachdem dich deine Leute am Falkensteiner Ufer abgefangen hatten. Ich habe mir in irgendeiner üblen Bar die Kante gegeben, als Morton plötzlich neben mir am Tresen saß und mich fragte, ob ich mich gerne an einem angenehmeren Ort betrinken würde. Am Anfang dachte ich tatsächlich, der Kerl wollte mich abschleppen, aber ich war so fertig mit den Nerven, dass mir fast alles egal war. Tyger hat mich zu sich nach Hause gefahren und mir sein Gästezimmer angeboten. Am nächsten Morgen hatte ich frische Brötchen auf dem Tisch und abends hat mir Tyger dann den Job bei Max und Consorten verschafft. Der Pub gehört ihm. Er meinte, er hätte ihn vor siebzig Jahren gekauft, was ich natürlich für einen blöden Witz gehalten habe.«
Lucian sah mich an. »Wie alt ist er?«
Ich hockte mich neben Lucian und wiegte den Kopf. »So um die hundertfünfzig.«
»Und sein . . . Mensch hieß Ambrose?«
»Ja. Ambrose Lovell. Er war Schriftsteller. Er hat sich in die Verlobte meines Urgroßvaters verliebt und sie geheiratet. Dafür hat mein Urgroßvater Lovells Werke verrissen. Lovell hat sich umgebracht. Tyger kam eine Minute zu spät. Er konnte ihm nicht mehr helfen und sich selbst damit auch nicht.«
Ich strich Lucian, der nachdenklich den Stein in seiner Hand wiegte, über den Arm. Seine Haut war ganz weich und hatte von der Sonne einen leicht goldbraunen Ton angenommen.
»Kannst du dich denn jetzt an etwas erinnern?«, fragte ich leise.»Ich meine, an . . . an das, was du gewesen bist?«
Lucian schwieg. Er schaute nach unten, auf die winzigen Bäume und Hügel, durch die sich der schmale Flusslauf des Sees schlängelte. Das Wasser war so grün, dass es fast künstlich aussah, als würde man durch die getönten Gläser einer Sonnenbrille blicken.
»Nicht wirklich«, sagte er schließlich. »Jedenfalls nicht mit dem Kopf. Ich weiß jetzt, dass das, was du mir gestern gesagt hast, wahr ist. Ich konnte . . . ich kann es fühlen. Aber ich habe kein Bild von mir. Ich sehe immer nur dich.« Er schloss die Augen. »Und ich sehe diesen furchtbaren Traum.«
Lucian schleuderte den Stein über den Abgrund. Er flog durch die Luft, verharrte für den Bruchteil einer Sekunde im Himmelsblau und stürzte dann senkrecht in die Tiefe. »Als ich dein Foto im Haus deines Vaters entdeckt habe, bin ich erst einmal wie verrückt durch die Zimmer gerast und habe nach Kronleuchtern und grünen Teppichen gesucht.«
Ich drehte ihm den Rücken zu und starrte auf den Waldweg. Verdammt! Ich hatte es so satt, über all das nachzudenken. Wie konnte es angehen, dass wir schon wieder bei diesem Thema gelandet waren?
Entschlossen fuhr ich herum und schlang meine Arme um Lucians Hals. »Ich will mit dir im See schwimmen!«
Lucian grinste, er begriff sofort. Er gab mir einen Kuss, dann biss er mir zärtlich in die Nase. »Ich weiß nicht, ob ich’s kann.«
»Was soll das heißen?« Ich musste lachen. »Ich kann schwimmen. Also musst du es auch können!«
»Also gut.« Lucian zog mich zurück zum Auto. »Ich versuch’s. Aber nur, wenn du fährst.«
»Ich kann nicht fahren!«
»Was soll das heißen?« Lucian hob eine Augenbraue. »Ich kann fahren. Also musst du es auch können.«
Ich küsste ihn. Ich würde alles können, solange er nur bei mir war.
Als wir wieder beim Wagen ankamen, hielt mir Lucian die Fahrertür auf und ich stieg ans Steuer.
Ich griff nach dem Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. »Und jetzt?«, fragte ich unsicher.
»Anlassen.« Lucian war neben mir eingestiegen. Er machte ein strenges Gesicht.
Ich lachte. »Danke für den Hinweis, Herr Fahrlehrer. Wie? Wo anlassen?«
»Da, du Dumme.« Lucian zeigte auf das Zündschloss. »Du musst den Schlüssel nach rechts drehen.«
Ich tat es. Der Motor brummte, aber es geschah nichts.
»Geht nicht, du Dummer.«
»Ach ja. Bremse. Du musst auf die Bremse treten.«
Ich trat auf die Bremse und drehte den Schlüssel nach rechts. Der Wagen sprang an.
Ich kreischte. »Es klappt. Ich kann es. Ha! Ich kann einen Wagen starten.«
»Bestens.« Lucian grinste trocken. »Dann zeig mal, ob du ihn auch fahren kannst. Hier.« Er zeigte auf die Schaltung. »Du musst auf D schalten. Und dann Gas geben.«
Ich schaltete auf D und gab Gas. Der Wagen schoss nach vorn. Erschrocken trat ich auf die Bremse und fing wieder an zu lachen.
»So«, sagte Lucian, »wird das nichts. Ein bisschen mehr Konzentration, wenn ich bitten darf.«
»Ich kann nicht.« Ich zog eine Schnute. »Ich bin geschwächt. Ich brauche einen Kuss. Oder zwei. Oder zehn.«
Lucian seufzte gespielt. »Wenn es denn unbedingt sein muss.«
Er lächelte sein wunderbar schiefes Lächeln, zog mich an sich und drückte seine Lippen auf meinen Mund. Seine Hände glitten unter mein T-Shirt, mein Herz fing an, verrückt zu spielen.
Wir zuckten voreinander zurück, beide erschrocken von der Macht unserer Gefühle. So stark? So stark?
Ich räusperte mich. Dann gab ich langsam Gas und versuchte, die Kontrolle über den Wagen zu behalten, der über den Schotterweg rumpelte. Es war ein Wahnsinnsgefühl.
»Ich fahre«, kreischte ich. »Ich fahre Auto. Oh mein Gott, oh mein Gott!« Ich lenkte den Wagen über den holprigen Waldweg. Obwohl es kaum mehr als zehn Stundenkilometer sein mochten, fühlte es sich rasend schnell an. Als wir an die Straße kamen, gab ich Gas. Der Wagen scherte aus, und als im gleichen Moment ein Auto auf der Gegenfahrbahn auf uns zukam, schwenkte ich um und drückte kreischend auf die Bremse. Wir flogen nach vorn und der Wagen landete im Graben.
Der Gurt schnitt mir schmerzhaft in die Brust. Das andere Auto fuhr hupend an uns vorbei, der Fahrer streckte empört die Faust aus dem Fenster. Aber ich konnte nicht aufhören zu lachen.
»He! Willst du uns . . .« Lucian stockte. »Ich glaub, ich geh lieber wieder ans Steuer«, sagte er hastig. »Hoffentlich stelle ich mich beim Schwimmen nicht so blöd an wie du beim Fahren.«
Ich kicherte, etwas bemühter als beim letzten Mal. »
Das werden wir ja sehen.«
Wir fuhren zu einer kleinen, sandigen Bucht, die von hohen Felsen gesäumt war. Lucian angelte vom Rücksitz ein Handtuch. Es war quietschgelb mit einem großen aufgedruckten Winnie the Pooh.
»Ja, nicht wahr?« Lucian grinste. »Es kam gratis mit dem Chevy. Ich hoffe nur, sein Besitzer vermisst es nicht zu schmerzlich. Gehen wir?«
Die Bucht war menschenleer. Die graubraunen Felsen umrahmten sie wie eine Schale. Am Ufer wuchsen ein paar Büsche und auf der anderen Seite erhoben sich die Berge. Mittlerweile war es fast so warm wie im Sommer in Deutschland, und dass niemand hier war, lag wahrscheinlich an der Nebensaison.
Für einen Moment überlegte ich, ob ich das T-Shirt anlassen sollte, aber dann streifte ich es ab. Ich wollte das Wasser am Körper spüren. Ich rannte über den weichen Sand und warf mich in den See, der so kalt war, dass ich aufkreischte.
»Komm rein«, schrie ich Lucian zu. »Los, komm schon, du Feigling!«
Zögernd betrat Lucian das Wasser. Seine Knie verschwanden, dann seine Oberschenkel, seine Hüften und schließlich lugte nur noch sein Kopf aus der Oberfläche. Er machte noch einen Schritt, ruderte mit den Armen – und ging unter.
Scheiße! Ich kraulte auf die Stelle zu, wo er verschwunden war, schluckte Wasser, rief seinen Namen. »Lucian! Lucian!«
Entsetzt tauchte ich unter, aber die gläserne Seeoberfläche trog. Meine Arme wirkten unter Wasser bleich und grünlich und ich konnte durch den aufwirbelnden Sand kaum ein paar Meter weit sehen. Nur von oben warf das einfallende Sonnenlicht einen unwirklichen Glanz auf das Wasser.
Als ich wieder auftauchte und panisch die Wasseroberfläche absuchte, fühlte ich plötzlich, wie mich etwas am Bein packte und nach unten zog. Ich kreischte auf, gurgelte und da sah ich unter Wasser Lucian. Er war direkt vor mir, er lachte übers ganze Gesicht. Blasen sprudelten aus seinem Mund und dann machte er geschmeidig wie ein Fisch eine Kehrtwendung und glitt davon.
Ich paddelte nach oben, prustete, hustete und auch Lucian war jetzt wieder an der Oberfläche. Gut fünf Meter von mir entfernt streckte er seinen Arm aus und winkte mir zu.
»Na, Frau Schwimmlehrerin, was sagst du jetzt?«, neckte er mich.»Komm schon und fang mich, du lahme Qualle!« Er kraulte davon, als ob er nie etwas anderes getan hatte.
Ich schoss hinter ihm her, aber nach einer Weile hielt ich inne und sah ihm zu. Er hatte aufgehört zu kraulen und schwamm jetzt Delfin, mit einer Leichtigkeit, die ich nie zuvor an einem anderen Schwimmer gesehen hatte.
In seinen geschmeidigen, fließenden Bewegungen lag eine spielerische Kraft, die mich einfach nur staunen ließ. Sein Oberkörper schnellte aus dem Wasser, die Arme zog er mit einem Schmetterlingsschlag nach vorn, dann tauchte er mit gebogenem Rückgrat wieder ein – alles sah aus wie ein einziger Fluss, als wäre tatsächlich Wasser Lucians natürliches Element.
Woher konnte er das? Wie oft war er neben mir im Wasser gewesen, wie oft hatte er mich begleitet? Ungesehen, ungehört . . .
Mittlerweile hatte Lucian einen großen Bogen durch den See gemacht und schwamm jetzt zu einem der Felsen an der rechten Uferseite, in dessen Inneren eine Art steinerne Treppe gebaut war. Leichtfüßig kletterte er daran empor. Das Wasser schillerte auf seiner Haut, und als er oben angekommen war, drehte er sich zu mir um, breitete lachend die Arme aus und ich kraulte zu ihm hinüber.
Er hockte jetzt auf dem Felsen und schaute aus gut drei Metern Höhe zu mir herab. Als ich aus dem Wasser stieg, bekam ich Gänsehaut am ganzen Körper. Ich widerstand dem Impuls, meine Arme um die Brust zu schlingen. Stattdessen ging ich langsam auf den Felsen zu. Ich wusste, dass er mich ansah, seine Blicke trafen mich wie winzige Pfeile und ich genoss es. Seit gestern fühlte ich mich wie verwandelt, wie neu in meiner Haut, größer, stärker, weiblicher.
Ich klammerte mich an einem zackigen Felsvorsprung fest und kletterte zu Lucian hinauf. Die Sonne verschwand für einen Moment hinter einer Wolke, Wind kam auf, aber im nächsten Moment hielt mich Lucian schon im Arm. Seine Haut war kühl und glatt, ich hörte sein Herz schlagen, als er mich küsste.
»Komm«, sagte er und griff nach meiner Hand. »Wir springen zusammen. Traust du dich?«
Ich nickte. Dann hielt ich die Luft an und auf drei sprangen wir in die Tiefe. Gleichzeitig landeten wir im Wasser und tauchten unter. Der Sog wollte uns auseinanderziehen, aber wir hielten uns fest an den Händen. Als wir an die Oberfläche kamen, schlang ich meine Arme um Lucians Hals und drückte mich gegen seinen geschmeidigen Körper und so drehten wir uns eine Weile im Wasser, immer um uns selbst herum, in langsamen Kreisen.
Am Ufer wickelte Lucian mich in das Winnie-the-Pooh-Handtuch ein und rubbelte mich trocken, dann setzten wir uns zusammen in den Sand und er legte das Handtuch um uns beide.
Die Sonne war ein Stück tiefer gesunken und der Wind strich durch die Gräser am Ufer. Irgendwo in der Ferne rief ein Vogel, ansonsten war alles still.
»Du wolltest nicht raus«, sagte Lucian plötzlich leise.
»Was?« Verwirrt sah ich ihn an.
»Du wolltest nicht aus dem Wasser.« Er lächelte mich an. »Deine Mutter hat am Ufer gestanden und dich gerufen. Du hast gebrüllt: ›Ich komm aber nicht. Ich kann jetzt schwimmen und will hierbleiben.‹ Irgendwann ist deine Mutter dann rein und hat dich geholt. Deine Lippen waren blau und du hast wie verrückt mit den Zähnen geklappert. Dann hast du dich an ihren Schultern festgehalten und sie ist mit dir zurück ans Ufer geschwommen. Dein Dad sammelte Holz und später habt ihr zu dritt am Feuer gesessen. Deine Eltern haben dich in ihre Mitte genommen und du hast immer noch am ganzen Körper gezittert.«
»Aber du warst bei mir«, flüsterte ich.
»Ja.« Lucian nahm meine Hand und küsste sie. »Ich war immer dabei.« Er legte seinen Arm um mich und so blieben wir am Ufer sitzen, bis es zu kalt wurde. Dann schlüpften wir in unsere Sachen und gingen zurück zum Auto.
Im Haus schnappten wir uns ein paar Kochbücher aus dem Regal. Nachdem wir einstimmig beschlossen hatten zu kochen, stritten wir eine gute halbe Stunde um die Auswahl der Rezepte. Mittlerweile hatte Lucian offensichtlich eine ganze Reihe von Dingen herausgefunden, die er mochte oder auch nicht, und wir stellten verblüfft fest, dass unsere Geschmäcker kaum unterschiedlicher hätten sein können.
»Ich esse keine Tierbabys«, sagte ich, als Lucian auf ein Rezept für Lammgeschnetzeltes mit Oliven und Walnüssen tippte.
Ich blätterte ein paar Seiten weiter. »Was hältst du von überbackenen Schweinemedaillons in Sahnesauce?«
»Schwein?« Lucian grunzte. »Eklig. Aber die gefüllten Paprikaschoten klingen gut.«
»Paprika ist das einzige Gemüse, gegen das ich allergisch bin. Bananenhuhn?«
Lucian griff sich an die Kehle und streckte die Zunge raus. »Lasagne«, sagte er.
»Hatte ich grad. Risotto?«
»Langweilig.«
»Oje.« Ich stöhnte auf und knuffte ihn in die Seite. »Dann mach halt einen aufregenderen Vorschlag.«
»Gern.« Lucians Augen funkelten und er nahm mir das Rezeptbuch aus der Hand. Dann umfasste er meine Schultern, zog mich an sich und fing an mich zu küssen, erst sanft, dann immer fordernder.
Ich spürte die Spitze seiner Zunge an meinem Hals, meine Hände vergruben sich in seinen Haaren. Blind knöpfte ich sein Hemd auf, er streifte mir den Pulli über den Kopf und dann stolperten wir eng umschlungen zum Sofa, wo Lucian mich auf sich zog.
»Das«, flüsterte er und nahm mein Gesicht in beide Hände, während sein Brustkorb sich unter mir hob und senkte, »das kann man nicht träumen, oder?«
Ich lächelte und schüttelte den Kopf, dann schloss ich die Augen und atmete tief ein.
Diesmal blieben wir nicht am See, sondern fuhren zum Einkaufen nach Paso Robles, der Stadt, durch die ich auch mit Tyger gekommen war. Nachdem wir uns gegenseitig gestanden hatten, dass sich unsere Kochkünste in bescheidenen Grenzen hielten, einigten wir uns auf Spaghetti Napoli mit Salat und Eis mit heißer Schokoladensauce zum Nachtisch.
Draußen dämmerte es bereits und die Landschaft am See kam mir noch einsamer vor als heute Vormittag. Das Wasser glänzte silbrig, und als die Sonne hinter den Bergen verschwand, färbte sich der Himmel in leuchtende Töne, von Violett bis zu einem kräftigen Orange.
Auch die Landschaft, durch die uns der Highway führte, war wunderschön. Offenbar war diese Gegend für ihre Weine bekannt. Zu unserer Rechten zogen sich die sattgrünen Weingärten bis zum Horizont, wo sie stellenweise von bewaldeten Hügeln unterbrochen wurden. Im Vordergrund hoben sich riesige Eichen wie einsame Wächter in den immer dunkler werdenden Himmel. Scharen von Vögeln zogen vorbei, während uns auf der Straße kaum ein Auto entgegenkam.
Kurz vor Paso Robles passierten wir ein Schild mit der Aufschrift James Dean died here.
Wir sahen es beide, Lucian beschleunigte den Wagen und schon lag es hinter uns.
Wir parkten im Zentrum von Paso Robles. Es gab eine hübsche historische Altstadt mit einer kleinen Kirche, einem weißen Pavillon, in dem gerade eine Kapelle spielte, zahlreiche Restaurants und lauter Winzereien, die zu Weinproben einluden. Die kleinen Läden wirkten ziemlich touristisch, mit allem möglichen Nippes und Souvenirs, und die kopfsteingepflasterten Gehwege waren so sauber, als würden sie alle paar Stunden frisch geputzt.
Lucian und ich liefen Arm in Arm durch die Straßen und es fühlte sich ganz selbstverständlich an. Leute, die an uns vorbeikamen, lächelten uns an. Manche grüßen uns mit Hi oder How are you, und eine ältere Dame, die neben uns vor dem Schaufenster einer Confiserie stand, nannte uns a beautiful couple.
In einer kleinen Parkanlage entdeckte ich einen Spielplatz. Nur eine Rutsche, ein Klettergerüst und eine Schaukel. Wir grinsten uns an und rannten, ohne ein Wort zu sagen, darauf zu. Lucian setzte sich nach unten, ich kletterte auf seinen Schoß, sodass unsere Gesichter einander zugewandt waren, und dann nahmen wir Schwung, flogen höher und immer höher in die Luft und lachten und warfen unsere Köpfe in den Nacken, in einem Augenblick, der endlos war.
»So, who is cooking tonight?«, fragte uns die Kassiererin im Supermarkt, wo wir schließlich unsere Einkäufe bezahlten.
Wir kochten zusammen.
Als wir zurück ins Haus kamen, war es bereits kurz nach zehn. Ich hatte Kerzen in einer Schublade gefunden, die ich in Kerzenhaltern und auf kleinen Untertellern verteilte, und Lucian hatte eine Beethoven-CD aufgespürt.
Er drehte die Musik voll auf und bereitete dann den Salat vor, während ich Tomaten für die Nudelsauce kleinschnitt. Als ich die Zwiebeln häutete und überlegte, ob ich sie in Streifen oder Stücke schneiden sollte, ertönten die Klaviertöne der Mondscheinsonate.
»Dieses Lied habe ich an dem Abend gehört, als es passierte«, sagte ich.
Lucian runzelte die Stirn.
»An dem Mittwoch, an dem du nachts vor meinem Fenster gestanden hast, da hatte ich zum ersten Mal dieses Gefühl in meiner Brust. Ich war mit Janne und Spatz auf dem Dachboden. Wir haben alten Kram für den Flohmarkt aussortiert. An diesem Abend habe ich auch den kleinen Bären wiedergefunden.«
Und zum ersten Mal den Albtraum gehabt, fügte ich in Gedanken hinzu. Meine Augen tränten von den Zwiebeln. Lucian nahm mir das Messer aus der Hand und zog mich in seinen Arm.
»Ich habe es auch gefühlt«, sagte er und legte meine Hand auf seine Brust. »Ein feiner Riss, ganz tief hier drin. Ich wusste, dass ich von irgendetwas getrennt worden war, aber ich wusste nicht, wovon.«
Er strich mir das Haar aus dem Gesicht. »Als ich in dieser Nacht vor deinem Fenster stand, war alles dunkel. Außen und innen. Dann ging plötzlich das Licht an und du hast von oben zu mir heruntergeschaut in deinem weißen Trägerhemd. Komisch, oder? In diesem Augenblick warst du mein Engel.«
Er grinste schief. »Aber als Köchin bist du wirklich ziemlich lausig.«
»Wieso?«
Er hielt mir ein Tomatenstück unter die Nase. »Hat dir niemand beigebracht, dass man die Tomaten häuten muss, wenn man eine echte Tomatensauce macht? Das weiß ja sogar ich.«
»Du kannst gern zurück nach Hamburg fliegen und dich von der Chefköchin verwöhnen lassen«, drohte ich.
»Nein danke, ich glaube, ich liebe Haut in der Sauce«, entgegnete Lucian und lachte sein leises, raues Lachen.
Wir aßen auf der Veranda. Lucian hatte eine Decke und ein paar Kissen auf dem Holzboden ausgebreitet und ein paar Windlichter angezündet, die er im Haus gefunden hatte. Auch die Katze kam von ihrer Streiftour zurück und strich uns schnurrend um die Beine. Ich hatte im Supermarkt ein paar Brekkies gekauft, die ich ihr jetzt in eine Schale schüttete. Gierig fiel sie darüber her, danach sprang sie mit einem Satz auf den Schaukelstuhl, gähnte herzhaft, leckte sich das Mäulchen und rollte sich zu einer schwarzen Kugel zusammen.
Wir stellten den Topf mit den Nudeln und die Salatschüssel auf ein Tablett vor uns und fütterten uns gegenseitig, wobei wir die meiste Zeit kicherten, weil wir so damit beschäftigt waren, uns mit den Augen zu verschlingen, dass wir ständig kleckerten. Wie in der Nacht auf dem Dach von Tygers Haus tranken wir Champagner, den wir im Keller entdeckt hatten, und waren ziemlich schnell ziemlich beschwipst.
Das Vanilleeis aßen wir aus der Packung. Wir kippten die warme Schokoladensauce hinein und irgendwann befahl mir Lucian die Augen zu schließen.
»Mund auf«, sagte er. »Hier kommt ein Löffelchen für dich.«
Ich streckte die Zunge raus und zuckte zurück, als ich statt der Eiscreme kalte Tomatensauce schmeckte.
»Hey, du Ekel!«, rief ich und versuchte Lucian den Löffel aus der Hand zu reißen, aber er streckte ihn hoch in die Luft und ich kitzelte ihn, bis er wie ein Käfer auf den Rücken fiel und lachend um Gnade bettelte.
Ich streckte mich neben ihm aus. Der Mond war noch nicht zu sehen, aber der Himmel war jetzt voller Sterne. Unzählige pulsierende Lichtpunkte sprenkelten das tiefe Schwarz. Eine Weile lagen wir einfach nur schweigend beieinander, die Füße in Richtung Haus, die Köpfe in Richtung Himmel. Auf dem Schaukelstuhl maunzte die Katze leise im Schlaf und durch die Blätter der Bäume rauschte der Wind.
»Darf ich dich was fragen, Rebecca?«, sagte Lucian in die Stille hinein. Er klang so ernst, dass ich zusammenzuckte.
»Ja«, erwiderte ich und stützte mich auf meinen Ellenbogen. »Was willst du denn wissen?«
»Wie geht Spitz pass auf?«
»Was?« Ich musste husten. »Wie kommst du denn darauf?«
»Wie immer.« Lucian tippte mir auf die Nase. Er lächelte, nur mit dem einen Mundwinkel, und genau wie damals auf dem Flohmarkt erschien auf seiner Wange ein Grübchen. »Ich hab davon geträumt. Du wolltest es spielen, aber dein Dad hatte keine Lust. Er hörte sich an, als hättet ihr es in den letzten Tagen ungefähr siebentausend Mal gespielt. Und als ich herkam, hab ich es im Regal gesehen.«
Ich kicherte. Ich erinnerte mich sehr genau daran, wie oft ich gegen Dad gewonnen hatte. Eigentlich immer.
»Ich kann es dir zeigen«, sagte ich zu Lucian. »Aber ich warne dich. Ich bin unschlagbar in diesem Spiel.«
»Abwarten.« Lucian stand auf und kam kurz darauf mit dem Spiel zurück. Wir beschlossen, dass der Gewinner einen Wunsch freihatte.
»Also, Spitz«, sagte ich, als ich jedem von uns sieben Chips ausgeteilt und meinen Spielstein auf der kreisförmigen Unterlage aufgestellt hatte. Den an dem Spielstein befestigten Faden hielt ich fest zwischen Daumen und Zeigefinger, den Becher schob ich zu Lucian.
»Du nimmst jetzt diesen Becher in die Hand, hältst ihn mit der Öffnung nach unten und ich würfele. Bei einer Sechs versuchst du, meinen Stein mit dem Becher zu fangen. Wenn ich den Spielstein vorher wegziehe, bekomme ich einen von deinen Chips. Wenn du mich fängst, bekommst du einen von mir. Verlierer ist, wer als Erster keine Chips mehr hat. Verstanden?«
»Wuff«, sagte Lucian.
Ich kicherte, trank einen großen Schluck Champagner und fing an zu würfeln. Eine Vier. Eine Drei. Eine Eins, noch mal eine Eins. Ich kicherte lauter. Während Lucian den umgedrehten Becher in der Hand hielt, sah er mir die ganze Zeit in die Augen. Ich versuchte seinem Blick standzuhalten, schaute immer nur kurz auf die Würfel. Meine Muskeln spannten sich, mein Herz klopfte und immer wieder prustete ich los. Ich würfelte eine Fünf. Eine Vier. Eine Eins. Eine Sechs. Hastig zog ich an dem Faden, aber Lucian war schneller. Sein Becher war auf meinen Spielstein niedergesaust, von dem jetzt nur noch der Faden zu sehen war.
Lucian pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn und streckte mit einem spöttischen Siegerlächeln die Hand nach dem Chip aus.
»Pah!«, knurrte ich. »Bild dir bloß nichts ein! Das war pures Anfängerglück.« Ich schnippte einen Chip zu ihm rüber.
Lucian grinste und ich würfelte weiter: eine Drei, eine Fünf, eine Vier, eine Sechs. Blitzschnell zog ich an dem Faden, aber wieder war ich zu spät. Lucian hob den Becher und warf meinem Spielstein einen mitleidigen Blick zu. »Nicht traurig sein, Omi. Den nächsten Chip, wenn ich bitten darf.«
Knurrend schob ich ihn zu ihm rüber und würfelte – eine Sechs.
Lucian grinste. »Nächster Chip.«
Ein paar Sekunden später: »Nächster Chip.«
Ich würfelte eine Zwei, eine Drei, eine Zwei, eine Eins, eine Drei, eine Sechs, ich zog am Faden und starrte empört auf den umgedrehten Becher.
»Das gilt nicht!«, keuchte ich.
»Oh doch. Es gilt voll und ganz.«
Ich schob den fünften Chip rüber und streckte Lucian wütend die Zunge raus. Mittlerweile war ich regelrecht davon besessen, das Ruder herumzureißen. Ich presste den Faden zwischen Daumen und Zeigefinger, würfelte eine Vier, dann eine Sechs. Der Becher knallte auf die Unterlage und ich schimpfte: »Oh, du Scheißkerl!«
»Ich darf doch sehr bitten.« Lucian zog eine Augenbraue hoch und schnappte sich meinen vorletzten Chip.
Ich würfelte eine Drei, eine Drei, eine Drei, eine Drei, eine Sechs –und verlor meinen letzten Chip.
»Ich fasse es nicht«, fauchte ich.
Die Katze sprang vom Schaukelstuhl, tapste auf uns zu, blieb einen Augenblick stehen, zuckte mit dem Schwanz, drehte uns dann würdevoll und fast ein wenig abfällig den Rücken zu und verschwand in der Dunkelheit.
»Jetzt du«, befahl ich kampflustig. Ich hielt Lucian den Würfel hin und streckte meine andere Hand nach dem Becher aus.
Lucian platzierte seinen Spielstein auf der Unterlage, hielt den Faden straff und ließ den Würfel rollen. Ich fixierte ihn und stieß ein leises Knurren aus, dann verschluckte ich mich und musste kichern. Lucian verzog keine Miene und ich konzentrierte mich. Er würfelte eine Fünf und dann eine Sechs. Er zog am Faden und im selben Moment sauste mein Becher herab.
»Ha!« Triumphierend streckte ich die Hand nach dem ersten Chip aus.
Kurz darauf verlangte ich den zweiten und zehn Minuten später hatte auch Lucian seine sieben Chips an mich abgetreten.
Zufrieden lehnte ich mich zurück.
»Du weißt, warum wir das können?«, fragte er. »Oder?«
Ich nickte und plötzlich war mir schwindelig. Lucian fühlte, was ich fühlte. Ich fühlte, was Lucian fühlte. Es war derselbe Einklang wie in allen Momenten zuvor auch – es funktionierte auf den Bruchteil der Sekunde genau.
Mit funkelnden Augen sahen wir einander an.
»Unentschieden«, sagte ich. »Und was jetzt?«
»Ich schätze, jetzt müssen wir um unsere Wünsche feilschen.« Lucian legte den Kopf schief. »Was war deiner?«
Ich deutete zum See. »Schwimmen gehen.«
Er lachte leise. »Na, dann. Zufälligerweise wollte ich genau dasselbe.«
Wir zogen uns aus, hüllten uns in zwei Decken und liefen zum Anleger. Es war kühl, Wolken waren aufgezogen, sodass jetzt weder Mond noch Sterne zu sehen waren. Der Wind fuhr durch mein Haar und streifte meine Haut und die Luft schmeckte plötzlich nach Regen.
»Wieder auf drei?«, fragte Lucian, als wir am Rand des Anlegers standen. Ich nickte. Wir ließen unsere Hände los, streckten die Arme vor und sprangen kopfüber ins Wasser.
Dunkelheit umschloss mich. Aber Lucian war direkt neben mir. Ich fühlte ihn, stärker noch als das kalte Wasser, das meinen Körper umschloss wie eine zweite Haut. Mit kräftigen Zügen stießen wir uns in die Tiefe, immer im Einklang, bis ich kaum noch Luft in den Lungen hatte, und noch immer wollte ich tiefer hinab. Kalte und warme Wasserschichten wechselten sich ab und nur widerwillig ließ ich mich zurück nach oben gleiten. Lucian kam mit, wir tauchten gleichzeitig an die Oberfläche und begannen zu kraulen. Seite an Seite durchpflügten wir den nächtlichen See, in ruhigen, kraftvollen Bewegungen, ohne zu sprechen, ohne zu denken, wir waren einfach nur da, zusammen an diesem magischen Ort.
Der Wind rauschte jetzt durch die Gipfel der Bäume, er kräuselte die Seeoberfläche, und als wir in der Mitte des Sees waren, fielen zögernd und schwerfällig die ersten Regentropfen. Mit einem leisen Platschen landeten sie auf der Oberfläche, wo sie kleine Kreise hinterließen, bis schließlich das ganze Wasser in Bewegung war. Die Tropfen wurden größer, sie prasselten auf unsere Haut, unsere Köpfe, unsere nackten Schultern und Arme. Ich fühlte Wasser überall, über uns, unter uns, um uns, es hüllte uns ein mit immer lauteren Trommelschlägen, und während wir uns inmitten all dieser winzigen Springbrunnen, die jeder Wassertropfen auf dem See hinterließ, an den Händen hielten, dachte ich an die Nacht in Hamburg, in der ich genau diesen Moment geträumt hatte.
Ganz langsam schwächte der Regen ab, wie laute Stimmen, die zu einem Murmeln, dann zu einem Flüstern wurden und schließlich ganz innehielten. Der See schien auszuatmen, in einem einzigen großen Zug. Nebel zog auf, er kroch aus den Wäldern und geisterte über das Wasser. An einer Stelle rissen die Wolken auf und ein einzelner Stern kam zum Vorschein.
Die Tropfen, die mir jetzt über die Wangen liefen, waren heiß und salzig.
»Was ist?« Lucian sah mich erschrocken an. »Warum weinst du?«
»Weil ich so glücklich bin«, flüsterte ich unter Tränen und musste lachen.
Nach einer heißen Dusche kuschelten wir uns unter die warme Bettdecke.
»Ich liebe dich, Rebecca«, flüsterte Lucian. »Ich liebe dich mehr als mein Leben.«
Ich drückte seinen Kopf an meine Brust und sagte: »Ich liebe dich auch, Lucian.«