7

Es dauerte einige Sekunden, bevor sie begriff. Niemand hatte sie berührt. Die Dunkelheit war ein Teil des Raumes, vom Flur.

Er hatte zwei Türen geschlossen, ein Geräusch, das sie nicht gehört hatte. Plötzlich war das Licht erloschen, als die Türen zuschlugen. Sie hörte ihn auf der anderen Seite der Schlafzimmertür. Es war kein angenehmes Geräusch. Sie spürte die SigSauer an ihrem Gürtel, an der Hüfte, eine Sicherheit.

Er hatte hier nichts zu suchen. So war das Gesetz, und das war auf ihrer Seite, es stand hier neben ihr im schwarzen Talar und mit weißer Perücke, einen Reichsapfel in der Hand.

Ein fetter Schatten.

Am liebsten wäre sie umgekehrt, schnell, aus dem Haus gestürmt.

Die Probleme dieser Menschen waren nicht die ihren. Und das Problem existierte gar nicht mehr. Die beiden hatten sich scheiden lassen und gingen getrennte Wege, oder Pfade, ins Land des Glücks. Irgendwo gab es das Glück, vielleicht überall, wie ein Versprechen an jedermann: Hier ist das Gras grüner, der Himmel blauer.

Jetzt hörte sie einen Schrei von dort drinnen. Er schlug gegen die Tür, einmal, zweimal, dreimal. Bald würde die Axt durch die Furnierholzspäne ragen. Dahinter würde etwas auftauchen, das Jack Nicholsons irrem Gesicht gleichen konnte. Aber hier gab es niemanden, der »Cut it!« schrie.

Höchstens sie.

Er öffnete die Tür, wilde Augen, glänzend, ein leerer Blick.

»Wer sind Sie?«

»Polizistin«, sagte sie und hielt ihm ihren Ausweis sichtbar hin.

»Po... Polizistin? Was machen Sie hier?«

»Was machen Sie hier? Das ist nicht Ihre Wohnung.«

»Mei. meine Wohnung? Zum Teufel, ich hab hier gewohnt. Hier hab ich GEWOHNT!«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Aneta Djanali. »Ich muss Sie bitten, die Wohnung zu verlassen.«

Ja, dachte sie, so mach ich es. Sonst könnte es eine schmutzige Angelegenheit werden. Unangenehm.

»Ich denk nicht dran«, sagte Hans Forsblad.

»Wollen Sie mitkommen?«, fragte sie. »Ich kann Sie mitnehmen.«

»SIE?!« Er versuchte zu lachen, aber der Versuch misslang. »Wie wollen Sie das denn schaffen?« Er machte einen Schritt auf sie zu.

»BLEIBEN SIE STEHEN!«, rief Aneta Djanali. Die Waffe war in ihrer Hand, der Arm ausgestreckt. Nein. Aber sie war kurz davor.

»Sind Sie verrückt?«, sagte er.

Er war jetzt nahe bei ihr, türmte sich über ihr auf wie ein Schatten, der größer war als der Schatten des Gesetzes, der nicht zu sehen war. Das Einzige, was man sah, war die verdammte Pistole, die sie hatte ziehen müssen. Oder auch nicht müssen. Sie hoffte, er könnte nicht sehen, dass sie in ihrer Hand zitterte.

Sie wartete auf seinen nächsten Schritt. Lieber Gott, zaubre mich hier weg. Ich will nicht auf diesen Kerl schießen. Für die nachträgliche Ermittlung hab ich keine Zeit. Er hat keine Zeit. Die Krankenpfleger haben keine Zeit. Nur die Beerdigungsbranche hat Zeit, ewig Zeit.

Sie zielte auf ihn.

Er setzte sich auf den Fußboden, fiel einfach zusammen. Er weinte.

Es war ein lautes Geräusch, genau so ein Geräusch, wie sie es eben durch die Tür gehört hatte. Er hob den Kopf. Es waren echte Tränen. Das Gesicht war nackt, das Haar wie eine schlecht sitzende Perücke. Jetzt sah sie, dass er einen Anzug trug, teuer, wie es schien, Markenklamotten, die zerknittert noch exklusiver wirkten.

Er putzte sich die Nase mit einem Taschentuch, das aus der Brusttasche herausragte. Nicht mal das fehlt, dachte sie.

»Sie wissen nicht, was das für ein Gefühl ist«, sagte er. »Sie wissen nicht, wie das ist.«

Aneta Djanali hatte die SigSauer gesenkt, aber nicht ins Holster zurückgesteckt.

»Was?«, fragte sie.

»Aus seiner eigenen Wohnung ausgesperrt zu werden«, sagte er und schluchzte, »von seinem EIGENEN

ZUHAUSE.«

»Sie wohnen hier schon lange nicht mehr«, sagte sie. »Wer behauptet das?« Sie antwortete nicht.

»Die sind das.« Er starrte auf die Tür hinter ihr. »Die behaupten das. Aber die wissen nichts.«

»Wer sind die?«, fragte sie.

»Das wissen Sie bestimmt.«

Sie steckte die Waffe weg. Er verfolgte ihre Bewegung mit den Augen. »Dann bin ich also nicht mehr festgenommen?« »Stehen Sie auf«, sagte sie. »Sie wissen nicht, wie das ist«, wiederholte er. Jetzt stand er auf, schwankte. »Kann ich gehen?«

»Wie sind Sie reingekommen?«, fragte sie.

Er hielt einen Schlüssel hoch.

»Das Schloss ist ausgetauscht«, sagte sie.

»Deswegen hab ich ja diesen Schlüssel«, sagte er und ließ ihn an seiner Hand baumeln. Die Tränen waren verschwunden.

»Wie sind Sie daran gekommen?«, fragte sie.

»Das können Sie sich doch denken«, sagte er. Plötzlich war er gewachsen. Jetzt war er ein anderer.

Das Ganze ist zu unheimlich, dachte sie. Ich sehe, wie er sich unter meinen Augen verändert.

»Sie hat ihn mir natürlich gegeben«, sagte er. »Kann ich jetzt gehen?«

Er drehte sich um, ging ins Zimmer und kam unmittelbar darauf zurück mit einer Aktentasche, die teuer aussah, teuer wie sein Anzug.

»Die brauch ich«, sagte er.

»Geben Sie mir den Schlüssel«, sagte sie.

»Sie hat ihn mir geliehen«, sagte er. Seine Stimme klang trotzig wie die eines Kindes. Er zog eine enttäuschte Grimasse. Der Kerl ist total durchgeknallt, dachte sie. Gefährlich, sehr gefährlich.

Er sah sie von unten her an. Jetzt lächelte er. Er warf ihr den Schlüssel quer durchs Zimmer zu. Sie fing ihn nicht auf, er landete auf dem Fußboden neben ihr.

Er klemmte sich die Aktentasche unter den Arm.

»Kann ich jetzt gehen? Ich hab zu tun.« Er hielt die Aktentasche hoch. »Darum bin ich hergekommen. Ich brauch sie für meine Arbeit.«

Geh, geh bloß, dachte sie. Sie machte einen Schritt beiseite und stellte sich an die Wand.

»Nett, Sie zu treffen«, sagte er und verbeugte sich. Er ging durch die Tür, und sie stand still da und hörte ihn etwas vor sich hin murmeln, während der Fahrstuhl quietschend heraufgefahren kam. Er stieg ein, der Fahrstuhl rasselte davon, und sie spürte ihren schweißnassen Rücken, Schweiß überall, zwischen den Brüsten, in den Leisten, an den Händen. Sie wusste, dass etwas Grauenhaftes sehr nah gewesen war. Sie wusste, dass sie nie mehr mit diesem Mann allein in einem Zimmer sein wollte.

Plötzlich verstand sie die Frau, Anette Lindsten, während sie sie gleichzeitig noch weniger verstand als vorher. Sie verstand das Schweigen. Und die Flucht. Alles andere verstand sie überhaupt nicht.

Sie schloss die Wohnungstür hinter sich.

Als sie nach draußen kam, waren die Wolken heller geworden und hatten verschiedene Nuancen von Braun angenommen. Die Häuser sahen aus, als wollten sie abheben wie ein Raumschiff aus Stein und durch den Lederhimmel davonsegeln, in eine bessere Welt.

Die Routine begann wieder, unerbittlich in ihrer Gleichgültigkeit angesichts menschlichen Unglücks. Was wäre sonst möglich gewesen, dachte er an seinem Schreibtisch. Dieser Schreibtisch, beladen mit Papieren und Fotos und schwer von Blut. Ja. Schwer von Blut.

Abgenutzt von Ellenbogen, Gedanken, Gemurmel, Ausbrüchen, Abbrüchen. Einbrüchen. Einmal war in sein Zimmer eingebrochen worden. Der Dieb hatte sich vom Untersuchungsgefängnis heruntergelassen und war durch das offene Fenster eingestiegen. Er hatte den Panasonic geklaut und war draußen auf dem Korridor geschnappt worden, klar. Aber das war ein Ding! Winter hatte seinen Hut gelüftet. Der Kerl sitzt wegen Diebstahlverdacht in Untersuchungshaft und bricht gleich wieder in das Unaufbrechbare ein und begeht einen neuen Diebstahl! Im Polizeipräsidium! Touche! Er war im südöstlichen Gangstersumpf der Stadt ein Vorbild gewesen, dort, wo selbst die Sonne selten zu sehen war.

Südosten. Er dachte an das südöstliche London, unterhalb von Brixton. Croydon. Und oberhalb: Bermondsey, Charlton, lichtscheue Gegenden südöstlich des Flusses. Millwall, die von Gott vergessene Fußballmannschaft. We are Millwall, no one likes us.

Der Kollege, der dort Mordfälle ermittelte. Und der alle gelöst hatte bis auf einen, und dies Misslingen ließ ihm keine Ruhe.

Sie waren gemeinsam in den Untergrund gegangen, dort, auf jenen Straßen, und dann auch hier, in Göteborg. Winter war nicht darüber hinweggekommen, würde nie darüber hinwegkommen. Er war immer noch ein Mensch, trotz aller Routine. Nein, im Gegenteil: Die Routine half ihm, seine Menschlichkeit zu bewahren.

Er sah auf die Uhr, hob den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer.

»Yeah, hello?«

»Steve? It's Erik here.«

»Well, well.«

»How 's it going?«

»Going, going, gone. Counting the days to my retirement.«

»Come on. You're still a young man«, sagte Winter.

»That's just wishful thinking, man.«

Winter lächelte. Macdonald bezog sich auf sein eigenes Alter, er war genauso alt wie der schottische Kommissar.

»Do you know that song, oh thou Erik the rock 'n' roll wizard!?«

»What song?«

»It's been a long, long time.«

»Sure. It's by Steve Macdonald and the Bad News.«

Winter hörte Macdonalds Lachen, es klang, wie wenn jemand mit einem Geigenbogen über einen Felsen strich.

»It's George Harrison. Heardthe name?«

»Actually I have. And he's really gone. I read about it in Angela's Mojo.«

»You read Mojo!?«

»I said it was Angela's.«

Macdonald schwieg einen Augenblick.

»Wenn ein Beatle die Welt verlässt, ist die Welt nicht mehr dieselbe«, sagte er dann.

»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst«, sagte Winter.

»Hast du so bei Coltrane gefühlt? Oder Miles Davis?«

»Irgendwie ja. Und wieder nicht. Wenn ich jetzt verstehe, was für ein Gefühl du hast.«

»Lassen wir das Thema?«, sagte Macdonald.

»Danke.«

»Ich hab von dem Fest gelesen, das ihr beim EU-Gipfel und mit George Bush gefeiert habt«, sagte Macdonald. »Das hat aber nicht in Mojo gestanden, allerdings in Allen Zeitungen.« Winter antwortete nicht.

»Ich muss sagen, ich bin erstaunt«, sagte Macdonald. »Worüber?« »Die Gewalt.« »Welche Gewalt?«

»Höre ich einen abwartenden Ton in deiner Stimme, Erik?«

»Ich meine, wie die Gewalt bei euch beschrieben wird. Es gab verdammt viel Gewalt, das streite ich nicht ab. Ich möchte nur wissen, welche Seite der Gewalt in britischen Zeitungen beschrieben wird.«

»Die von deiner Seite, Erik.«

»Das ist auch deine Seite«, sagte Winter und dachte an die Glasvitrine im Foyer des Polizeipräsidiums, an all die ausländischen Polizeimützen, die dort lagen, wie um die Bruderschaft der Polizei über die großen Meere hinweg zu illustrieren.

»Kiss my ass«, sagte Macdonald, »ich empfinde genauso viel Solidarität mit dem Polizeikorps wie Herr double-U Bush im Augenblick mit den Taliban.«

»Das ist aber nicht viel Solidarität«, sagte Winter.

»Dagegen würde ich immer meine Lanze für dich ziehen, Erik.«

»Das war eins der Probleme bei den GöteborgkrawAllen«, sagte Winter. Oder dem Göteborgsfest, dachte er. Die Kollegen aus Stockholm nannten die Ereignisse das Göteborgfest. »Das Problem war, dass wir keine Lanzen hatten.«

»Ihr scheint überhaupt nicht vorbereitet gewesen zu sein«, sagte Macdonald.

»Wie bei den Zusammenstößen in Brixton, oder?«, erwiderte Winter. »The Clash?«

»Touche«, sagte Macdonald.

»Aber jetzt könntest du vielleicht eine Lanze für mich ziehen«, sagte Winter, »bildlich ausgedrückt.«

»Lass hören.«

Winter erzählte von seinem Gespräch mit Johanna Osvald.

»Vielleicht ist es an der Zeit, eine Suchmeldung herauszugeben«, sagte Macdonald.

»Ich werde noch mal mit ihr reden«, sagte Winter.

»Wenn der Vater nicht bald wieder auftaucht, kann ich mich ja mal etwas umhören«, sagte Macdonald.

Winter wusste, dass Steve aus einer kleinen Stadt nicht weit entfernt von Inverness kam. Der Name fiel ihm im Augenblick nicht ein.

»Hast du je in Inverness gearbeitet, Steve?«

»Ja, sogar als Kriminalassistent. Ich bin vom Polizeirevier Forrest dorthin gekommen, das war der nächste größere Ort.«

»Wo liegt das noch?«

»Mein Zuhause? Ein kleines Wildwest-Loch, das Dallas heißt.«

Winter lachte.

»Es heißt wirklich so«, sagte Macdonald, »die Urmutter vom großen Dallas im großen Texas. Mein Dallas besteht aus einer Straße und einer Reihe Häuser zu beiden Seiten, das ist alles, abgesehen von den zwei Höfen am südlichen Abhang, wovon der eine uns gehört.«

Ja. Winter wusste, dass Macdonald Bauernsohn war.

»Leben deine Eltern noch?«

»Ja.«

Winter schwieg.

»Ich hab auch noch eine Schwester, die wohnt jetzt in Inverness«, sagte Macdonald.

»Das wusste ich nicht«, sagte Winter.

»Ich auch nicht bis vor einem halben Jahr«, sagte Macdonald. »Eilidh hat hier unten in the Smoke gewohnt, im einfacheren Teil von Hampstead, aber zwischen ihr und ihrem Mann ist was passiert, da ist sie zurückgekehrt und innerhalb von vierundzwanzig Stunden oder so ähnlich hat sie eine neue Kanzlei dort oben aufgemacht.«

»Neue Kanzlei?«

»Eilidh ist Juristin. Jetzt betreibt sie zusammen mit einer anderen Frau in ihrem Alter eine kleine Kanzlei, kein Strafrecht. Macduff & Macdonald, Solicitors. Das hat den Hof in Dallas stolz gemacht.«

»Stolzer als auf dich?«

»Jesus, Erik, auf mich ist noch nie im Leben jemand stolz gewesen.«

»Das ist gut«, sagte Winter.

»Aber Eilidh ist eine schottische Donna, die der Bewunderung würdig ist.«

»Wie alt ist sie?«, fragte Winter.

»Wieso?«, fragte Macdonald, und Winter meinte ein Lächeln zu hören.

»Ich habe aus Höflichkeit gefragt«, sagte Winter.

»Siebenunddreißig«, sagte Macdonald. »Fünf Jahre jünger als du und ich.«

»Mhm.«

»Und zehnmal schöner als du und ich.« »Das nenne ich schön«, sagte Winter.

»Aber ich glaube, uns kann sie in dieser Angelegenheit nicht helfen«, sagte Macdonald.

»Das hängt davon ab, was passiert ... Darf ich mich gegebenenfalls wieder bei dir melden und dich bitten, dass du dich bei den Kollegen dort oben umhörst?«

»Natürlich.«

»Gut.«

»Vielleicht sollte ich einen Abstecher machen und mich selbst informieren«, sagte Macdonald.

»Wie bitte?«

»Nee, ich hab nur laut gedacht. Aber eine kleine Abwechslung wäre gut. Was meinst du? Wollen wir uns in Inverness treffen und gemeinsam ein neues Rätsel lösen?«

Winter lachte.

»Was für ein Rätsel?«

Vier Tage später hätte er nicht mehr über Macdonalds Scherz gelacht, da es kein Scherz mehr war. Der Scherz war zu einem Rätsel geworden.

Aneta Djanali war wieder in ihrer kleinen Welt, einer besseren Welt. Sie trank in aller Stille ein Glas Wein. Es war Rotwein. Burkina Faso müsste ein gutes Weinland sein. Die Trauben waren groß und furchtbar süß. Dort gab es nichts, worauf sie wachsen konnten, sie wuchsen aber trotzdem. Nicht viele tranken Wein in dem teilweise muslimischen Burkina Faso. Vielleicht wurde deswegen kein Wein erzeugt. Außerdem konnte sich kaum jemand Wein leisten. Nur wenige hatten jemals eine Flasche Wein zu Gesicht bekommen. Eine hatte sie im Hotel in Ouagadougou gesehen, die Flasche wurde zu einer fetten, lauten französischen Familie getragen. Die Familie hatte mit aufgekrempelten Ärmeln Lamm und Couscous gegessen. Der Kellner hatte die Flasche getragen, als ob sie Nitroglyzerin enthalte.

Ihr Vater hatte ihr gegenübergesessen, und er hatte die Franzosen angesehen wie ein Afrikaner, der weiter als bis ans Ende der Zeit sieht. Der Vater war kein Europäer mehr gewesen, kein Schwede, all das war verschwunden, als er hierher zurückgekommen war, um nie mehr wegzugehen. Er praktizierte nicht mehr als Arzt. Willst du keine Praxis aufmachen?, hatte sie ihn gefragt. Es gibt doch nur dreihundert Ärzte im Land. Die Götter wissen, dass du gebraucht wirst. Welche von ihnen?, hatte er geantwortet, und sie hatte gewusst, dass es kein Scherz war. Als sie wieder nach Schweden zurückfuhr, wusste sie so viel mehr über ihren Vater und ihre Mutter. Ihr Vater hatte mehrere Götter. Die Anzahl der Moslems war nur eine Zahl in der Statistik. All die anderen Götter warteten dort draußen im Licht und in der Dunkelheit, an den drückend heißen Tagen und in den entsetzlich kalten Nächten. Ihr Vater sprach mit den Göttern, manchmal mit den Geistern, aber der Unterschied zwischen Göttern und Geistern schien beliebig.

Manche Geister waren stark und mächtig wie Löwen, die töten können.

Andere waren milder, unbestimmter, wie die Baumgeister.

Aber hinter allem stand immer der Gedanke Macht. Alles, dem wir begegnen, besitzt Macht, hatte ihr Vater gesagt. Ein Löwe, eine Schlange, der Blitz, ein Fluss. Alle können Menschen töten, und darum müssen sie von sehr starken Geistern bewohnt sein.

Das Meer kann Menschen töten, dachte sie jetzt plötzlich. Warum dachte sie das? An Burkina Faso grenzte kein Meer.

Ihr Vater hatte über die Sprache geredet. Die wichtigste Kunstform Afrikas war die Sprachkunst. Es gibt mehr als tausend Sprichwörter in jeder Sprache, hatte er gesagt.

Himmel, hatte sie auf dem Weg nach Hause im Flugzeug der Air France gedacht, woher komme ich? Woher komme ich? Wer bin ich?

Was wird aus mir?

Sie nahm einen kleinen Schluck Wein, der schwer war und nach Eiche und Leder duftete.

Was wird aus mir?

Ich bin über dreißig und schwarz wie die Tropennacht. Es gibt noch mehr wie mich in diesem weißen unschuldsvollen Land. Die Menschen sind weiß und der Boden ist weiß. Mama hätte mich gern mit einem netten Neger zusammen gesehen. Ein Weilchen hat sie das erleben dürfen, aber nicht lange. Jetzt interessiert mich das nicht mehr.

Sie dachte wieder an das Mittagessen im Speisesaal des Hotels, das letzte, das sie mit ihrem Vater zusammen eingenommen hatte. Das besondere koloniale Geklapper in dem großen Raum. Der Sand, der sich weigerte, den Raum zu verlassen, trotz energischer Bemühungen durch Personal und Gäste. Der Wind, der durch die Ritzen der gigantischen hölzernen Jalousien der lächerlich großen Fenster drang, lächerlich groß, da sie keinen Schutz boten.

Die Götter sollen wissen, dass DU gebraucht wirst, Aneta, hatte ihr Vater gesagt und sie mit einem Lächeln angeschaut, das nur seine Tochter sehen konnte. Tüchtige Polizisten sind wichtig für ein modernes Land. Gibt es in diesem Land nicht genügend Polizisten?, hatte sie geantwortet. Das sind keine richtigen Polizisten, hatte er geantwortet, und er wusste alles darüber und nichts. Es waren keine guten Polizisten. Eine richtige Gesellschaft braucht gute Polizisten, dann wird sie zu einer gütigen Gesellschaft.

Hatte er einen Scherz gemacht? So hatte es nicht geklungen. Was bedeutete es? In den letzten Jahren in Schweden, bevor er zurückkehrte, hatte er in Aphorismen und Rätseln gesprochen, als würde er etwas sehen, was niemand sah, oder sich an Dinge erinnern, an die sich niemand erinnerte. Sie hatte es faszinierend gefunden und gleichzeitig erschreckend. Ihre Mutter hatte es verrückt gefunden und ihm gar nicht mehr zugehört.

Eine richtige Gesellschaft braucht gute Polizisten, dann wird es eine gütige Gesellschaft. Das lass mal auf dich wirken, Aneta. Vielleicht sollte sie auf dem Polizeikongress einen Antrag stellen und vorschlagen, dass der Satz in Gold oder Silber graviert wird, vielleicht auf den Schirmmützen, auch auf denen, die im Polizeipräsidium ausgestellt werden: ein Satz, um den sich alle versammeln könnten, Güte. Dorthin streben wir alle, und die, die nicht danach streben, fangen wir in unseren Armen auf und tragen sie in eine bessere Welt.

Das ist unsere Aufgabe in diesem Erdendasein. Sie nahm wieder einen Schluck Wein. Damit trieb man keine Scherze, das war kein Grund, zynisch zu werden. Und dennoch sieht es gedruckt so verflixt albern aus und klingt noch schlimmer in der gesprochenen Rede. Güte wirkt gedruckt und gesprochen alberner als das Böse.

Das Böse, das bist du und das bin ich. So dachte sie jetzt. Es war ein wahrer Gedanke, und es war ihr eigener.

In der Nacht träumte sie von Türen, die geschlossen und nie wieder geöffnet wurden. Sie sah Gesichter, deren eine Hälfte lachte, während die andere Hälfte weinte. Die Gesichter wurden zu Ikonen. Jemand sprach zu ihr und sagte, dass sie sich auf niemanden verlassen konnte. Auch nicht auf dich?, fragte sie, weil sie sich so sicher fühlte in dem Traum.

Ihr Vater sagte ihr, in der Wüste gebe es Götter, die niemand kennt. Wie können sie dann Götter sein?, fragte sie. Das ließ ihn einen Moment verstummen.

Sie flog mit Air France über Kortedala hinweg und machte eine Zwischenlandung in Allen Jahreszeiten, ohne das Flugzeug zu verlassen.

Sie flog in eine Festung, die ein Häuserblock war.

Sie träumte all ihre Gedanken und Erlebnisse der letzten vierundzwanzig Stunden, und sie begriff alles, während sie noch träumte, als ob sie gleichzeitig ihre Träume von außen analysierte.

Dann träumte sie etwas, das sie nicht verstand, und wurde von ihrem eigenen Schreien wach.