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Sie fuhren in aller Frühe nach dem Frühstück ab. Macdonald hatte auch nicht gut geschlafen. Keiner von ihnen gab dem Whisky die Schuld. Es war etwas anderes. Es war diese Stadt.

Man könnte es Intuition nennen. Eine Eingebung, manchmal unmittelbar. Zu wissen, ohne Beweise vorlegen zu können. Das konnte das Frustrierendste daran sein. Es konnte entscheidend sein. Intuition. Die hatten sie beide. Ein Kriminalbeamter ohne Intuition war aufgeschmissen.

Es war nicht weit bis Buckie, näher als Winter gedacht hatte. Sie hätten gestern Abend ein Taxi nehmen können, aber er wollte einen klaren Kopf haben. Jetzt war er nicht mehr müde. Die Müdigkeit war verschwunden.

Sie fuhren die Küstenstraße über Portnockie und Findochty. Es war ein stiller Morgen. Das Meer war ruhig. Die Sonne hing über den östlichen Bergen und erleuchtete den Horizont. Winter sah die Rauchfahne eines Schiffes, das auf der Horizontlinie entlangbalancierte. Am Himmel waren keine Wolken. Es war einer der schönsten Morgen, die Gott geschaffen hatte.

Das Cluny Hotel war zur Hälfte erleuchtet. Macdonald parkte vor dem Buckie Thistle Social Club. Eine kleine Gruppe Schulkinder kam vorbei. Eins der Kinder trug einen Fußball unterm Arm.

Eine Frau in grauer Schürze saugte in der Lobby Staub. Sie hatte mit der untersten Treppenstufe angefangen und schaute verwundert auf, als die beiden Männer mit einem Gruß an ihr vorbei die Treppe hinaufgingen.

Winter hielt das Foto in der Hand, John Osvalds Profil.

Er ging langsam, von einem Rahmen zum anderen, die die schwarzweiße Geschichte der Stadt einfassten. Für die damalige Stadt waren Fischindustrie und die Fischerei Gegenwart und Zukunft gewesen, Buckie. Jetzt war nur noch Vergangenheit. Das Cluny Hotel gehörte der damaligen Zeit an.

Winter sah Masten, Wälder von Masten. Hatte er sich getäuscht? Hatte er etwas anderes gesehen ... woanders?

Er sah wieder auf das Foto vom jungen Osvald, aufgenommen auf einer Insel in den schwedischen Schären. Winter sah das Meer hinter Osvald. Es war auch ein stiller Tag gewesen, ein schöner Tag. Vielleicht wandte Osvald das Gesicht ab, damit die Sonne ihm nicht in die Augen schien.

»Hier haben wir einige tausend Menschen«, sagte Macdonald, der Winter eine Stufe voraus war. Er zeigte auf ein weiteres gerahmtes Foto, das drei Treppenstufen vom Restaurant entfernt dort oben hing.

Winter studierte das Bild. Der Platz, Cluny Square, war schwarz von Menschen. Sie drängten sich um das Denkmal, Buckie War Memorial, 1925 endlich errichtet zur Erinnerung an die Toten des ersten großen Krieges.

Jetzt war es 1945. Winter las die wenigen Worte auf dem Schild neben dem Rahmen. Die Menschen in Buckie hatten sich aus Freude, weil der zweite große Krieg vorüber war, beim Denkmal versammelt. Auf dem Schild stand ein Datum. Es war ein Frühlingstag. Es war ein schöner Tag, die Sonne pflügte Schatten durch die Menschenmasse. Winter sah die Gesichter im Vordergrund. Ein Mann mit Kappe stand nah vor der Kamera. Er hatte das Gesicht zur Seite gewandt, wie um sich vor der Sonne zu schützen. Es war John Osvald.

»Yeah, it's him«, sagte Macdonald.

Winter verglich die beiden Gesichter. Es gab keinen Zweifel. Macdonald hielt Winters Foto hoch, verglich auch.

»Yeah«, wiederholte Macdonald. »No question.«

»But it doesn't tell us that he's still around«, sagte Winter.

»Aroundwhere?«, fragte Macdonald. »Around life«, antwortete Winter.

Sie standen auf dem Platz. Die in den Stein des Sockels gehauenen Buchstaben waren für die Ewigkeit: Ihre Namen Leben Ewig.

Auf einer Parkbank vor dem Haus am Platz saßen zwei alte Leute. Es schien dasselbe Paar zu sein, das Winter gesehen hatte, als er kürzlich hier gestanden hatte. Er ging zu dem Gebäude hinüber. An der Wand hing ein Schild: Struan House - Where older people find care in housing.

Es waren zwei alte Männer. Winter ging zu ihnen. Er fragte sie, ob sie dabei gewesen seien, als das Ende des Krieges gefeiert wurde. Sie sahen ihn an. Macdonald übersetzte die Frage ins Schottische. Sie fragten, warum er das wissen wollte. Macdonald erklärte es ihnen. Winter holte das Foto von John Osvald hervor. Sie betrachteten es und schüttelten den Kopf.

»Würden Sie mit ins Hotel kommen und sich das Bild an der Wand anschauen?«, fragte Macdonald.

Nach einer kleinen Weile erhoben sich die beiden Männer.

Drinnen stiegen sie ohne Mühe die Treppe hinauf. »Hängt das hier schon lange?«, fragte einer der beiden.

Sie studierten das Bild.

»Wir waren also dabei in diesem Meer«, sagte der andere und nickte auf das Menschenmeer. »Ich kann dich nicht entdecken, Mike.«

»Ich erinnere mich nicht, wo ich gestanden habe«, sagte Mike.

»Erkennen Sie ihn?« Macdonald legte seinen Zeigefinger auf Osvalds Kappe. »Das soll derselbe sein?«, sagte Mike.

»Schauen Sie selber«, sagte Macdonald und hielt ihm Winters Foto hin.

»Ja«, sagte Mike, nachdem er die beiden Bilder einige Male miteinander verglichen hatte. »Aber ich kenn ihn nicht.«

Macdonald und Winter setzten sich ins Auto. Der Pubbesitzer auf der anderen Straßenseite zog die Jalousien hoch. Am Fenster standen die Stühle auf den Tischen. Ein Sonnenstrahl beleuchtete einen Teil der Theke. Winter hatte plötzlich großen Durst.

»So weit haben wir es jedenfalls geschafft«, sagte Macdonald.

»Möchtest du nicht weiterkommen?«, fragte Winter.

»Wohin sollen wir denn fahren? Was sollen wir tun?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Winter. »Außerdem ist es eine Frage der Zeit.«

Macdonald sah auf die Uhr.

»Bald steigen die Mädels in den Zug.«

»Wir sollten vielleicht auch in die Highlands fahren«, sagte Winter.

Macdonald beobachtete den Pubbesitzer, der die Stühle von den Tischen hob. Er trug eine Sonnenbrille zum Schutz gegen die Sonne, die zwischen zwei Häusern hinter Winter und Macdonald auf den Platz schien.

»Ich hab das Gefühl, dass wir nah dran sind«, sagte Macdonald und drehte sich zu Winter um. »Hast du nicht auch so ein Gefühl?«

Winter nickte, antwortete jedoch nicht.

»Wir sind ihm gefolgt, jedenfalls haben wir teilweise seine alten Spuren verfolgt«, sagte Macdonald.

»Oder die neuen«, sagte Winter.

»Neue und alte«, sagte Macdonald.

Sie setzten sich ins Auto.

»Wir können über Dufftown fahren, dann kannst du dir ein paar Flaschen bei Glenfarclas Destille kaufen«, sagte Macdonald und drehte den Zündschlüssel um.

Sein Handy klingelte. Er nahm es beim vierten Klingeln aus seiner Lederjacke.

»Ja?« Macdonald nickte Winter zu. »Guten Morgen, Kommissar Craig.« Er hörte zu.

»Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat«, sagte Craig, »Aber ich konnte den Behörden einfach nicht die Art der Straftat erklären.«

»Ich verstehe«, sagte Macdonald.

»Es handelt sich ja nicht um Mord«, sagte Craig.

»Technisch gesehen nicht«, sagte Macdonald.

»Jedenfalls hab ich jetzt Angaben«, sagte Craig. »Zwei der Anrufe beim Glen Islay in der Ross Avenue kamen tatsächlich von einem Telefonanschluss in Schweden, Landesvorwahl 031.«

»Die Tochter«, sagte Macdonald, »Johanna Osvald.«

»Ja«, sagte Craig. Macdonald hörte Papier rascheln. Im Hintergrund sagte jemand etwas. Craigs Stimme war wieder da. »In dieser Zeit sind nicht viele Anrufe bei Glen Islay eingegangen. Nachsaison. Aber einer könnte vielleicht interessant sein. Er ist in den Tagen dort angekommen, als dieser ... Axel Osvald dort wohnte.«

»Ja?«

»Jemand hat von einer Telefonzelle aus angerufen«, sagte Craig.

»Gut«, sagte Macdonald.

Telefonzellen waren gut, mit Handys war es komplizierter. Da konnten sie die Gegend feststellen, aus der angerufen wurde, aber dann wurde es schwierig. Telefonzellen waren nicht so mobil wie Handys.

Zuerst konnten sie feststellen, dass es eine Telefonzelle war, und dann welche und wo sie stand. Manchmal wurde die ganze Telefonzelle für die Spurensuche abgebaut.

»Es war eine Frau«, sagte Macdonald, »nach Aussage der Geschäftsführerin in der Pension.«

»Wie auch immer«, sagte Craig, »das Gespräch kam aus einer Telefonzelle in Cullen. Sind Sie da mal gewesen?«

»Cullen?!«

»Ja.«

»Ich bin schon unterwegs«, sagte Macdonald.