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Als er den Wind im Gesicht spürte, kehrten die Erinnerungen zurück. So war es immer, gleich, ob es hell oder dunkel war. Die Erinnerungen. Dort draußen gab es keinen Tag, keine Nacht. Das Meer war eine eigene Welt. Die Arbeit drehte sich nur um den Trawler, die Winschen, das Arbeitsdeck, rauf und runter, alle fünf Stunden, anfangs selten in der Nacht, aber er hätte es anders gewollt. Mit den anderen sieben in der Back zu schlafen, das war doch die Hölle, all das Faule, Feuchte, immer schlaflose Nächte. Die Arbeit schmerzte wie ein Schatten im Körper. Keine Wärme, niemals das Gefühl von trockener Haut. Davon konnte er während der Wochen dort draußen träumen. Von trockener Haut.

In der Nacht, als Frans mit an Bord war, hatte der Wind gedreht. Den Schrei hat er nicht gehört, niemand hat ihn gehört. Frans verschwand ohne Schrei. Noch ein grauer Stein auf dem Weg zum Grund, aber nicht richtig. Wer hier in die Nordsee fiel, zwischen Stavanger und Peterhead, trieb oben in Nordnorwegen wieder an Land. Eine einsame Reise durch die schwarzen Strömungen. Frans.

War es so gewesen?

Auf jeder Rückreise beteten sie und gingen im Hafen sofort in die Pubs. Er erinnerte sich, wie er sie betrat, aber nicht daran, wie er sie wieder verließ. Damals hatte er viele solcher Abende erlebt, all diese Abende endeten ohne Erinnerung.

Auf dem Meer ließ sich die Müdigkeit niemals abwaschen, und wenn sie an Land kamen, tat er sein Bestes, um sie zu erhalten.

Der Abend, als er von der Bordwand eingeklemmt wurde, hätte sein letzter werden können. Eine Weile hatte er sich beim Trinken etwas zurückgehalten.

Er saß vor seinem Haus. Von hier aus konnte er die alte Kirche sehen. Er sah Autos auf dem Weg zur Kirche und von der Kirche weg, Autos unterwegs zum Golfplatz, der auf der Landzunge hinter der Kirche lag. Die Idioten schlugen ihre Bälle ins Wasser und wussten nicht, warum.

Das westlichste Viadukt lief von links in sein Blickfeld und wurde zu einem Teil der Kirche, oder die Kirche wurde zu einem Teil des Viaduktes. Er hatte das Bild viele Male studiert. Es hing zusammen. Die Viadukte waren Kathedralen der späteren Zeit, die Zeit, die danach kam, und es war nur natürlich, dass sie sich mit Kirchen verbanden.

Er spuckte nach der Kirche. Dann bereute er es. Er wischte sich den Mund ab und stand auf. Er ging auf die Straße hinaus, die keinen Namen hatte. Ein Kind kam vorbei, sah aber nicht zu ihm auf. Auch für das Kind war er unsichtbar.

Wenn Kinder einen Unsichtbaren nicht sehen, gibt es keine Hoffnung mehr.

Ein Paar mittleren Alters kam die Treppen herunter, auch sie sahen ihn nicht. Er trat einen Schritt beiseite, damit sie nicht geradewegs durch ihn hindurchgingen. Er hörte ihre Stimmen, verstand aber die Sprache nicht, vielleicht hörte er sie auch nicht im Wind.

Er bestellte sein Ale bei »Three Kings«. Lange saß er vor dem Glas, das niemand anderer sah. Er gab der Frau hinter der Theke ein Zeichen, und sie schaute weg. An anderen Tagen hatte er mit ihr gesprochen, das wusste er.

Sie wusste es auch.

Er konnte nicht sehen, was sie jetzt dachte.

Sie hatte versucht mit ihm zu reden, aber er hatte ihr nicht zuhören wollen. Sie hatte ein Wort gesagt, aber er hatte das Wort nicht hören wollen. Sie hatte ein anderes Wort gesagt, es war das Wort Lüge. Sie hatte das Wort Leben gesagt. Sie hatte das Wort Lebenslüge gesagt.

Sie hatte zu viel gesagt.

Das Paar, dem er an der Treppe begegnet war, betrat den Pub und setzte sich an einen der zwei Tische nah am Fenster. Die Frau hinter der Theke erstarrte, als ob sie eine Bestellung befürchtete. Nein, das war es nicht. Das Paar sah sich um. Der Mann sagte etwas, und jetzt verstand er, was der Mann sagte und erkannte die Sprache. Er trug selbst Reste dieser Sprache in sich. Er dachte nicht mehr daran, aber er hörte die Worte und könnte sie immer noch zusammensetzen, wenn er es müsste.

Er musste aber nicht.

Er bestellte noch ein Glas bei der Frau, die ihn nicht sah. Er trank mit dem Rücken zu dem Paar, das am Fenster saß und über die Viadukte und das Meer schaute.

Frans war nicht der Erste gewesen.

In den Strömungen umarmten die Körper einander.

Jesus, Jesus!

Als er auf die Straße kam, fuhr ein Laster voller Fisch vorbei. Er wusste, woher der Laster kam und wohin er fuhr. Der Laster schlingerte die Straße hinunter, in westliche Richtung. Er nahm den Fischgeruch durch die Dieselabgase wahr oder bildete es sich jedenfalls ein. Natürlich bildete er sich das nur ein.

Der Laster raste in den Tunnel, eine Gefahr für die entgegenkommenden Autos. Er wartete auf den Knall, hörte jedoch nichts, diesmal nicht. Er hörte nur das vertraute Dröhnen, als sich der Motor auf der anderen Seite den Hang hinaufarbeitete.

Dorthin ging er nie mehr. Nie mehr!