42

Auf dem halben Weg nach Nairn zeigte Macdonald auf das Straßenschild: Cawdor Castle. »Kennst du deinen Shakespeare?«, fragte er. Winter las das Schild. »Gib mir eine Minute.« Cawdor, Cawdor, Cawdor. Thane of Cawdor. »Macbeth«, sagte Winter. Macdonald lüpfte den Hut, den er nicht trug. »Glaubst du an die Geschichte?«, fragte Winter.

»Nicht auf dem Schloss«, sagte Macdonald, »selbst wenn es aus dem frühen vierzehnten Jahrhundert ist. Aber ich glaube an den Mythos.«

»Das war eine richtige Mordgeschichte«, sagte Winter.

»Man kann sagen, ich bin in der Nähe von zwei richtigen Ungeheuern aufgewachsen«, sagte Macdonald. »Nessie und Macbeth.«

»Hat dich das beeinflusst?«, fragte Winter.

»Das weiß ich noch nicht.«

Sie fuhren zwischen Feldern dahin, die das Meer atmeten. Winter sah nach rechts, über River Nairn.

Sie fuhren durch Nairn, das aus braunem Granit errichtet war. Die Schreie der Möwen waren laut. Der Himmel war blau, es gab keine Wolken. Die Stadt lag am Meer.

»Dies ist der sonnigste Ort von Schottland«, sagte Macdonald. »Als ich Kind war, sind wir manchmal hierher gefahren und haben gebadet.«

Sie fuhren auf der A96 weiter nach Forres. Winter sah die Wolken über dem Binnenland.

Wie weit ists noch nach Forres? - Wer sind diese? So eingeschrumpft, so wild in ihrer Tracht? Die nicht Bewohnern unsrer Erde gleichen, Und doch drauf stehen?

Macdonald fuhr durch zwei Verkehrskreisel und parkte auf der High Street vor »Chimes Tearoom«. Sie stiegen aus.

»Das ist die Straße meiner Kindheit«, sagte Macdonald.

»Forres war das Stadtähnlichste, was ich als Kind erlebt habe.« Er sah sich um. »Viel mehr als diese Straße gibt es nicht.«

Fraser Brothers Meats auf der anderen Seite der Hauptstraße warb für »Award Winnings Haggis« mit einem Aushang. Winter wusste, dass Haggis Schottlands Nationalgericht war, eine Wurst aus Schafmagen und Hafergrütze. Bisher hatte er darauf verzichtet, es zu probieren.

»Great chieftain o'thepuddin'-race!«, sagte Macdonald, der seinen Blick gesehen hatte.

Winter lächelte.

»Robert Burns«, sagte Macdonald. »Ode To A Haggis.«

»Fair fa'your honest sonsie face Great chieftain o' the puddin'-race!

Aboon them a'ye takyourplace Painch, tripe, or thairm:

Weelareye wordy of agrace As lang's my arm.«

»Ich wünschte, wir hätten eine gleichwertige Poesie in Schweden«, sagte Winter. »Poesie zu Ehren der Wurst.«

»Lass uns erst mal einen Kaffee trinken«, sagte Macdonald. Sie betraten das »Chimes« und setzten sich an einen Tisch am Fenster. Eine Frau in ihrem Alter kam heran und nahm die Bestellung auf: Cafe latte und zwei dünne Scheiben Dundee cake. Sie hatte kurz geschnittene dunkelbraune Haare und ein offenes Gesicht. Sie blieb am Tisch stehen.

»Bist du nicht Steve?«

»Jaa.« Macdonald erhob sich plötzlich. »Lorraine!« Sie reckte sich und umarmte ihn. »Long time no see«, sagte sie. »Very long«, sagte Macdonald.

Sie drehte sich um und sah, dass die Schlange vorm Tresen gewachsen war. Die Kollegin hinterm Tresen zog die Augenbrauen hoch.

»Ich muss weitermachen«, sagte sie und warf Winter einen schnellen Blick zu.

»A Swedish friend«, sagte Macdonald.

Winter stand auf und reichte ihr die Hand. Sie lächelte Macdonald zu.

»Bist du heute Nachmittag noch hier?«

»Leider nein, Lorraine. Wir sind auf dem Weg nach Aberdeen.«

»Aha.«

Sie drehte sich um und ging rasch zum Tresen zurück. Macdonald und Winter setzten sich. Winter sah einen Aushang rechts vom Tresen: »One person needed for washing dishes and pots, Wednesdays and Fridays 11-2.«

Macdonald räusperte sich diskret.

»Alte Flamme von mir«, sagte er.

»Mhm«, machte Winter.

»Wie du und Johanna Osvald.« »Hab ich das erzählt?«

Macdonald antwortete nicht. Er sah sich um, sah aus dem Fenster. Leute betraten den Laden der Gebrüder Fraser, kamen mit preisgekröntem Haggis wieder heraus.

»Es ist schon ziemlich viele Jahre her, seit ich zuletzt hier war«, sagte Macdonald.

Winter antwortete nicht. Macdonald fing seinen Blick auf.

»Ich weiß nicht...«, sagte er. »Man kriegt fast eine Art Schamgefühl, wenn man zurückkommt. Als ob man etwas schuldig geblieben wäre. Als ob man . sich schämte, dass man von hier abgehauen ist. Sie im Stich gelassen hat, vielleicht . ich weiß nicht, ob du das verstehst, Erik. Wenn man es überhaupt verstehen kann.«

»Ich hab mein Leben lang in derselben Stadt gewohnt, Steve. Ich kenne diese Gefühle nicht.«

Wie verschieden wir doch gelebt haben, dachte Winter. Steve stammt aus einem kleinen Dorf, er hat seine ersten selbstständigen Schritte in den Straßen dieser Kleinstadt gemacht. Winter war ein big city boy, jedenfalls im Vergleich. Aber jetzt war Steve ein big city boy und Winter wohnte auf dem Lande.

Lorraine brachte den Kaffee und den Kuchen, der schwer von Früchten war.

»Wie geht es dir, Lorraine?«, fragte Macdonald.

»Hier geht's rund«, antwortete sie.

»Ich sehe, ihr braucht jemanden zum Abwaschen«, sagte Macdonald und lächelte.

»Falls du mittwochs und freitags in der Stadt bist?«, sagte Lorraine.

Macdonald lächelte wieder, antwortete jedoch nicht.

»Sonst geht's mir wohl wie den meisten hier«, fuhr Lorraine fort. »Geschieden von einem Scheißkerl, zwei halb erwachsene Kinder zu versorgen.«

»Wer ist der Scheißkerl?«, fragte Macdonald.

»Rob Montgomerie«, antwortete sie.

Macdonald hob die Augenbrauen.

»Ja, ich weiß.« Sie lächelte säuerlich. »Aber du warst ja nicht mehr da, Steve, oder?«

Er sah plötzlich schuldbewusst aus und senkte den Blick. Lorraine kehrte an die Theke zurück. Macdonald schaute ihr nach.

»Jetzt fühl ich mich wirklich schuldig«, sagte er. »Hast du den Jungen gekannt?«

»Er war ein Scheißkerl«, sagte Macdonald. »Arme Lorraine.« Er sah Winter an. »Manchmal ist es wirklich egal, wie erwachsen du bist, es gibt Leute, die du dein Leben lang nicht magst.« Er sah Lorraine nach. »Sie muss sehr . verzweifelt gewesen sein.«

»Jetzt hat sie es hinter sich«, sagte Winter.

»Ich bin nicht sicher«, sagte Macdonald, »Rob gehört zu der gewaltsamen Sorte.«

Als sie gingen, nahm Macdonald Lorraine für einen Augenblick beiseite. Winter wartete draußen.

»Bis jetzt hat sich der Kerl jedenfalls zurückgehalten«, sagte Macdonald, als er aus dem Lokal kam.

»Du siehst aus, als würdest du wieder zur Schule gehen«, sagte Winter.

Was ja stimmt, dachte er. Wenn Steve hierher zurückkehrt, wird er der, der er damals war. So funktioniert das mit der Zeit.

»Hier gibt es viele, die ihre Frauen misshandeln«, sagte Macdonald. »Wo gibt es die nicht?«, fragte Winter.

Aneta wartete im Zimmer, als sie Sigge Lindsten hereinbrachten. Das war ein wichtiger Unterschied: Er wurde hereingebracht, nicht hereingeführt.

Halders räusperte sich, sie fingen an und das Tonbandgerät surrte. Lindsten antwortete auf alles, als ob er gut vorbereitet wäre. Aber er wusste nichts.

Halders fragte nach einigen verschiedenen Adressen in der Gegend um die Abfahrt Branting. Lindsten war der ahnungsloseste Mensch der Welt.

»Ich werde Ihnen mehr erzählen, als ich muss«, sagte Halders. »In diesen Speichern, die ich eben erwähnt habe, wurde Diebesgut aus vielen Göteborger Haushalten verwahrt.«

»Aha«, sagte Lindsten.

»Ein Umschlagplatz«, fügte Halders hinzu, »eine Zwischenstation zwischen Hehlern und Käufern.«

»So was wird offenbar immer üblicher«, sagte Lindsten.

»Was?«, fragte Halders.

»Diebstähle . organisiert im großen Stil, oder wie man das nennen soll.«

»Das stimmt«, sagte Halders. »Eine riesige, perfekte Veranstaltung.«

»Aber was hat das mit mir zu tun?«

»Ach ja, ich muss Ihnen noch was erzählen«, sagte Halders. »Wir sind einem Laster gefolgt, der diesen voll gestopften Speicher in Hisingen verlassen hat. Der ist durch die ganze Stadt zur Fastlagsgatan in Kortedala gefahren und hat vorm Hauseingang Nummer fünf gehalten, und raten Sie mal, wer kurz danach kam und sich mit dem Fahrer unterhielt?«

»Keine Ahnung«, sagte Lindsten.

»Sie!«, sagte Halders.

»Das überrascht mich aber wirklich«, sagte Lindsten.

»Und dann noch was«, sagte Halders. »Der Laster ist mit gestohlenen Autokennzeichen gefahren.«

»Woher wissen Sie das?«

»Wie bitte?«

»Vielleicht war der Laster gestohlen?«, sagte Lindsten.

»Und die Kennzeichen waren nicht gestohlen, meinen Sie?« Halders warf Aneta einen schnellen Blick von der Seite zu. »Meinen Sie das?«

»Es war nur so eine Idee.« Lindsten zuckte mit den Schultern. »Wer war das denn?«

»Wer?«, fragte Halders.

»Die Jungs im Laster«, sagte Lindsten.

»Wer hat denn gesagt, dass es mehr als einer waren?«, sagte Halders.

»Ich war doch dort, oder?« Lindsten lächelte ein Lächeln, das man verschlagen nennen musste, dachte Aneta Djanali.

»Und ich war dort. Ich erinnere mich, dass ein Laster vor dem Eingang parkte, als ich kam, und ich habe denen gesagt, da können sie nicht stehen bleiben, und dann fragten sie nach einem Weg und fuhren weg.« Er zog zweimal Luft durch die Nase ein. »Ich weiß nicht, ob Ihr Zeuge gehört hat, was gesprochen wurde, aber wenn er es gehört hat, dann kann er es bestätigen.«

»Die haben auf Sie gewartet«, sagte Halders.

Lindsten machte eine Bewegung, die vielleicht Genervtsein ausdrücken sollte angesichts des Schwachsinnigen, der ihm gegenübersaß.

»Ich will Ihnen noch was erzählen«, sagte Halders.

»Warum muss ich mir das alles anhören?«, fragte Lindsten.

»In einem der Speicher in Hisingen fanden wir die gesamte Einrichtung von Anettes Wohnung in Kortedala, jedenfalls glauben wir, dass es ihre Einrichtung ist«, sagte Halders. »Wir haben die Aufstellung genau mit dem Bestand verglichen. Wir sind dort gewesen. Und es gibt ein paar gerahmte Fotos.«

»Das sind ja gute Neuigkeiten«, sagte Lindsten. »Bin ich deswegen hier? Um die Sachen zu identifizieren?«

»In dem Speicher herrschte ein ziemliches Durcheinander, aber Anettes Sachen standen säuberlich gestapelt für sich hinter besonderen Schirmen. Alles war sehr ordentlich, was die Einrichtung Ihrer Tochter angeht.«

»Besten Dank«, sagte Lindsten.

»Warum war das so, was meinen Sie?«, fragte Halders.

»Keine Ahnung«, antwortete Lindsten. »Ich bin bloß froh, dass die Sachen anscheinend wieder aufgetaucht sind.«

Lindsten saß in einem Streifenwagen, der in Richtung Abfahrt Branting fuhr. Aneta Djanali und Halders folgten.

Lindsten identifizierte die Sachen als Anettes Eigentum. Er unterschrieb einige Papiere.

Sie winkten ihm zum Abschied von der Rampe aus nach.

Drinnen sah es aus wie in einem Hangar mit Gegenständen und Möbeln und Kücheneinrichtungen und dem Teufel und seiner Großmutter.

»Das ist mehr, als ich geglaubt hab«, sagte Aneta Djanali.

»Dies ist nicht der einzige Speicher, in dem es so aussieht«, antwortete Halders.

»Himmel.«

»Aber irgendwas ist hier, das ich nicht begreife«, fügte Halders hinzu.

»Ich auch nicht«, sagte Aneta Djanali.

»Lindstens Tochter wird von ihrem Mann bedroht und misshandelt. Die Nachbarn schlagen Alarm. Sie will bekanntermaßen leider keine Anzeige erstatten. Sie flieht ins Elternhaus. Ihre Wohnung wird ausgeräumt unter Aufsicht von Kriminalinspektorin Djanal.«

»Please«, unterbrach Aneta ihn.

». Djanali, und diese Wohnung wird untervermietet, ausgerechnet an Moa Ringmar. Sie zieht ein und zieht genauso schnell wieder aus, als sie die Geschichte der Wohnung erfährt. Gleichzeitig ist Göteborgs Finest mit einer großen Operation beschäftigt, um eine gigantische Diebesorganisation mit einem Lager, das die Klasse von Ikea hat, in Hisingen zu knacken. Von dort fährt ein Laster weg, vielleicht mit einem Auftrag, er fährt geradewegs zu Anettes Wohnung, aber bevor jemand das Haus betritt, kommt Sigge Lindsten heraus und bläst das Ganze ab.«

»Was hat er wohl abgeblasen?«, fragte Aneta Djanali.

»Das frage ich mich auch«, sagte Halders. »Man könnte meinen, die Wohnung sollte wieder ausgeräumt werden. Aber die Jungs im Laster wussten nicht, dass sie schon leer war. Schließlich erzählt jemand Lindsten, dass sie auf dem Weg dorthin sind, und er taucht auf und erklärt die Lage, und die Diebe hauen wieder ab.«

»Er hätte doch bloß anzurufen brauchen«, sagte Aneta.

»Vielleicht hat er es nicht gewagt.«

»War er schon so misstrauisch? Gegen uns?«

»Er ist nicht dumm«, sagte Halders. »Und er hat wohl nicht geahnt, dass Bergenhem den Laster beschattete.«

»Dann vermietet Lindsten also an Leute und lässt ihnen hinterher die ganze Wohnung ausräumen.«

»Ja.«

»Warum nicht«, sagte Aneta Djanali.

»Das haben wir doch geglaubt, als wir ihn einbestellt haben, oder?«

»Und andere machen es genauso?«, sagte Aneta Djanali.

»Ja, oder haben als Ausräumer gute Kontakte zu den Vermietern.«

»Mhm.«

»Dann ist da ja noch die andere Frage, warum er die Einrichtung seiner eigenen Tochter gestohlen hat.«

Aneta Djanali dachte nach. Sie dachte an die kurze Begegnung mit Anette Lindsten, an Hans Forsblad, seine Schwester, die genauso verrückt wie ihr Bruder wirkte. An Sigge Lindsten, an Frau Lindsten, an all diese Menschen, die jeder für sich bedrohlich wirkten, nein, nicht bedrohlich, merkwürdig . ausweichend . wie Schatten ... die sich in ihre Lügen verwickelten. Sie lösten sich auf, wurden zu anderen, wurden andere. Sie sah wieder Anettes Gesicht. Der gebrochene Kiefer, der wieder geheilt war, aber nicht mehr wie früher aussah, nie mehr so aussehen würde. Die Augen. Eine nervöse Hand, die in die Haare fuhr. Ein Leben, das gewissermaßen vorbei war.

»Eine Warnung«, sagte Aneta Djanali.

»Wollte er seine Tochter warnen?«, sagte Halders.

»Eine Warnung«, wiederholte Aneta Djanali und nickte vor sich hin. Sie sah Halders an. »Oder eine Strafe.«

»Strafe? Wofür?«

»Ich weiß nicht, ob ich es zu denken wage«, sagte Aneta Djanali. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. »Es hat etwas mit Forsblad zu tun. Und seiner Schwester.« Sie packte Halders am Jackettärmel. »Mit ihnen hat das was zu tun. Aber nicht so, wie wir glauben.«

Halders ließ sie reden.

»Es ist nicht so, wie wir glauben«, wiederholte sie. »Sie spielen . ein Spiel. Oder verschweigen etwas, das wir nicht wissen sollen . oder haben nur Angst. Jemand oder mehrere haben Angst.«

»Ich sag's noch mal«, sagte Halders, »irgendwas ist hier, was ich nicht begreife.«

Wir sollen es vielleicht nicht wissen!, dachte sie, plötzlich ganz stark. Wir sollten es nicht wissen! Wir sollten die Sache fAllen lassen wie heiße Kartoffeln. Fredrik hatte vielleicht Recht, als er das vor langer Zeit sagte. Vielleicht ist es gefährlich, sehr gefährlich, für uns, für mich.

Für mich.

»Sie hat ihrem Vater also etwas getan, wofür er sie bestrafen muss?« Halders kratzte sich am Hinterkopf. »Er klaut die Möbel?« Er sah Aneta Djanali an. »Es könnte ja auch so sein, dass der Speicher in Hisingen bis auf weiteres ein perfekter Aufbewahrungsplatz ist. Lindsten hatte die Mannschaft und das Fahrzeug, und Anette wollte so schnell raus aus der Wohnung, also hat der Herr Papa seine Diebe hingeschickt, um den Klumpatsch zu holen und in den Speicher zu bringen, wo sie alles säuberlich aufgestellt haben. Vergiss nicht, dass die Einrichtung ordentlich hinter Schirmen steht. Alle anderen Sachen waren ein einziges Durcheinander.«

»Was meinst du, ob Anette davon weiß? Dem Speicher? Und dem Diebesgut? Von diesem munteren Verkehr?«

»Keine Ahnung«, sagte Halders. »Aber sie muss sich ja fragen, wo die Sachen geblieben sind.«

»Wenn sie es weiß, ist das ein weiterer Grund, den Mund zu halten«, sagte Aneta Djanali. »Sie traut sich nichts anderes.«

Abends ließ sie ein heißes Bad ein. Das Wassergeräusch brauste durch die ganze Wohnung. Sie ging ins Badezimmer und ließ ein Kleidungsstück nach dem anderen hinter sich fAllen. Immer hatte sie alles hinter sich fAllen lassen, und ihre Mutter hatte die Sachen aufgehoben.

Jetzt hob Fredrik sie auf.

»HerrimHimmel«, konnte er sagen, wenn Kleidungsstücke von der Tür bis zum Bad verstreut lagen.

Das erste Mal, als er den ganzen Weg verfolgte, hatte sie ihn in die halb volle Badewanne heruntergezogen, bevor er auch nur ein Stück ausgezogen hatte.

Das war gut gewesen.

Sie warf die Unterhose in den Wäschekorb neben der Waschmaschine, stieg vorsichtig in die Wanne und stellte den Hahn ab. Sie senkte sich sehr langsam ins heiße Wasser, einen Millimeter, zwei, drei und so weiter.

Das Wasser reichte ihr bis übers Kinn. Überall war Schaum. Es kühlte ab, aber sie wollte liegen bleiben. In der Wohnung war es still. Keine Schritte in der Wohnung über ihr, das kam selten vor. Kein KnAllen der Fahrstuhltür im Treppenhaus, das war auch selten. Kein Verkehrslärm, den konnte man hier drinnen nicht hören. Sie hörte nur die vertrauten Geräusche ihrer eigenen Wohnung, der Kühlschrank in der Küche, die Tiefkühlbox, irgendein anderes Surren. Sie hatte nie herausbekommen, woher es kam, hatte es aber längst akzeptiert, der Wasserhahn, der laaangsam hinter ihrem Nacken tropfte.

Sie hörte ein Geräusch.

Das Geräusch kannte sie nicht.

Macdonald fuhr nordwärts auf der High Street. Sie kamen an vielen Geschäften und Cafes vorbei. Hier gibt es eine Nahversorgung, die in Schweden längst zerschlagen worden ist, dachte Winter. Vielleicht sind die Menschen hier ärmer, aber nicht in dieser Hinsicht.

Macdonald hielt vor einem der dunklen Steinhäuser. Über der Tür hing ein Schild: The Forres Gazette -Forres, Elgin, Narin.

Sie gingen hinein und warteten.

»Awful long time no see, Steve«, sagte der Mann, der sie empfing. Er versetzte Macdonald einen Faustschlag auf die Schulter.

Macdonald zuckte zurück und stellte Winter vor, der sicherheitshalber rasch seine Hand ausstreckte.

»Duncan Mackay«, sagte der Mann, der älter wirkte, aber so alt war wie Steve. Er hatte im Auto von seinem Klassenkameraden erzählt.

Mackays Haare waren kohlrabenschwarz und schulterlang. Unter den Augen hatte er Ringe. Er führte sie hinter einen hölzernen Tresen. Sie setzten sich auf zwei Stühle vor Mackays Schreibtisch, der in komischem Kontrast zu Kommissar Craigs Schreibtisch in Inverness stand. Sie konnten den Redakteur hinter den Papierstapeln kaum sehen. Und trotzdem ragte er darüber hinaus.

»Kaffee, Bier, Whisky?«, fragte Mackay. »Ciaret? Marihuana?«

Macdonald sah Winter an.

»Nein danke«, sagte Winter und zeigte auf das Päckchen Corps, das er hervorgenommen hatte. »Ich hab was zu rauchen dabei.«

Mackay hatte eine brennende Zigarette im Mund.

Macdonald schüttelte den Kopf.

»Wir haben eben Lorraine getroffen«, sagte er, als Mackay sich gesetzt und den Stuhl etwas seitwärts gerollt hatte.

»Steve the Heartbreaker Macdonald«, sagte Mackay.

»Sie hat lange Zeit gebraucht.« Er wandte sich an Winter.

»Darüber wegzukommen.«

»Sie hat von Robbie erzählt.«

»Ja, ein Scheißkerl.«

»Er ist offenbar verschwunden.«

»Der taucht wieder auf«, sagte Mackay. »Leider.«

Sie schwiegen einige Sekunden, wie um über die Schicksale von Menschen nachzudenken. Der Raum lag im Halbschatten.

Mackay stand auf und suchte oben auf dem Papierhaufen herum. Er hielt ein Blatt gegen das Licht vom Fenster.

»Ich hab die Lokalredakteure gebeten, sich umzuhören, aber niemand hat diesen Mann Oswald gesehen«, sagte er.

»Axel Oswald, nicht? Da war ja auch eine Suchmeldung und klar, haben wir schon da recherchiert . ein Ausländer, der sich in Moray verläuft . aber . keine Spur von dem Mann.«

»Okay«, sagte Macdonald.

»Deine Kollegen in Ramnee haben auch nichts gesehen oder gehört«, sagte Mackay.

»Ich weiß. Ich hab sie vor ein paar Tagen angerufen.«

»Bist du dort gewesen?«

»Noch nicht.«

Mackay las wieder auf seinem Blatt.

»Da ist nur eins.«

»Ja?«

»Billy von der Redaktion in Elgin hat für eine Reportage über die neuen düsteren Zahlen der Fischindustrie Leute oben in Buckie interviewt. Das war vor der Suchmeldung.«

Mackay sah auf. »Billy ist ein bisschen träge, aber gut. Aber träge. Okay, er hat auch mit ein paar vergessenen alten Leuten von der Werft gesprochen. Er hatte sein Auto in einer der kleinen Gassen gegenüber geparkt, und als er zurückkam und nach Hause fahren wollte, sah er einen Corolla in derselben Gasse. Der hatte da schon gestanden, als er kam. Metallicgrün.«

»Hat er sich das Kennzeichen notiert?«

»Nee, warum sollte er? In dem Moment hat er sich dabei ja nichts gedacht. Erst, als die Suchmeldung kam, ist ihm das wieder eingefAllen. Nein. Da nicht. Erst gestern, als ich mich bei ihm gemeldet habe. Und nicht mal da, übrigens. Er hat heute Vormittag angerufen und gesagt, dass er das Auto gesehen hat.«

»Ist er seiner Sache sicher?«

»Er kennt sich ganz gut mit Automarken aus. Und das war offenbar ein neues Auto, das konnte er erkennen. Ein neues Auto in Buckie . tja, das ist nicht oft zu sehen. Jedenfalls nicht in der Gegend.«