FÜNFUNDZWANZIG

Unsere Schwimmlehrerin Mrs Stratton hatte kurzes weißblondes Haar, ein grobes Gesicht und breite Schultern. Ihre Haut war von der Sonne gegerbt wie Leder.

Der Pool lag im Freien, im hinteren Teil des Schulgeländes und war fast so groß wie die Alsterschwimmhalle. Die türkisfarbenen Kacheln ließen das Wasser noch kraftvoller leuchten, auf dem Grund sah man die dunkelblauen T-förmigen Bahnmarkierungen und der frisch gemähte Rasen, der den Pool säumte, hatte ein helles, fast blendendes Grün.

Während meine Mitschülerinnen mich neugierig musterten, grüßte mich die Trainerin nur knapp, dann teilte sie uns in vier Fünfergruppen auf und ließ uns der Reihe nach am Beckenrand antreten. Ich gehörte zu den Ersten, das Wasser vor mir war noch unberührt. Spiegelglatt lag es da und wartete auf mich.

Die Nacht war grauenvoll gewesen. Als ich das letzte Mal auf die Uhr gesehen hatte, war es kurz nach halb vier gewesen, und als ich endlich eingeschlafen war, hatte mich sofort mein Albtraum überfallen.

Beim Frühstück – Michelle war schon wach und hatte für Val und mich den Tisch gedeckt – brachte ich keinen Bissen herunter. Val aß ihre Cornflakes auf Michelles Schoß. Sie hatte einen Milchbart und kuschelte sich wie ein kleines Kätzchen an ihre Mutter. Ihre nackten Füße lagen auf der Tischplatte. Michelle zwickte ihr in den großen Zeh und bot mir mit einem freundlichen Lächeln an, mich an der Schule abzusetzen. Sie lag auf dem Weg zu Vals Grundschule. Im Autoradio sagte ein munterer Nachrichtensprecher einen strahlend schönen Tag voraus. Graupelschauer oder Eisregen hätten mehr meiner Stimmung entsprochen; zumindest hätten sie zu den kalten Füßen gepasst, die ich plötzlich bekommen hatte. Ich fragte mich, wie ich gestern noch so zuversichtlich hatte sein können.

Aber jetzt war ich hier und der kühle Druck auf meinen Schläfen, als ich mit dem Kopf unter Wasser tauchte und die Welt über mir für ein paar Sekunden verschwand, tat gut. Am liebsten wäre ich nie wieder aufgetaucht, aber mein Körper arbeitete sich von ganz allein zurück an die Oberfläche.

Noch versteckte sich der strahlend schöne Tag hinter einem dunstigen Vorhang, aber zum Schwimmen war es genau richtig. Das kalte Wasser ließ mich spüren, dass ich existierte, fast hörte ich, wie es mir zuflüsterte: zu Hause, zu Hause, zu Hause, hier bei mir bist du zu Hause . . .

Miss Strattons Stimme schreckte mich auf. In knappen Worten bellte sie uns die Anordnungen für die Aufwärmübungen zu: zwei Runden Brustschwimmen, dann Rücken, dann Delfin, dann Kraulen. Es waren Regeln, die ich beherrschte und die mein Körper auf wunderbare Weise abgespeichert hatte.

Hinter uns traten Reihe für Reihe die anderen an. Meine Mitschülerinnen waren ziemlich fit und unglaublich ehrgeizig, jede von ihnen hätte meine ehemaligen Teamkolleginnen aus Deutschland um Meilen geschlagen. Alles geschah hier im Wettstreit und das war genau das Richtige für mich.

Während sich das vorhin noch unberührte Wasser um mich herum in eine brodelnde, aufgewirbelte Masse verwandelte, kämpfte ich gegen meine Gedanken. Mit jeder Bewegung schob ich sie von mir, wie Algen auf der Wasseroberfläche, die mit ihren schleimigen, schmierigen Armen nach mir greifen und mich einwickeln wollten. Heranziehen, wegdrücken, heranziehen, wegdrücken, Luft holen, ausatmen, heranziehen, wegdrücken.

Ich schwamm jetzt dafür, ein Stück der alten Rebecca einzuholen, ich wollte wieder zu meinem alten Ich werden, um jeden Preis und mit aller Macht.

Und ich kämpfte gegen die Gedanken an Lucian.

Mittlerweile waren wir in neue Einheiten aufgeteilt worden, jede Gruppe konzentrierte sich auf eine Disziplin. Ich war bei den Kraulern, wir waren zu sechst und trainierten Sprintstrecken, angefangen bei fünfzig Metern Kraul, dann hundert, dann hundertfünfzig. Ich wurde besser, ich holte auf, pflügte mit weit ausholenden Armen durch das Wasser, bei der letzten Strecke ging ich als Zweite ins Ziel. Als ich mich mit letzter Kraft über den Rand des Pools hievte, war ich so erschöpft, dass es sich richtig gut anfühlte.

Als ich mit meinen Mitschülerinnen unter die Dusche ging, versuchte ich mich innerlich auf die nächsten Stunden vorzubereiten.

»Woher kommst du?«, fragte mich ein Mädchen mit langen rotblonden Haaren, die sich zu meinem Entsetzen als »Susan-aber-meine-Freunde-nennen-mich-Suzy« vorstellte. »Bist du von der Ostküste?«

Ich überlegte kurz, ob ich lügen sollte, murmelte dann aber, dass ich aus Deutschland war. Sie würde es ohnehin rausbekommen. »Oh mein Gott, aus Deutschland?« Suzy-Susan sah mich aus hellgrünen Katzenaugen an. Ihr hübsches schmales Gesicht und ihr drahtiger Körper waren mit zahlreichen Sommersprossen übersät. »Was hat dich nach Los Angeles verschlagen?«

»Mein Dad lebt hier«, entgegnete ich knapp. »Ist er Amerikaner?«

Ich nickte, rubbelte mich mit dem Handtuch trocken, das nach Michelles Parfüm roch, und ging zu meinem Schließfach, dicht gefolgt von Suzy, die mich als ihre persönliche Errungenschaft zu betrachten schien. Meine anderen Mitschülerinnen blieben im Hintergrund, aber mir war deutlich bewusst, dass ich ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt war.

Ich zog mir das T-Shirt über den Kopf und zwängte die Jeans über meine noch feuchten Beine. Ich hatte die unauffälligsten Klamotten aus dem Schrank gezogen, um mich so unsichtbar wie möglich zu machen.

»Mein Dad ist Ire«, sagte Suzy, die genau wie ich Jeans und T-Shirt trug. Ihres war allerdings enger. Es spannte über den – gleich großen – Brüsten und trug die Aufschrift der Schulmannschaft. »Aber er ist hier aufgewachsen«, fuhr sie fort. »Wir sind noch nie in Irland gewesen. Und du? Magst du Los Angeles?«

»Ja«, sagte ich und versuchte allen Nachdruck in dieses Wort zu legen. Verbissen fügte ich hinzu: »Ich liebe es.«

»Sag was auf Deutsch.« Suzy neigte ihren Kopf und sah mich so neugierig an, als wäre ich eine Jukebox, in die sie gerade einen Quarter gesteckt und auf Zufallswahl gedrückt hatte.

»Ich hasse meine Mutter«, sagte ich.

Suzy kicherte. »Das klingt lustig. Was heißt das? Was heißt Mutta?«

Ein lautes Klingeln ersparte mir die Antwort. »Ich hab jetzt Ceramics«, sagte Suzy. »Und du?«

»Auch.« Jetzt bereute ich, dass ich mich nicht für den Zeichenkurs angemeldet hatte. Vielleicht konnte ich umwählen. Aber dann würde mir ein anderes Mädchen dieselben Fragen stellen.

Suzy stopfte ihre tropfnassen Sachen in ihren Turnbeutel und griff nach ihrer Schultasche. »Super! Komm, ich zeig dir, wo es langgeht. Was für Musik magst du? Was hört ihr so in Deutschland?Kannst du was singen? Was Deutsches meine ich? Singst du was für mich?«

Sie klatschte in die Hände wie ein kleines Kind und lachte mich erwartungsvoll an. Ich hätte sie mögen können. Ich hätte mich bei ihr einhaken, mit ihr zu Ceramics und später in die Lunchpause gehen können. Ich hätte sie fragen können, ob sie mich ihren Freunden vorstellen oder mich mit auf eine Party nehmen würde. Ich hätte ihr Gekommen um zu bleiben von Wir sind Helden oder Die Lösung von Annett Louisan vorsingen und ihr von meiner deutschen Busenfreundin Suse erzählen können. Ich hätte ihr sagen können, dass sie sich mit ihr wahrscheinlich ziemlich gut verstehen würde.

Hätte ich. Wenn ich. Freiwillig. Hier gewesen. Wäre.

Stattdessen hatte ich mich selbst hier eingeliefert, um der größeren Hölle, dem Luxusknast in Pacific Palisades, zu entkommen.

Also würde ich nicht darum herumkommen, mich zusammenzureißen und so zu tun, als wäre ich eine ganz normale neue Schülerin aus Deutschland an einem ganz normalen ersten Schultag in einem fremden Land. Also gab ich Suzy zur Antwort, dass ich nicht singen konnte, aber demnächst mal meinen iPod mitbringen würde, wofür ich dann ein erneutes »Fantastisch« erntete. Sie hakte sich bei mir ein und eskortierte mich über den Schulhof in eines der zahlreichen Gebäude.

Die kommenden Stunden waren die Hölle. In Ceramics sollten wir unserer Fantasie freien Lauf lassen, was ich natürlich nicht tat, sondern die Zeit verbissen damit zubrachte, eine möglichst realistische und grottenlangweilige Blumenvase zu formen. Suzy redete unaufhörlich auf mich ein, stellte mir Fragen, die ich wohl auch beantwortete, aber ich bekam nichts davon mit, ich schaltete auf Automatik und konzentrierte mich auf den Schlamm zwischen meinen Fingern.

Im Mathematikunterricht, der wieder in einem anderen Raum statt fand, war für heute ein Test angesetzt worden und ich war zu meinem Frust dreißig Minuten vor Unterrichtsende fertig.

Dann stand amerikanische Geschichte auf dem Plan, an der Suzy zu ihrem Bedauern heute nicht teilnehmen würde, weil sie eine Sitzung mit den Schulsprechern hatte. Dafür zeigte sie mir den Klassenraum, der wieder auf der anderen Seite des Geländes lag. Wir brauchten im Dauerlauf fast fünf Minuten.

Der Lehrer, ein schmächtiger Mann mit wirren Locken, wurde von der Klasse hartnäckig ignoriert. Ich setzte mich in die letzte Reihe neben einen Typen mit Punkfrisur, der mir zum ersten Mal an diesem Tag ein kleines Grinsen entlockte. Auf seinem zerrissenen ärmellosen T-Shirt stand die Aufforderung Sprich mich bloß nicht an. Thema der Stunde war der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, und während meine Mitschüler in eine Art Koma verfielen, versuchte ich mit aller Macht, meine Konzentration auf die piepsige Stimme meines Lehrers zu richten, der mein Interesse euphorisch zur Kenntnis nahm.

In der Mittagspause fing mich Suzy wieder ab und zog mich mit sich, um mich ihren Freundinnen vorzustellen. Es hagelte Fragen.

»Sag was auf Deutsch!«

»Wieso bist du hierhergezogen?« »Wie gefällt dir Los Angeles?« »Was sind deine Lieblingsbands?«

»Dürft ihr wirklich schon mit sechzehn Alkohol trinken?« »Rauchst du?«

»Habt ihr Clubs? Discos?«

»Hast du einen Freund?« »Bringst du morgen ein paar Fotos aus Deutschland mit?«

Nein, dachte ich. Weil ich morgen nämlich nicht mehr wiederkomme. Ende der Fahnenstange. Die letzte Stunde würde ich noch hinter mich bringen und dann: Good bye, Pali High.

Die letzte Stunde war Englisch. Sie fand in einem hellen, gepflegten Raum statt, dessen Wände frisch gestrichen waren und dessen glänzende Holztische wirkten, als wären sie gerade erst neu gekauft worden.

Suzy zog mich neben sich zu einem Platz am Fenster, schwatzte von dem Mando-Diao-Konzert, das nächste Woche in der Hollywood Bowl stattfinden würde, und von der Möglichkeit, noch eine Karte für mich zu ergattern, als vom Pult her ein leises Räuspern ertönte. Irritiertes Tuscheln, dann wurde es still im Klassenraum.

Es war, als ob jemand per Fernbedienung die Lautstärke an einer Musikanlage heruntergefahren hätte. Suzy brach mitten im Satz ab und schaute wie alle anderen zum Lehrerpult, auf das auch ich jetzt meinen Blick richtete. Mein Atem setzte aus.

»Was soll das?«, flüsterte Suzy irritiert. »Wer ist das?«

Diese Frage hätte ich ihr beantworten können. Wenn ich imstande gewesen wäre zu sprechen.

Der hochgewachsene Mann in dem grauen Leinenanzug, der jetzt eine Tasse dampfenden Tee auf der Tischplatte des Lehrerpultes absetzte, war Morton Tyger.

Lucian
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