ZWEI

Aus weiter Ferne drang das Piepsen des Weckers an mein Ohr. Es kam näher, wurde fordernder, schriller, bis es sich wie eine Spirale in meinen Kopf bohrte. Als ich die Bettdecke zurückschlug, fühlte ich mich wie gerädert. In meinem Zimmer herrschten arktische Temperaturen, den kleinen Bären hielt ich noch immer in der Hand. Fröstelnd ging ich zum Fenster, das weit offen stand. Als ich auf die Straße sah, fiel mein Blick als Erstes auf die Laterne. Der Platz darunter war leer. Einer unserer Nachbarn verließ gerade das Haus, stieg in seinen Wagen und fuhr davon. Auf dem Bürgersteig kreischte Lasse, der kleine Junge aus der Wohnung im Erdgeschoss, weil ihm sein Brötchen aus der Hand gefallen war, und vor einem der Bäume hob ein wuscheliger Mischlingshund sein Bein.

Die Straße sah aus wie an jedem anderen Morgen. Aber warum machte mir der gewohnte Anblick mehr zu schaffen als der von letzter Nacht? Der Fremde hatte direkt in mein Fenster gestarrt, was im Tageslicht betrachtet wirklich eine gruselige Vorstellung war. Die Tatsache, dass der Platz unter der Laterne jetzt leer war, sollte mich also eigentlich beruhigen, aber das tat er nicht – im Gegenteil.

Ich schüttelte meinen Kopf, um das wattige Gefühl loszuwerden.

Was war nur mit mir los?

Vermutlich hatte mich mein Albtraum so aus der Bahn geworfen. Die Träumerin in unserer Familie war eigentlich Spatz, die ich manchmal sogar um ihre nächtlichen Abenteuerreisen beneidete, während ich mich morgens fast nie daran erinnern konnte, dass ich überhaupt geträumt hatte.

Musste es ausgerechnet dieser Traum sein, der mir in allen Einzelheiten im Gedächtnis geblieben war? Seltsamerweise hatten sich besonders die Farben dieses Raumes in irgendeinem Winkel meines Hirns eingebrannt. Dieser plüschige grüne Teppich, die Tagesdecke mit den bunten Blümchen – rot, gelb und violett. Gequält grinste ich auf. Du meine Güte, ich würde in einem holzgetäfelten Zimmer mit geblümter Tagesdecke und einem grünen Plüschteppich sterben, das war wirklich ein Albtraum.

Was wohl Suse dazu sagen würde?

Ich riss mich vom Fenster los, ging unter die Dusche und drehte den Warmwasserhahn bis zum Anschlag auf. Das heiße Wasser half tatsächlich. Als ich aus dem Bad kam, fühlte ich mich – na ja, wie neugeboren wäre eine Wunschvorstellung gewesen – aber zumindest etwas besser.

Ich schlüpfte in die Jeans von gestern, zog ein Shirt und einen Kapuzenpulli über und ging in die Küche. Spatz saß in ihrem schwarzen Kimono am Frühstückstisch. Ihre Haare standen in alle Richtungen ab und ihre kleinen Hände legten sich um die Suppentasse mit heißer Milch. Über den Rand ihrer Tasse hinweg warf sie mir einen ihrer typischen Spatz-Blicke zu, mit denen sie ganze Romane erzählen konnte. Vor allem morgens, wenn sie zu verschlafen war, um einen vollständigen Satz herauszubringen. Heute sagte ihr Blick: Janne hat erzählt, was letzte Nacht mit dir war. Ich hoffe, es geht dir besser.

Mein Platz am Frühstückstisch war schon gedeckt. Janne war ein Morgenmensch. Wenn um halb sechs ihr Wecker klingelte, sprang sie in ihre Joggingsachen, lief ihre Runde an der Elbe und war bereit für den Tag. Ihre ersten Klienten empfing sie meist um halb acht, so wie heute Morgen auch.

Ich zog den Zahnstocher aus meinem Sesambrötchen. An seinem oberen Ende klebte ein Zettel mit einem zähnefletschenden Strichmännchen. Zeig Tyger den Tiger, tausend Küsse, Mam, stand darunter. Ich musste grinsen, vor allem über die Zeichnung. Jannes Malkenntnisse waren auf dem Stand einer Fünfjährigen.

Mach dich nicht über deine arme Mutter lustig, sie hat den halben Morgen an diesem Kunstwerk gearbeitet, sagte Spatz’ Blick.

Ich biss versuchsweise in das Brötchen, und als mein Magen nicht rebellierte, schob ich eine Scheibe Salami und ein Schälchen Krabbensalat hinterher, weniger aus Hunger als in der vagen Hoffnung, damit das leere Gefühl in meiner Brust zu bekämpfen, das ich immer noch nicht losgeworden war.

Mein Unterricht begann erst um acht, aber ich verließ das Haus ein wenig früher als sonst und überquerte die Straße. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Laterne vor unserem Haus und blickte zu meinem Fenster hinauf. Es lag im vierten Stock. Ich versuchte, mir vorzustellen, was der Fremde gesehen oder vielmehr: gesucht hatte. Mich?

Meine Augen wanderten ein Stockwerk weiter runter. »Oder Frau Dunkhorst«, sagte ich laut und versuchte, meine nervtötende Stimmung wegzualbern, was auch prompt klappte.

Frau Dunkhorst war eine Hypochonderin, vor der alle Mitbewohner im Treppenhaus die Flucht ergriffen. Letzten Monat hatte es Spatz nicht mehr rechtzeitig geschafft und musste sich eine halbe Stunde lang die gefährlichen Symptome einer höchst seltenen Augenkrankheit anhören, die Frau Dunkhorst angeblich befallen hatte. Unter geschlossenen Lidern sah sie tanzende Mücken und ging davon aus, dass sich ihre Netzhaut jede Minute ablösen konnte. Mehrmals pro Woche rief Frau Dunkhorst den Notarzt, einmal hatte sie bei sich selbst einen Milzriss diagnostiziert.

Ich grinste und drehte mich entschlossen um. Okay, die Sache lag auf der Hand. Der Typ von gestern Nacht war vermutlich ein entnervter Sanitäter gewesen, der im Schutz der Dunkelheit ausgekundschaftet hatte, wie er Frau Dunkhorst am besten um die Ecke bringen konnte.

Ich ging in die Garage, schloss mein Fahrrad auf und war ein paar Minuten später unterwegs.

Mein Englischlehrer saß schon am Pult, als ich das Klassenzimmer betrat. Sein Name war Morton Tyger. Mit seinem grau melierten Haar, der hohen Stirn und den blitzblauen, beunruhigend wachen Augen hatte er etwas von einem englischen Aristokraten, der ins falsche Zeitalter gerutscht war. Wie immer hatte er ein Buch vor der Nase, eine Tasse dampfenden Tee in der Hand und trug einen altmodischen Anzug, dunkelgrau mit einer hellblauen Seidenfliege. Aus seiner Jacketttasche lugte die goldene Kette von Tygers Taschenuhr, ohne die ich meinen Englischlehrer noch nie gesehen hatte.

Dass er mein gemurmeltes »Good Morning« mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte, war ich ebenfalls gewohnt. Trotzdem versetzte mir sein Verhalten immer wieder aufs Neue einen Stich. Es ist eine Sache, von einem Lehrer nicht gemocht zu werden, in dessen Fach man eine Niete ist. Aber bei mir war das Gegenteil der Fall. Englisch hätte schon allein deshalb mein bestes Fach sein können, weil ich dank Dad zweisprachig aufgewachsen war und mich nicht wie die anderen mit dem Lernen von Vokabeln abquälen musste.

In Tygers Unterricht gab es jede Menge davon. Dabei hielt er sich weder an Lehrpläne noch an die Inhalte unserer Englischbücher. Stattdessen lasen wir Kurzgeschichten oder Romane, hauptsächlich klassische Science-Fiction oder Schauergeschichten britischer Schriftsteller. Wie Tyger damit durchkam, war uns allen ein Rätsel, aber offensichtlich wagte es nicht mal unsere strenge Direktorin, sich diesem eigenwilligen Lehrer zu widersetzen.

Als ich mich auf meinem Platz neben Suse niederließ, musterte Tyger mich noch einmal über den Rand seines Buches hinweg. Doch diesmal blieb sein Blick länger an mir hängen und auf seiner hohen Stirn bildete sich eine winzige Falte.

»Hilfe«, sagte Suse, die mich ebenfalls von der Seite anstarrte. »Hast du Drogen gefrühstückt? Du siehst aus wie ausgekotzt.«

»Danke, ich liebe dich auch.«

Ich kramte mein Schreibzeug aus der Schultasche. Das Klassenzimmer füllte sich. Als Sebastian an meinem Tisch vorbeikam, klingelte es.

»Hi Zombie, schöne Ladys Night gehabt?«, fragte mein Exfreund im Vorbeigehen. Die spöttische Art, mit der mich Sebastian in den letzten Wochen behandelte, löste normalerweise ein schlechtes Gewissen bei mir aus. Aber heute machte sie mich wütend.

»Leck mich«, knurrte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

»What an interesting remark, Miss Wolf.« Tyger schlug das Klassenbuch auf. »Ich muss diesen Ausdruck unbedingt festhalten, damit er für die Nachwelt erhalten bleibt.« Er zückte seinen silbernen Stift. »Rebecca Wolff leitet die heutige Englischstunde mit den Worten Leck mich ein.« Tygers helle Augen fixierten mich. »Was heißt Leck mich auf Englisch, Rebecca?«

Kiss my ass, dachte ich und bemühte mich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck.

»Eat my shorts«, kam es von hinten. Sebastians Stimme. Er hatte fünf Jahre bei seiner Mutter in London gelebt, bevor er zu seinem deutschen Vater nach Hamburg gezogen war. »Oder auch sod you oder bugger me . . .«

»Lovely, Sebastian, that should be enough for now«, entgegnete Tyger mit seinem perfekten oxfordenglischen Akzent und nickte Sebastian wohlwollend zu.

»Amerikanisches Englisch«, fuhr er mit einem gehässigen Seitenblick auf mich fort, »unterscheidet sich vom echten britischen Englisch hauptsächlich in der Aussprache und im Wortschatz. Diese feine Differenz zieht sich bis in die Vulgärsprache hinein. So bevorzugen die Amerikaner auch hier die simple Ausdrucksweise oder haben verschiedene Redensarten des britischen Englisch erst gar nicht in ihr Vokabular aufgenommen – wie etwa das literarisch fantasievolle eat my shorts im Gegensatz zu einem banalen kiss my ass

In meinem Rücken hörte ich Sebastians leises Lachen.

Tygers Blick blieb an mir hängen, während Suse ihre Hand in meinen Oberschenkel krallte. Der Schmerz lenkte mich von meiner Wut ab. Ich überlegte, ob ich Tyger darüber aufklären sollte, dass Sebastian die Redewendung eat my shorts unter Garantie nicht aus England, sondern aus der USamerikanischen Serie Die Simpsons kannte, aber ich ließ es bleiben.

»Wenden wir uns dem eigentlichen Thema der Stunde zu.«

Tyger zog an der goldenen Kette und ließ seine Taschenuhr aufschnappen. Wie jedes Mal wenn er sie ansah, zuckte es um sein linkes Auge.

»Ich habe eine neue Kurzgeschichte von Ambrose Lovell für euch ausgewählt«, verkündete er. »Eins seiner frühsten Werke. Sheila, wenn du mir freundlicherweise zur Hand gehen würdest – vorausgesetzt, du kannst in deinen Stiefeln laufen?« Tyger hielt Sheila einen Stapel Papier entgegen. Diesmal zuckte es um seine Mundwinkel.

Neben mir unterdrückte Suse ein Prusten und ich entspannte mich. Neues Opfer, neues Glück, schoss es mir durch den Kopf. Aber im Fall von Sheila Hameni hatte Tyger mein vollstes Verständnis. Als Sheila auf den Pfennigabsätzen ihrer weißen Stiefel durch das Klassenzimmer stakste, um die Blätter zu verteilen, sah sie aus wie ein misshandeltes Huhn auf Stelzen, aber das hielt sie nicht davon ab, mit ihrem winzigen Hintern zu wackeln.

Suse hielt sich die Kurzgeschichte vors Gesicht. »Erinnere mich bitte daran, dass ich der neuen Gruppe in Schüler-VZ beitrete: »Ich habe keine Vorurteile. Aber die hat weiße Stiefel an.«

Ich presste die Lippen zusammen, um nicht loszulachen, und fixierte mein Blatt. The Bell in the Fog, von Ambrose Lovell. Suffolk, England 1889–1950.

Bevor Tyger unsere Klasse in Englisch übernahm, hatte ich noch nie von diesem Schriftsteller gehört, aber mittlerweile kannte ich viel von ihm. Tyger schien sein gesamtes Werk zu besitzen, inklusive des Manuskripts von Lovells einzigem unvollendetem Roman, aus dem er uns irgendwann einmal eine winzige Kostprobe gegeben hatte. Meistens allerdings las er uns aus den Kurzgeschichten des Schriftstellers vor.

Wenn ich ehrlich war, gehörten diese Stunden zu meinen liebsten. Tyger hatte eine wundervolle Erzählerstimme, rau, tief und von einer genüsslichen Langsamkeit. Heute bat er jedoch Sebastian vorzulesen und forderte uns auf, alle unbekannten Vokabeln zu markieren und für die nächste Stunde auswendig zu lernen.

Lovells Erzählung handelte von einem englischen Lord, der sich bei Nacht und Nebel in einem einsamen Moor verlief und plötzlich ein seltsames Klingeln hörte. Sebastian beherrschte die englische Sprache fast so gut wie unser Lehrer und war ein geübter Vorleser, aber trotzdem hatte ich Mühe, mich zu konzentrieren. Was Schlaf betraf, gehörte ich eindeutig in die Kategorie Murmeltier. Acht Stunden waren normalerweise mein Minimum, alles, was darunter lag, schlug sich nicht nur auf mein Nervensystem nieder. Und heute spürte ich das ganz besonders. Meine Gedanken fingen an zu wandern, und ehe es mir bewusst wurde, standen mir wieder dieser grottenhässliche grüne Plüschteppich aus meinem Traum vor Augen, die geblümte Tagesdecke, die Glasscherben und das viele Blut; dazu dieses Gefühl, dass sich jemand über mich beugte, den ich anbettelte, mich am Leben zu lassen.

Hinter meinen Schläfen pochte es schmerzhaft. Versuchsweise schloss ich die Augen und dann sah ich das nächste Bild: die dunkle Gestalt, die an der Laterne lehnte und unverwandt zu mir hochblickte.

Ich riss die Augen wieder auf, weil mir der Schweiß ausbrach.

Dass Tyger mich erneut im Blick hatte, machte es nicht besser. Ich versuchte, ihm auszuweichen, aber etwas in seinem Ausdruck war anders als sonst. Wenn ich meinen Englischlehrer nicht so gut gekannt hätte, hätte ich geglaubt, dass er sich Sorgen um mich machte.

»Was ist mit dir los, Becky?«, fragte Suse in der Mittagspause. Wir standen wie jeden Tag bei Doris’ Diner an der Theke und warteten auf unser Essen.

»Ist es wegen Tyger? Dieser Arsch. Warum hasst er dich so? Nur weil dein Vater Ami ist? Was sagt dein Dad eigentlich dazu? Hast du mit ihm darüber gesprochen? Wie wär’s, wenn du ihn mal zu Tyger in die Sprechstunde schickst? Wollte er nicht vor Weihnachten noch einmal nach Deutschland kommen?«

Ich musste gleichzeitig gähnen und grinsen. Meine beste Freundin konnte mühelos drei Dutzend Fragen aneinanderreihen, ohne die Antwort abzuwarten. Aber diesmal kam sie zurück auf den Ursprung. »Jetzt mal im Ernst. Warum bist du so blass wie Lovells Lord aus dem Nebelmoor?«

»Bist du sicher . . .«, setzte ich an.

»Willst du einen Spiegel?« Suse nahm unsere Chickenburger mit Pommes frites entgegen. »Frag Sheila, die leiht dir vielleicht einen aus ihrer Sammlung.«

»Danke, Suse, ich weiß, wie ich aussehe. Ich wollte sagen: ›Bist du sicher, dass du das hören willst?‹«

»Spinnst du? Schieß los. Ist es . . . wegen ihm? Bereust du es?«

Suse nickte zum Tisch neben der Tür. Dort saß Sebastian, umringt von der gesamten Tussenfraktion, und pustete sich gerade eine Haarsträhne aus dem Auge. Sebastian hatte dichte, geschwungene Wimpern und den sinnlichsten Mund, den ich je gesehen hatte. Letzten Sommer hatte ich ihn beim Eisdealer im Schanzenviertel gefragt, wie Zabaione-Eis auf seiner Zunge schmecken würde. Keine Ahnung, was damals in mich gefahren war. Gleich darauf war ich jedenfalls in hysterisches Gekicher ausgebrochen und hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Aber Sebastian hatte eine Augenbraue hochgezogen und einen Schritt auf mich zugemacht. Dann hatte er meine Frage beantwortet.

Als ich jetzt auf meinen Burger wartete und seinen spöttischen Blick erwiderte, wurde die Erinnerung in mir plötzlich wieder sehr lebendig. Nicht nur die Küsse, sondern all die Monate, die auf meine Frage gefolgt waren, hatten sich richtig angefühlt. Gut.

Aber etwas hatte doch gefehlt. Als ich vor fünfeinhalb Wochen Sebastians Hand festhielt, die unter meiner Bettdecke auf Wanderschaft ging, sah er mir in die Augen und sagte: »Du hast nicht Angst, dass ich dich fallen lasse. Du hast Angst, dass du mich fallen lässt. Deshalb willst du nicht mit mir schlafen. Stimmt’s?«

Als ich meinen Kopf an Sebastians Schulter vergrub, stieß er mich sanft von sich. Dann stand er auf und ging.

Seitdem hatten die Möchtegernjulias ihn wieder. Sie klebten an ihm wie die Fliegen und mittlerweile hatte Sebastian aufgegeben, sich dagegen zu wehren.

»Hier, dein Burger.« Suse schob mir mein Tablett zu und wir gingen zu unserem Tisch. Als wir an der Gruppe um Sebastian vorbeikamen, stierte Sheila mich an, als ob sie mich am liebsten zum Mond schießen wollte. Sie hockte Sebastian fast auf dem Schoß.

»Hey Becks, tut mir leid wegen heute Morgen«, murmelte Sebastian. Es war das erste Mal seit unserer Trennung, dass er mich Becks nannte. »Ich wollte nicht . . .«

»Hast du aber«, zischte Suse. »Friss das nächste Mal deine Calvinunterhose, dann hältst du wenigstens die Klappe.«

Sheila schnappte nach Luft. An ihrem pinkfarbenen Lipgloss klebte ein Fleischkrümel.

Sebastian grinste Suse an. Auch als wir noch ein Paar gewesen waren, hatten die zwei sich ständig Wortgefechte geliefert, aber im Grunde mochten sie sich.

»Also.« Suse setzte sich gegenüber von mir an einen der hinteren Tische und leckte sich einen Spritzer Ketchup von den Fingern. »Jetzt erzähl schon, was ist passiert?«

An der Wand tickte eine Uhr. Das Gehäuse hatte die Form eines Burgers, der Sekundenzeiger war eine Pommes. Ich folgte ihm mit den Augen, zur Drei, zur Sechs, zur Neun . . .

»Wenn du nicht in zwei Sekunden den Mund aufmachst, fang ich an zu schreien!«, drohte Suse und zog eine Gurkenscheibe aus ihrem Chickenburger.

Ich tunkte meine Pommes in den Ketchup und begann zu erzählen, was mir letzte Nacht passiert war. Als ich fertig war, lag mein Chickenburger noch unberührt auf meinem Teller. Er war kalt geworden und sah so eklig aus, dass mir bei seinem Anblick übel wurde.

»Da unten an der Laterne hat er gestanden? Er hat direkt in dein Zimmer gestarrt? Und du bist sicher, dass es nicht Sebastian war?«

Suse hockte auf meiner Fensterbank und sah hinüber auf die andere Straßenseite. Sebastian saß jetzt mit den anderen im Biounterricht, wo Frau Donner, eine winzige Lehrerin mit Hamsterbacken und grauem Dutt, sich vermutlich gerade ihrem Lieblingsthema Legale und illegale Drogen widmete.

Suse hatte mich überredet, die letzten Stunden zu schwänzen. Gerade hatte sie mit verstellter Stimme im Sekretariat angerufen, um uns zu entschuldigen.

»Todsicher«, hörte ich mich sagen.

»Becky, das ist so gruselig. Wer steht denn nachts vor fremden Fenstern und beobachtet die Bewohner?« Suse schauderte.

Meinen Albtraum hatte sie kurzerhand als Folge einer Überdosis Apfelstrudel in den Wind geschossen, aber der fremde Laternenmensch brachte ihre Fantasie auf volle Touren.

»Vielleicht war es dieser Streichler, der neulich aus der Klapse entlaufen ist«, hauchte sie mit weit aufgerissenen Augen.

»Der bitte wer?«

»Na, du weißt schon«, sagte Suse und kaute aufgeregt auf einer ihrer Haarsträhnen herum. »Dieser Gestörte mit der pinkfarbenen Strumpfmaske, über den sie letzte Woche in der Mopo berichtet haben. Er steigt nachts bei alleinstehenden Frauen ein und setzt sich auf ihre Bettkante. Während sie schlafen, streichelt er ihnen über die Wange, und wenn sie verträumt ihre Augen aufschlagen, dann . . .«

»Suse!«, kreischte ich entsetzt. »Kannst du bitte mit diesem Scheiß aufhören? Das lässt mich heute Nacht nicht wirklich ruhiger schlafen, hörst du?«

Ich zerrte meine Freundin vom Fensterbrett weg. Es war merkwürdig, den ganzen Tag über hatte ich entweder an meinen Albtraum denken müssen oder an diese seltsame Gestalt vor meinem Fenster. Aber darüber zu reden, machte es nicht besser. Ganz im Gegenteil irgendwie kam es mir vor, als wäre es ein großer Fehler. Laut ausgesprochen wirkte das Ganze wie eine Verkettung von seltsamen Zufällen. Aber das war es nicht, nicht für mich – nicht mit diesem Gefühl in meiner Brust, dieser Leere, die ich ja nicht einmal mir selbst erklären konnte.

»Erzähl doch mal lieber, wie war die Bandprobe gestern?«, fragte ich Suse.

Meine Freundin ließ sich mit einem tiefen Seufzer in meinen Sitzsack fallen und das Thema der nächsten Stunde war Dimo Jamal, Leadsänger der Schulband Dr. No und die kranken Schwestern und Suses Traum schlafloser Nächte. Für meine Begriffe war Dimo ein ziemlich arrogantes Arschloch, aber das behielt ich wohlweislich für mich – Suse hätte eh nicht auf mich gehört.

Vor drei Monaten hatte Dimo meine Freundin in den erlesenen Kreis der Back-Vocals aufgenommen. Seitdem nahm Suse Gesangsunterricht und spielte ernsthaft mit dem Gedanken, sich einer Schönheitsoperation zu unterziehen. Mir war es ein Rätsel, warum Menschen sich ausgerechnet an dem, wofür sie am wenigsten können, am stärksten messen ließen. Dabei hatte das Schicksal Suse mindestens ebenso reich bedacht wie Sebastian, als es um die Verteilung von gutem Aussehen ging.

Optisch war Suse so ziemlich das Gegenteil von mir. Was nicht heißen soll, dass ich mich neben ihr wie ein hässliches Entlein fühlte, aber mit meinen runden Hüften, den stämmigen Beinen und dem großen Busen war ich wahrscheinlich der leibhaftige Albtraum aller Magersüchtigen. Und während ich wie mein Dad schwarzhaarig und braunäugig war, hatte Suse weißblonde – polange – Korkenzieherlocken, hellgrüne Augen und den Körper einer Elfe.

Suses einzigen Makel kannten nur vier Menschen auf der Welt. Suses Frauenärztin, ihre Mutter, Janne und ich. Suse hatte zwei unterschiedlich große Brüste. Rechts so ungefähr B/C und links ein A–Körbchen.

Um den Unterschied zu kaschieren, hatte sie sich spezielle BHs anfertigen lassen, deren eine Seite mit einem gummiartigen Material gepolstert war. Dadurch konnte Suse auch enge T-Shirts tragen, ohne dass man den Unterschied bemerkte. Trotzdem litt sie natürlich entsetzlich darunter. Beim Sportunterricht verließ sie die Kabine –mit mir als Bodyguard – immer als Letzte und wie viele Stunden wir schon in Internetforen verbracht hatten, konnte ich nicht mehr nachrechnen. Mittlerweile kannte ich sämtliche Pros für eine Brustoperation auswendig. Für die Kontras sorgten Janne und ich.

Nachdem Suse mir also ausgiebig von Dimos Songs, Dimos Stimme, Dimos Hintern und dem Muttermal auf Dimos Stirn vorgeschwärmt hatte, landeten wir auch heute zwangsläufig bei ihrem Komplex und ich versuchte mein Glück wieder einmal mit einem Verweis auf Mädchen, die es schlimmer getroffen hatte. Ein aussichtsloses Unterfangen.

»Lilith Hopf ist mit ihrem Schweinchenrüssel geboren worden«, konterte Suse wie aus der Pistole geschossen, »die hatte ein Leben lang Zeit, sich daran zu gewöhnen. Meine Brüste dagegen waren spiegelgleich, warum in aller Welt konnte sich die rechte nicht zufriedengeben und musste weiterwachsen?«

»Sieh es doch mal so«, versuchte ich es mit einem Scherz, »wenn Dimo auf einen kleinen Busen steht, kannst du ihn glücklich machen, und wenn er auf einen großen Busen steht, kannst du ihn ebenfalls glücklich machen. Du bist sozusagen two in one.«

»Sehr witzig.« Suse verschränkte die Arme vor ihren ungeliebten Körperteilen. »Lieber sterbe ich als vertrocknete Jungfrau, als mich vor Dimo als Krüppel zu outen. Wenn ich wenigstens Krebs hätte, dann hätte ich zumindest eine Entschuldigung, aber so . . .«

»Suse! Das meinst du nicht ernst!«

»Doch!« Wenn es um ihre Brüste ging, kannte Suse keine Grenzen. Aber man konnte es ihr nicht übel nehmen, niemand schaffte es, Suse länger als fünf Minuten böse zu sein.

Nachdem sie sich beruhigt hatte, surften wir auf YouTube, hörten Coolios neue CD Steal Hear und schrieben auf dem Handy von Suses Mutter einen Hilferuf an deren Steuerberater. Die beiden hatten seit einem halben Jahr ein Verhältnis miteinander. Vor ein paar Wochen war Suses Vater deshalb ausgezogen und Suse hasste den Neuen ihrer Mutter wie die Pest.

»Liebling, mein Auto hat eine Panne«, diktierte sie mir, weil ich schneller tippen konnte. »Ich stehe an der Raststätte, erste Ausfahrt nach Hannover. Der ADAC kommt erst in drei Stunden. Kannst du mich retten? Ich verzehre mich nach dir. Dein Schneckchen.«

»Schneckchen?« Ich prustete los. Suses Mutter war eine gertenschlanke Frau und gab in Hannover Zeitmanagementseminare für Führungskräfte.

»Sie nennt sich Schneckchen? Und wo steckt sie in Wirklichkeit?«

»Krank im Bett«, sagte Suse mit einem triumphierenden Grinsen. Sie riss mir das Handy aus der Hand und drückte auf Senden. »Jede Wette, dass in den nächsten zehn Sekunden eine Antwort kommt?« Suse legte das Handy auf ihre Handflächen – und da war sie auch schon.

Bin unterwegs. Rühr dich nicht vom Fleck, die Rettung naht. Dein Zahlenhengst.

Ich glotzte auf das Display. Er hatte wirklich Zahlenhengst geschrieben. »Mir wird schlecht«, sagte ich und schickte einen stummen Dank in den Himmel, dass ich von solchen Familienproblemen verschont geblieben war. Suse hatte wirklich ernstere Sorgen als zwei unterschiedlich große Brüste, aber ich war froh, dass sie es in diesem Fall mit Humor nahm.

Bei der Vorstellung, wie Schneckchens Zahlenhengst jetzt in seinen Sportwagen stieg und mit zweihundert Sachen gen Hannover brauste, kreischten wir vor Lachen. Coolio rappte Keep it Gangsta, und als Janne von der Arbeit kam und ihren Kopf in mein Zimmer steckte, erzählten wir ihr von der SMS.

Sie musste ebenfalls lachen. »Wenn dir deine liebeskranke Mutter auf den Geist geht, findest du bei uns immer Asyl, das weißt du, Suse, oder?«

Suse nickte. Schon oft hatte ich vermutet, dass Janne für sie die Mutter war, die sie sich immer gewünscht hatte. Suse und ich kannten uns seit der Grundschule und unsere Wohnung war ihr zweites Zuhause.

Ich holte uns gerade zwei Teller mit Quiche aus der Küche, als mein Handy klingelte. Am anderen Ende war Sebastians Vater. Er leitete einen Cateringservice und Sebastian hatte mir Anfang des Jahres einen Job bei ihm verschafft. Ich half bei Nachmittags- oder Wochenendevents aus, aber für heute stand keine Veranstaltung in meinem Kalender.

»Oh mein Gott, wie gut, dass du da bist!«, keuchte Sebastians Vater. Seine Stimme klang so atemlos, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt. »Wir haben eine Eröffnungsfeier, superwichtiger Kunde! Eine der Kellnerinnen ist krank geworden, kannst du einspringen? Der Laden heißt Lights on. Große Elbstraße im Stilwerk. Um neunzehn Uhr geht’s los. Ich zahle doppelten Stundensatz, ein Nein wird nicht akzeptiert, also was sagst du?«

Ich sagte Ja, obwohl mir die letzte Nacht noch immer in den Knochen steckte und ich am liebsten früh ins Bett gegangen wäre. Aber Sebastians Vater klang so verzweifelt, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihm einen Korb zu geben.

Nachdem Suse gegangen war, nahm ich noch eine Dusche – dies mal eiskalt –, sagte Janne Bescheid, dass ich um elf zurück sein würde, und machte mich auf den Weg.

Lights on war, wie der Name schon sagte, ein Lampenladen im Stilwerk, einem ziemlich hippen Einkaufszentrum am Fischmarkt. Die Gäste waren schon da, als ich ankam. Sebastians Vater warf mir die Garderobe zu, die sich der Kunde gewünscht hatte, und ich zog mich hastig in der Toilette um. Schwarzes, kurzes Kleid mit tiefem Ausschnitt und einer weißen Schürze, dazu hohe Pumps. Hallo? Ging es noch nuttiger?

Aber ich war zu müde, um mich zu ärgern. Als ich einen Blick in den Spiegel warf, erschrak ich vor mir selbst. Meine Augen waren gerötet und brannten, meine Haut war käsebleich und mein sonst eher rundes Gesicht wirkte wie eingefallen. Ich kniff mir in die Wangen und machte mich an die Arbeit.

Die Gäste waren Männer und Frauen in den Vierzigern, die Spatz die Schublade neureiche Schnösel gesteckt hätte. Sie standen herum, saßen auf roten Samtsofas oder verchromten Barhockern und warteten auf ihr Fingerfood, das ich ihnen zusammen mit den beiden Service-Kolleginnen servieren sollte.

Neben dem Verkaufstresen begann die Liveband zu spielen. Ein aufgebrezeltes Sängerinnen-Duo stimmte als kleine Revivaleinlage den Abba-Song Lovelight an und die Lichter im Laden, die bis eben noch angenehm heruntergedimmt gewesen waren, wurden jetzt voll aufgedreht: Hunderte von Designerlampen stahlen sich gegenseitig die Show. Wandleuchten, Stehleuchten, Tisch-und Pendelleuchten in allen Größen und Formen. Die grellen Lichter schraubten sich in meine Nervenbahnen und die vielen Menschen machten es auch nicht besser. Der Laden, ein riesiges Loft mit Steinboden und hohen Decken, war mittlerweile gerammelt voll.

Mit zusammengebissenen Zähnen schlängelte ich mich durch die Menge. Allein für das Outfit hätte ich die dreifache Gage verdient. Die Schuhe drückten, das Kleid kratzte und ein glatzköpfiger Mann im Nadelstreifenanzug stierte mir unverhohlen in den Ausschnitt, während er sich marmorierte Eier, chinesische Hackbällchen und Garnelenspieße von meinem Tablett pflückte. Am liebsten hätte ich ihm das Tablett vor die Glatze gepfeffert. Wenn es eine Vorhölle gäbe, dann säßen Typen wie dieser in der ersten Reihe, dachte ich angewidert.

»Was glotzt der so? Gehört der zu dir?«, raunte mir die kleine rothaarige Kellnerin ins Ohr, als sich unsere Wege kreuzten.

Ich wollte gerade empört mit dem Kopf schütteln, als ich bemerkte, dass die Kellnerin nicht auf den Glatzkopf, sondern in die andere Richtung deutete.

Und da war es wieder. Dieses seltsame Gefühl von Ruhe, tief in meinem Inneren. Ich fühlte es, bevor ich ihn sah.

Er lehnte an einer Wand ganz hinten in der Ecke des Ladens. Ich erkannte das blasse Gesicht mit dem schwarzen Haar sofort wieder. Jetzt sah ich auch, dass es ein Junge war, vielleicht ein wenig älter als Sebastian, aber nicht viel. Niemand war in seiner Nähe. Die große Stehlampe links von ihm hatte die Form eines Baumes und die Lichter, Dutzende winziger Blätter aus weißem Glas, hingen an metallenen Ästen und Zweigen auf ihn herab. Und während die anderen Gäste im Raum umhergingen, gestikulierend beieinanderstanden oder sich Häppchen in den Mund schoben, war seine Haltung so ruhig, als stünde er einem unsichtbaren Maler Porträt. Auch sein Blick war bewegungslos. Er richtete sich einzig und allein auf mich, als wäre außer mir niemand in diesem Laden.

»Wer ist das?«, flüsterte meine Kollegin. »Wie ein Gast sieht er jedenfalls nicht aus. Gott, ist der abgewrackt.« Sie kicherte. »Aber irgendwie auch sexy. Wie ist der bloß hier reingekommen?«

Ich wollte etwas sagen, aber die Worte blieben mir in der Kehle stecken.

Er war schmal, fast dünn, aber auf eine katzenhafte Art und Weise. Seine tiefschwarzen Haare waren leicht zerzaust, seine Züge scharfkantig. Er trug einen schwarzen Pullover, der am linken Ellenbogen einen Riss hatte, und die zerschlissene Jeans saß knapp über den Hüften. Aber abgewrackt – das war das falsche Wort.

Er sah fremd aus. Anders.

Mein Blick glitt zurück zu seinem schmalen Gesicht. Noch immer schaute er mich unverwandt an. Ob seine Augen braun oder blau waren, konnte ich nicht ausmachen, aber die tiefen Schatten darunter sah man von hier aus. Er hatte hohe Wangenknochen und plötzlich schoss mir eine völlig blödsinnige Umfrage durch den Kopf, auf die Suse und ich neulich beim Surfen im Internet gestoßen waren: »Hey Girls, findet ihr hohe Wangenknochen bei Jungs sexy?«

In diesem Fall, ja.

Wobei es nicht sein Aussehen war. Oder doch – das war es auch, aber da war noch etwas anderes – eine seltsame, fast fiebrige Intensität, eine Unruhe, die er ausstrahlte, obwohl er sich nicht von der Stelle rührte. Bis eben war mir kalt gewesen vor Müdigkeit, jetzt wurde mir warm.

Die beiden Mädels aus der Band sangen: Everything around you is lovelight, you’re shining like a star in the night, I won’t let you out of my sight . . . und der Fremde verzog die Mundwinkel zu einem ironischen Lächeln.

»Hey, Kleine, ich hätte zu gerne noch eine Dattel im Speckmantel.«

Ich zuckte zusammen. Der Glatzkopf stand wieder vor mir und versperrte mir die Sicht. Meine Kollegin war mittlerweile in der Menge untergetaucht. Der eklige Kerl grapschte sich die Dattel von meinem Tablett und ließ sie mit purer Absicht in meinen Ausschnitt fallen.

»Hoppla. Das tut mir leid, kann ich Ihnen . . .«

Der Glatzkopf wollte gerade die Wurstfinger ausstrecken, als er in der Bewegung erstarrte. Eine Hand hatte sich in seinen Nacken gekrallt. Sie gehörte zu dem fremden Jungen. Er stand dicht hinter dem Glatzkopf, die schwarzen Haare fielen in seine Stirn, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen.

»Lass das Mädchen in Ruhe oder dir passiert was.«

Die Stimme des Jungen war leise, rau, fast heiser, als hätte er sie lange nicht benutzt. Und sie hatte einen gefährlichen Unterton.

Der Glatzkopf schnappte nach Luft und diesmal ließ ich wirklich das Tablett fallen. Scheppernd fiel es zu Boden. Irgendein Gast, ein weiblicher, gab einen schrillen Laut von sich, Sekunden später war Sebastians Vater da.

Plötzlich herrschte überall Tumult, und als ich meine Sinne wieder beisammenhatte, war der Fremde spurlos verschwunden.

Die Band hatte einen neuen Song angestimmt, danach hielt der Geschäftsführer eine Ansprache. »Verehrte Gäste, es ist mir eine Ehre, Sie heute bei uns zu begrüßen, bla, bla, bla . . .«

Irgendwie brachte ich den Abend hinter mich, und als ich um kurz nach zehn an die frische Luft kam, konnte ich mich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten. In meiner Tasche steckte ein Hunderteuroschein von Sebastians Vater – als Wiedergutmachung für den kleinen Zwischenfall mit dem Glatzkopf, der natürlich nicht von der Eröffnungsfeier verwiesen worden war.

»Taxi gefällig?« Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Diesmal war ich es, die einen Schrei ausstieß. Neben mir stand Sebastian und strich sich grinsend das helle Haar aus der Stirn. Mein Schreck war immer noch größer als die Überraschung, meinen Exfreund hier zu sehen.

»Du spinnst wohl, dich so anzuschleichen! Willst du mich umbringen?«

Das Grinsen wurde noch breiter. »Im Gegenteil. Ich wurde zu deiner Rettung befohlen. Mein alter Herr hat mich vorhin angerufen. Er hat gesagt, ich soll dich nach Hause bringen, damit dich keine fremden Männer kidnappen. Also komm schon, steig auf.« Sebastian hielt mir den Helm hin und kurz darauf saß ich hinter ihm auf der Vespa.

Ich schlang meine Arme um seinen Bauch und legte meinen Kopf an seinen Rücken. Unter Sebastians Helm lugten seine Haare hervor, sie kitzelten mich in der Nase. Ich hielt mich so fest, wie ich nur konnte, aber das hohle Gefühl war wieder zurückgekehrt, so stark wie gestern Abend. Es war, als hätte sich ein Loch in meine Brust gefressen.

»Hey Becks. Muss ich mir Sorgen machen? Du siehst wirklich nicht gut aus«, sagte Sebastian, als wir vor meiner Haustür standen und ich mich verabschieden wollte. Er legte seine Hände an meine Wangen. Seine Finger fühlten sich eiskalt an, aber die Berührung schien ihn ebenso zu erschrecken wie mich.

»Du glühst ja«, sagte er und musterte mich besorgt. »Hast du Fieber?«

Stumm schüttelte ich den Kopf. Hinter uns parkte gerade ein Auto, das Licht der Scheinwerfer fiel auf Sebastians Gesicht. Es war das erste Mal, dass wir uns wieder so nah waren. Forschend lag sein Blick auf mir und ich wusste, dass er noch nach etwas anderem suchte. Ich hätte es ihm gerne gegeben, aber ich konnte nicht, nicht nach dem, was heute passiert war.

Mein Fenster war dunkel und die Panik stieg wieder in mir hoch, leise, fast unmerklich, aber es genügte, um mich etwas sagen zu lassen, was schrecklich unfair war.

»Sebastian?«

»M–hm.«

»Schläfst du heute bei mir?«

Lucian
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