Kapitel 2
Tivoli, östlich von Rom,
zwei Wochen später
Sie war hier! Erregung pochte in Nicholas Satyrs Blut, als er den entzückenden Hauch von Feenmagie wahrnahm, der in der Luft lag.
Er ließ seinen Blick über die Menschenmenge schweifen, die sich den nachmittäglichen Festlichkeiten in den Renaissancegärten der Villa d’Este hingab. Jongleure, Musikanten und kostümierte Artisten mischten sich unter Roms gesellschaftliche Elite. Die meisten hatten eine Wegstrecke von zwanzig Meilen in Kauf genommen, um einen Tag auf dem Land zu verbringen. So wie er.
Aber sie waren aus anderen Gründen hier.
Weder die Brunnen noch die anderen angebotenen Vergnügungen konnten im Augenblick sein Interesse wecken. Er hatte zu tun. Er war auf der Jagd – und seine Beute war dazu bestimmt, seine Frau zu werden.
Während der letzten Woche hatte Nick jede gesellschaftliche Veranstaltung in Rom besucht, und es sah ganz so aus, als habe Feydon sich geirrt. Die erste der Feentöchter war keineswegs in Rom zu finden. Heute hatte er die Chance ergriffen, sie vielleicht hier, im nahe gelegenen Tivoli, aufzuspüren. Und soeben schien seine Ahnung Früchte zu tragen.
Aber er hatte wertvolle Zeit damit verloren, sie in Rom zu suchen. Er war so beschäftigt gewesen, dass er seit Tagen nicht mehr in den Genuss gekommen war, sich mit einer Frau zu vereinen; für einen Satyr war das eine bemerkenswert lange Zeitspanne. Noch heute Abend würde er in den Armen einer Dirne entspannen können – oder seiner Mätresse, wie die Engländer ihre Huren höflicherweise nannten.
Nick mischte sich unters Volk und konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Aufgabe. Mit feiner Nase suchte, prüfte und verwarf er Parfümnoten und natürliche menschliche Gerüche. Es stand außer Frage: Irgendwo in diesem Zusammentreffen von italienischer und englischer Oberschicht verbarg sich König Feydons Tochter.
Aber wo nur?
Inmitten der Grünanlagen stritten riesenhafte Hüte mit tanzenden Federn gegen raschelnde, weite Röcke um seine Aufmerksamkeit. Seit Napoleons Niedergang hatte sich die Mode gewandelt. Die hohe Taille und schlanke Silhouette des Empire-Stils hatte einer romantischeren Mode Platz gemacht. Die Taillen waren jetzt eng geschnürt, und Röcke schwebten über den Boden wie überdimensionierte Schirme.
Seine Größe erlaubte es ihm problemlos, den Blick über das Gesichtermeer schweifen zu lassen. Er übersprang die männlichen Gesichter und verweilte kurz auf denen der Frauen. Es war nicht anzunehmen, dass er sie erkennen würde, denn sie würde jegliche äußere Manifestation ihrer Herkunft zu verbergen suchen, so wie er. Nein, er würde sich allein auf seine Nase verlassen müssen.
Am Fuß der steilen Treppe, die zu einem riesigen Wasserorgelbrunnen führte, schaute er hilfesuchend zu der Bacchus-Statue hinüber. Dann schlenderte er instinktiv die Allee der Hundert Brunnen hinunter, die ihren Namen den mit mythologischen Figuren und Wasserspeiern opulent verzierten Brunnenanlagen verdankte.
Er blieb stehen. Sein Interesse war schlagartig geweckt. Da war er wieder: ein schwacher, aber unmissverständlicher Feenduft. Er machte sich in die Richtung auf, aus der er ihm entgegenwehte, wurde jedoch nach nur wenigen Schritten angehalten, als eine fleischige, in einem kanariengelben Handschuh steckende Hand sich auf seine Schulter legte.
»Ja, sieh mal einer an. Seid Ihr das, Satyr?«
Nick drehte sich um. Vor ihm standen zwei Paare, mit denen er weitläufig bekannt war. Er schlüpfte in die Rolle des angesehenen Aristokraten wie in einen sorgfältig auf Maß geschneiderten Frack. Höflich nickte er ihnen zu. »Lord und Lady Hillbrook. Signore Rossini, Signora Rossini.«
Die heutige Festivität war Lord Hillbrooks Veranstaltung. Oft verbrachten reiche Engländer wie er den Winter in Italien, üblicherweise blieben sie auch noch bis weit in den Frühling, um der englischen Kälte zu entgehen, aber die ersten Anzeichen der berüchtigten italienischen Sommerhitze ließen sie eiligst nach Hause zurückkehren.
»Man sieht Euch nicht oft zu unseren kleinen Anlässen«, schmeichelte ihm Lord Hillbrook. Er strich sich über seine beachtlichen Bartspitzen, die in alle möglichen Richtungen abstanden, als wären sie unsicher, welche Wendung das Gespräch nehmen sollte. »Eure Anwesenheit ehrt uns sehr.«
»Ich komme nicht so häufig nach Tivoli, wie ich es gern täte. Aber da ich gerade hier war, wollte ich Eure Festlichkeit nicht versäumen«, erwiderte Nick höflich. »Es ist ein gelungenes Fest und gereicht der Gastgeberin zur Ehre.«
Lady Hillbrook strahlte bei dem Lob. »Ach, ihr Italiener habt ja so ein Glück mit dem Wetter. In England wäre es wegen des Regens schier unmöglich, zu dieser Jahreszeit ein Gartenfest abzuhalten.«
»Schon möglich. Aber es gibt auch ein Zuviel an Sonnenschein. Unsere Reben freuen sich über gelegentliche Frühlingsschauer«, sagte Nick. »Zu wenig Regen lässt die Trauben verkümmern.«
»Ah, da Ihr gerade davon sprecht: Ihr habt hoffentlich nicht vergessen, dass wir bei der Auktion in diesem Herbst fünfzig Kisten brauchen«, erinnerte ihn Signora Rossini. Obwohl es warm war, trug sie ein enggeschnürtes hellrotes Kleid, das einen heroischen Versuch unternahm, ihrem üppigen Körper eine sanduhrähnliche Linie zu verschaffen. Schweißperlen standen ihr auf Stirn und Oberlippe, die sie gelegentlich mit einem mit Monogramm bestickten Taschentuch abtupfte.
Lady Hillbrook stieß ihren Mann diskret mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Wir brauchen einhundert Kisten«, ließ sich Lord Hillbrook eilig vernehmen.
»Soll er wie üblich getarnt geliefert werden?«, fragte Signore Rossini.
Hillbrook nickte und wippte auf den Fußballen. »Wie Ihr wisst, verbieten die englischen Gesetze weiterhin die Einfuhr von Flaschenwein. Die übliche Praxis ist, literweise zu kaufen. Wenn wir also Wein trinken wollen, müssen wir ihn entweder illegal einführen oder aber selbst abfüllen.«
Er bewegte die Spitze seines Spazierstocks in Richtung von Nicks Wade, als wollte er ihn verschwörerisch anstupsen, doch dann besann er sich eines Besseren und fragte lediglich: »Ich nehme an, Ihr werdet in diesem Jahr einen geradezu obszönen Preis für Eure Ernte verlangen, nicht? Eure Reben scheinen als einzige von der Seuche verschont zu bleiben.«
Nick versteifte sich. »Wir können uns glücklich schätzen, dass wir noch nicht davon betroffen sind.«
»Es heißt, alle Weinberge in Europa seien von einer Pest befallen. Einige seien völlig vernichtet«, erzählte Signore Rossini. »Und es ist kein Heilmittel in Sicht. Soweit ich informiert bin, ist man sich noch nicht einmal über die Ursache im Klaren.«
»Auch meine Familie ist wegen der Seuche natürlich in großer Sorge. Doch wie ich bereits sagte, schätzen wir uns glücklich, dass unsere Weinberge bisher noch nicht davon betroffen sind«, entgegnete Nick kühl.
»Merkwürdig«, murmelte Lord Hillbrook.
»Bitte?« Nick wandte dem Gentleman seine volle Aufmerksamkeit zu. Prompt senkte dieser unter seinem stechenden Blick den Kopf.
Die Satyr-Ländereien wurden durch die Kräfte der Anderwelt geschützt, die er und seine Brüder heraufbeschworen. Deshalb waren ihre Reben von den dunklen Flecken verschont geblieben, die begonnen hatten, sich auf den Blättern nahezu sämtlicher Weinstöcke Europas auszubreiten. Es war ihm bewusst gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis die Menschen anfingen, darüber zu spekulieren, warum seine Weinberge nicht betroffen waren.
»Äh, ich … ich habe mir nichts weiter dabei gedacht«, sagte Hillbrook und wurde so rot wie Signora Rossinis Kleid. »Ein jeder weiß, dass der Satyr-Wein ohne Fehl und Tadel ist. Daran ist gar nichts merkwürdig. Wahrscheinlich ist es einfach nur Glück, dass –«
Seine Frau runzelte die Stirn und schüttelte missbilligend den Kopf, was ihn verstummen ließ, ohne den Satz zu Ende gesprochen zu haben.
»Ich kann Euch versichern, dass wir uns nicht auf Glück allein verlassen«, sagte Nick. »Solange die Pest umgeht, haben wir jede nur mögliche Vorkehrung getroffen, unsere Reben davor zu schützen. Es ist schwierig, da wir die Gründe für die Krankheit nicht kennen. Jedenfalls ist der Zutritt zu den Weinbergen limitiert, und wir achten darauf, dass potenzielle Gefahrenquellen oder Überträger draußen bleiben.«
Signora Rossini brach die peinliche Stille, die sich nach seinen erklärenden Worten ausgebreitet hatte. »Also wirklich, solche Gespräche sind einfach viel zu ernst für einen so hinreißenden Tag. Lord Satyr, Ihr müsst uns eines sagen: Habt Ihr Euch bereits die botanische Ausstellung angesehen?«
Begeisterung blitzte in Lady Hillbrooks Augen auf, und sie beugte sich vor. »Das Studium der Flora ist in England gerade en vogue. Ich selbst interessiere mich sehr dafür und habe bereits viele interessante Exemplare gesammelt.«
Nick lächelte sie charmant an. »Tatsächlich? Ich bedaure, dass ich bisher noch nicht die Gelegenheit hatte, die Ausstellungsstücke zu begutachten. Ihr werdet mich sicherlich entschuldigen. Ich bin äußerst begierig, dieses Versäumnis nachzuholen.« Mit einer höflichen Verbeugung verabschiedete er sich von den vieren.
Er verbannte die Sorge wegen der Krankheit aus seinen Gedanken und ließ sich durch die Menge treiben, immerzu sortierend, prüfend und verwerfend. Als er am Drachenbrunnen im Zentrum des Gartens vorbeiging, versuchten die jungen Damen mit allen Mitteln zu erreichen, dass der geradezu obszön wohlhabende Signore Satyr sich nach ihnen umdrehte. Wenn er solche Hartnäckigkeit auch nur annähernd in einem Feldarbeiter fände, würde er ihn von der Stelle weg für die Arbeit in seinem Weinberg verpflichten.
In ihren Augen war zu lesen, dass sie ihn wollten – oder zumindest seinen Reichtum. Aber sie wussten nichts darüber, wie er wirklich war. Denn wenn auch nur eine von ihnen eine Ahnung von der Stärke und Tiefe seiner dunklen körperlichen Begierden hätte, dann würde ihn nicht einmal sein enormer Reichtum als Heiratskandidaten qualifizieren, dessen war er sicher.
Der Nachmittag wurde zum Abend, und immer noch schwebte der liebliche Feenduft in der sich abkühlenden Luft, lockte ihn und entzog sich ihm wieder. Er umkreiste ihn, spielte das Kinderspiel vom Topfschlagen ohne Topf, wurde heiß und kalt und dann wieder heiß, während er ihn geduldig verfolgte. Endlich, als er sich den Fischteichen näherte, wurde der Duft nach Magie stärker und bestätigte ihn darin, dass er seinem Ziel ganz nahe war. Sein Jagdinstinkt verschärfte sich.
Er umkreiste ein Zelt, das mit einigen anderen zwischen zwei Kräuterlabyrinthen aufgestellt war. Eine Gruppe junger englischer und italienischer Damen hielt sich mit ihren Beaus dort auf. Die jungen Leute unterhielten sich angeregt. Als sie ihn bemerkten, hoben sich die Köpfe der Damen, als witterten sie Beute. Einige von ihnen vergaßen auf der Stelle die Herren, mit denen sie soeben noch gesprochen hatten. Das Fächeln der Spitzenfächer wurde schneller.
Sie war hier irgendwo unter ihnen.
»Seid Ihr gekommen, um Euch aus der Hand lesen zu lassen?«, fragte einer der jungen Italiener. »Ich glaube selbst ja nicht an so etwas, aber es macht Spaß, nehme ich an.«
Eine der Damen schlug dem jungen Mann neckend mit einem zerfallenden Bouquet, das sie zweifelsohne gerade aus dem Kräuterlabyrinth zusammengestellt hatte, auf den Arm. »Sie liest nicht, Signore. Die Wahrsagerin bietet an, die Zukunft vorherzusagen.«
»Das meinte ich doch«, antwortete er und rieb sich in gespieltem Schmerz den Arm. »Handlesen, oder nicht?«
Nick betrachtete das Zelt. Es war weiß; große Mengen Tüll bauschten sich an den Ecken, und eine Fahne schmückte die Zeltmitte.
Vorfreude erfasste ihn. Er war sich sicher, dass sie da drin war. »Eine echte Wahrsagerin ist hier?«, erkundigte er sich.
»Ja. Während wir uns hier unterhalten, wird meiner Schwester dort drin gerade die Zukunft geweissagt«, erklärte der junge Mann, den Nick nun als den Sohn von Signore Rossini erkannte.
Sollte seine Schwester tatsächlich die Gesuchte sein? Wenn dem so war, dann hoffte er inständig, dass sie ihrer Mutter nicht ähnlich war. Lyons Ängste bezüglich der Attraktivität seiner Zukünftigen hallten in seiner Erinnerung nach. Mit einem Mal war er nicht mehr ganz so begierig darauf, in das Zelt zu linsen.
Ihr Aussehen spielte keine Rolle, erinnerte er sich. Als ihr Ehemann würde er ihr nur so oft beiwohnen, wie es die Pflicht von ihm verlangte. Als Gegenleistung würde sie ihm Kinder gebären und nichts dagegen haben, wenn er wahre Befriedigung außerhalb ihres Betts suchte.
Und doch, als die halbtransparenten Schleier des Zelteingangs sich teilten und Signore Rossinis Schwester erschien, seufzte Nick vor Erleichterung fast auf. Sie war eine italienische Schönheit. Ihr Kleid war der Traum eines jeden Schneiders, die seidene Taille verjüngte sich und offenbarte Kurven, die weit ansprechender waren als die ihrer Mutter. Verspielte Bänder, die unter ihrem Kinn zu Schleifen gebunden waren, hielten einen Strohhut, der so reich mit Rotkehlchen geschmückt war, dass Nicholas fast erstaunt war, ihn auf ihrem rabenschwarzen Haar zu finden und nicht in einer Voliere.
Während sie aus dem Zelt trat, schlüpfte eine andere junge Kundin an ihr vorbei hinein. Nick erhaschte einen Blick auf eine gebeugt dasitzende Gestalt in Zigeunerkleidung.
»Was hat die Wahrsagerin gesagt?«, fragte eine der Damen Rossinis Schwester.
»Ja, bitte, Bianca. Erzähl es uns«, fügte ein englisches Fräulein hinzu. »Wir können es kaum abwarten.«
Signorina Rossini öffnete den Mund, aber als sie Nicks Interesse bemerkte, brachte sie keinen Ton heraus.
Nachdem sie miteinander bekannt gemacht worden waren, trat er näher an sie heran, als es schicklich war, um ihr einen Kuss auf den in einem Handschuh steckenden Handrücken zu geben. Eine unsichtbare Aura von Feenmagie legte sich um ihn.
Es war also tatsächlich die kleine Rossini. Die Tatsache, dass seine Suche so plötzlich vorbei war, brachte ihn für einen kurzen Moment aus der Fassung, gerade so, als wäre er an den Rand einer Klippe gerannt und befände sich jetzt zögernd am Abgrund.
Satyre waren nicht besonders talentiert darin, die Gedanken anderer zu lesen, aber er wandte sein ganzes Können auf und hoffte, von ihr zu erfahren, was es zu erfahren gab.
Ihre Gedanken verrieten ihm, dass sie ihn attraktiv fand, aber das hatte er bereits an ihrem Gesichtsausdruck erkannt. Er war frustriert, als er keinen weiteren Anhaltspunkt für ihre Feennatur fand, bis ihm schließlich einfiel, dass ihr eigenes Unwissen über ihre Herkunft dafür sorgte, dass nichts in ihren Gedanken ihm irgendetwas darüber verraten konnte. Sie schien ein liebes, fügsames Mädchen zu sein, und sie war zweifellos schön. Wenn sein Instinkt ihn nicht trog, dann würde sie sich als gute Wahl herausstellen.
Dass König Feydon ausgerechnet ihre Mutter genommen hatte, überraschte Nick jedoch. Faydon war ein kritischer Schwerenöter und wählte üblicherweise nur die attraktivsten Gespielinnen, aber vielleicht war Signora Rossini in ihrer Jugend ja hübscher anzusehen gewesen.
Bianca trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, und er bemerkte, dass seine stumme Musterung zu intensiv geworden war. Er verneigte sich vor ihr. »Es ist mir in der Tat eine Ehre, Signorina Rossini.«
»Signore«, erwiderte sie und knickste. Ihre Stimme kam als verzücktes Wispern, sie summte vor Verwunderung und mit einem Anflug von Erfurcht, dass er ausgerechnet sie mit seiner Aufmerksamkeit beglückte.
»Darf ich fragen, welcher Art die Zukunft war, die Euch vorausgesagt wurde, dass Ihr derart reizend errötet?«, fragte er und hoffte, ihr damit ein wenig über ihre Verlegenheit hinwegzuhelfen.
»Ich werde einem gutaussehenden, dunkelhaarigen Gentleman begegnen«, platzte sie heraus.
Ihre Freundinnen warfen ihm scheue Blicke zu und kicherten. Bianca erblasste, als ihr gewahr wurde, was sie da gerade gesagt hatte und zu wem.
»Und wenn Ihr diesen Gentleman trefft, habt Ihr dann vor, ihm einen Tanz zu gewähren?«, erkundigte sich Nick mit ungewohnter Vorsicht. Sie war eine dieser schüchternen Kreaturen, die bei jedem Mann den Beschützerinstinkt weckten.
»Oh«, sagte sie und runzelte die Stirn. »Alle meine Tänze sind bereits vergeben.«
»Könntest du nicht wenigstens einen für Signore Satyr freimachen?«, ermunterte ihr Bruder sie. Offenbar dämmerte ihm gerade, was Nicks plötzliches Interesse an seiner Schwester für das Familienvermögen bedeuten könnte.
Nick war sich sicher, dass die Rossinis ihn ohne Bedenken akzeptieren würden, so auch Bianca. Sie war zweifellos wohlerzogen und gut auf ihre Pflichten vorbereitet worden. Sie würde seinem Heim und seinem Bett zur Ehre gereichen und ihm keinen Ärger bereiten. Die Ehe mit ihr würde den eingespielten Rhythmus seines Alltags kaum beeinträchtigen. Es gab nur noch die Formalitäten zu klären. Er würde gleich morgen mit seinem Anwalt in Rom sprechen und sie als die Seine beanspruchen, so schnell wie die Hochzeit arrangiert werden konnte.
»Aber das würde sich nicht gehören«, sagte sie.
Nick war für einen Augenblick irritiert, bis er erkannte, dass ihre Worte sich auf seine Bitte um einen Tanz beziehen mussten. »Da habt Ihr natürlich recht. Wie schade für Euren dunklen, gutaussehenden Gentleman und alle anderen, die die Gelegenheit versäumt haben, heute Abend eine Runde auf dem Rasen mit Euch zu drehen.«
»Äh, ja.« Sie blinzelte. Offenbar war sie von seinem Lächeln verzaubert.
Irgendwie war das zu einfach, dachte er. Während er einerseits froh über ihren Mangel an Verstellung war, konnte er doch nicht umhin, sich zu fragen, ob ihre Einfachheit nicht mit der Zeit ihre Anziehungskraft verlor. Sei’s drum. Ehemänner seines Rangs verbrachten nicht viel Zeit mit ihren Ehefrauen. Außerdem hatte jede Fee verborgene Fähigkeiten. Er fragte sich, welche Art der Magie sich hinter ihrem fügsamen Äußeren verbarg.
Der Vorhang öffnete sich, und die Kundin trat aus dem Zelt.
»Wollt Ihr es als Nächster versuchen?«, fragte einer der jungen Männer Nick. Er klang hoffnungsvoll. Zweifelsohne glaubte er, dass die Damen ihre Aufmerksamkeit nicht von Nick wenden würden, solange er bei ihnen war.
Nick bot Bianca seinen Arm. »Da Ihr mir schon keinen Tanz gewährt, wollt Ihr mich dann nicht hineinbegleiten, damit mir die Zukunft vorhergesagt werden kann?«
Biancas erstaunter Blick schoss zu ihrem Bruder.
»Mit der Erlaubnis Eures Bruders natürlich«, fügte Nick hinzu.
»Geh nur, Bianca«, sagte der junge Rossini. »Die Wahrsagerin reicht als Anstandsdame, und ich bin gleich hier draußen vor dem Zelt.«
»Mir ist aber schon geweissagt worden«, erinnerte sie ihn.
»Mir jedoch nicht«, sagte Nick. »Und ich muss zugeben, dass mich die Aussicht, einem echten Medium gegenüberzutreten, etwas verunsichert. Ihr habt diese Wasser augenscheinlich bereits befahren und überlebt. Ich flehe Euch an, bitte begleitet mich und gebt mir die Kraft, die ich dafür brauche.«
Bianca zögerte. Wahrscheinlich fragt sie sich gerade, ob Mama es gutheißen würde, dachte Nick.
Er wandte seine nicht unerheblichen Überredungskünste an. »Eure Augen verraten mir, dass Ihr ein liebes Wesen besitzt. Sicher könnt Ihr mit der Güte Eures Herzens eine Entscheidung zu meinen Gunsten fällen.«
»Äh, ja, natürlich kann ich Euch begleiten«, stimmte sie schließlich zu. Dann beugte sie sich näher zu ihm und sagte: »Aber das Medium ist wirklich gar nicht so furchteinflößend.«
Nick nickte ihrem Bruder zu, dann hielt er den Vorhang auf und ließ Signorina Rossini den Vortritt.