22
Am Anfang war es so gut«, sagte Signe Lindsten. Etwas geschah in ihrem Gesicht, als sie das sagte. Als ob die Erinnerung ihre Gesichtszüge erhellte, als ob gute Erinnerungen Gesichter glätten könnten. Erst kommt Sonne, dann kommt Regen und der ganze Scheiß. Jede Wolke hat einen silbernen Rand. Aneta Djanali konnte draußen keine derartigen Wolken entdecken, da die Bucht, die Felsen, der Strand und das Ufer mit Wolken bedeckt waren, nirgends ein silberner Rand, nur hier und da das Blitzen von Licht inmitten der Steinmassen.
»Er hat so einen netten Eindruck gemacht«, sagte Signe Lindsten.
Ich hasse dieses Wort, dachte Aneta Djanali. Nett. Es bedeutet überhaupt nichts. Es ist ein falsches Wort. Man sieht ja, wie es hier ausgegangen ist.
»So fängt es immer an«, sagte Aneta Djanali.
»Ich hab ein Hochzeitsfoto«, sagte Signe Lindsten. »Aber nicht hier.«
»Hat Anette noch Geschwister?«
»Nein.«
Sie dachte an den Mann, der behauptet hatte, Anettes Bruder zu sein. Einer der Diebe. Wer war er? Und sein »Vater«? Ich habe diese Mutter noch nicht gefragt.
Sie beschrieb ihr das Aussehen der Männer, und Signe Lindsten sagte: »Was um alles in der Welt...«
»Hat Ihnen Ihr Mann nicht davon erzählt?«
»Nein.«
»Erstaunt Sie das nicht?«
»Doch . aber er wollte mich wohl nicht beunruhigen.« »Hat er es Anette erzählt?«
»Wie soll ich das wissen? Dann hätte ich es doch wohl auch gewusst?«
Gut. Sie macht mit.
»Haben Sie Verletzungen an Anette bemerkt?«
Signe Lindsten antwortete nicht. Jetzt wird's schwer, dachte Aneta Djanali, etwas Unbestimmtes. Über Bedrohung kann sie vage reden, aber nicht über das Konkrete, noch nicht. So ist es fast immer. Das wundert mich kaum noch. Die Angst der Frau wird auf die Familie verlagert. Plötzlich halten sie in der Angst zusammen. Lassen niemanden herein.
Der Einzige, der eingelassen wird, ist der Verursacher der Angst. Das ist das Paradoxe. Es bleibt immer eine Hoffnung, dass es besser wird und die Angst vergeht, und der Einzige, der diesen Zustand beenden kann, ist ER, er, der anfangs so verdammt nett war. Er muss nur noch ein einziges Mal diese Chance bekommen, und manchmal bekommt er sie, und danach kann alles zu Ende sein.
Dann bleibt vielleicht nur noch der Tod. Sie hatte ihn gesehen. Ich habe gesehen, wohin die letzte Chance führen kann. Manchmal ist nicht einmal eine letzte Chance nötig. Sie sah Signe Lindstens gequältes Gesicht, und das Gesicht sagte ihr, dies hier wird ein Ende nehmen, aber kein gutes Ende.
Weg mit dem Gedanken. Es muss eine Lösung geben. Schließlich stehe ich hier, oder?
»Sie brauchen keine Angst zu haben, Frau Lindsten.«
Der Herr segne und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir. Der Herr sei dir gnädig. Braucht sie Gnade, die Frau vor ihr? Welche Art Gnade?
Die Gnade des Herrn? Aneta Djanali dachte plötzlich an ihren Vater. Der Mann mit den vielen Göttern. Hatte sie ihn nach dem Begriff von Gnade in seiner Welt gefragt? Sie würde ihn anrufen und versuchen über diese schlechte Telefonverbindung ins Innere Afrikas mit ihm zu reden. Bald war das Satellitentelefon die einzige Lösung, das Einzige, was noch funktionierte im schwarzen Afrika. Klau eins vom Lager, hatte Fredrik gesagt.
Signe Lindsten wollte gerade etwas sagen, als sie draußen ein Auto hörten. Aneta Djanali sah, dass die Frau das Geräusch kannte. Es veränderte nicht viel in ihrem Gesicht. Der Ausdruck blieb, als sie die Stimme des Mannes im Flur hörten.
Ihr Gesicht hellte sich nicht auf. Er brachte ihr Gesicht nicht zum Leuchten.
Er kam in die Küche.
»Ach, hier seid ihr.«
Aneta Djanali nickte.
»Wir haben uns offenbar verpasst«, sagte Sigge Lindsten.
»Sie haben mich angerufen, aber Sie waren nicht da, als ich kam«, sagte Aneta Djanali.
»Nein, so war das wohl«, sagte Lindsten, und das war vielleicht als Entschuldigung gemeint.
»Haben Sie Anette mitgebracht?«, fragte Aneta Djanali.
»Nein.«
»Sie haben gesagt, sie sei hier, aber hier ist sie nicht.«
»Hab ich das gesagt . ja . sie wollte doch lieber zu Hause bleiben.«
»Zu Hause? In Ihrem Haus in Göteborg?«
»Das ist jetzt ihr Zuhause.«
»Ich möchte mit ihr sprechen«, sagte Aneta Djanali.
»Das soll sie selber entscheiden«, sagte Sigge Lindsten.
»Wenigstens deswegen will ich Kontakt zu ihr aufnehmen.«
»Sie können ja versuchen, Sie anzurufen«, sagte Lindsten.
Aneta Djanali sah, dass seine Frau etwas sagen wollte, dann jedoch verstummte und hinaus in den Flur ging. Ihr Mann nickte ihr zu. Niemand von ihnen sagte etwas.
Es war eine Art Schauspiel.
»Ich glaube, wir haben jetzt keine Probleme mehr«, sagte Sigge Lindsten.
»Sie können Anzeige erstatten«, sagte Aneta Djanali.
»Das ist nicht nötig.«
»Wir könnten den Tatort untersuchen«, sagte Aneta Djanali.
»Wo?«
Möglichst nicht die Villa in Fredriksdal, dachte sie. Das würde bedeuten, dass ein neues Verbrechen begangen wurde.
»Die Wohnung in Kortedala«, sagte sie.
»Dort gibt es doch nichts zu untersuchen. Nicht mehr.«
»Eigentlich hatte ich den Eindruck, als wollten Sie mit uns zusammenarbeiten«, sagte Aneta Djanali.
»Ich glaub, wir bekommen jetzt keine Probleme mehr«, wiederholte Sigge Lindsten.
Moa Ringmar ließ einen Stiefel fAllen und noch einen. Ihr Vater war in der Küche und deckte den Abendbrottisch mit Brot, Butter, Käse, Mettwurst und Gurke.
»Man kann die Stiefel auch hinstellen«, sagte er.
»Nun hab dich nicht so, Papa.«
»Wenn man den einen auf den Fußboden fAllen hört, hat man keine Ruhe, bevor man nicht auch den anderen fAllen hört«, sagte er.
»Aber du hast es doch gerade gehört«, sagte sie.
»Ich denke mehr daran, wie das ist, wenn man in einem Hotelzimmer sitzt und die Gäste über sich hört.«
»Und wie oft passiert dir das?«
»Noch nie«, sagte er.
Sie lachte und fragte, ob er schon lange zu Hause sei. Sie hobelte sich eine Scheibe Käse ab und steckte sie in den Mund.
»Lange genug, um die Gartenkunst unseres Nachbarn zu bewundern«, sagte er.
»Mensch, guck doch gar nicht mehr hin, Papa.«
»Aber er lebt doch, oder?«
Sie setzte sich.
»Ich hab eine Wohnung in Aussicht.« »Halleluja.«
»Ich hab gewusst, dass du traurig sein würdest.«
»Ja. Aber ich will deinem Glück nicht im Wege stehen.«
»Es ist nicht normal, wenn Kinder noch mit fünfundzwanzig zu Hause wohnen«, sagt Moa Ringmar.
»Das ist doch nur vorübergehend«, antwortete Ringmar.
»Eigentlich haben wir dich schon vor vier Jahren abgeschrieben.«
»Ein Glück, dass Mama das nicht gehört hat.«
»Du hast doch kein Abhörgerät bei dir?«, sagte Ringmar.
»Benutzt ihr so was im Dienst?«
»Nein«, log Ringmar. »Das ist ungesetzlich.«
»Sagst du jetzt die Wahrheit?«
»Ja«, log Ringmar. Er löffelte Teeblätter in den Einsatz der Kanne, goss Wasser darauf und stellte die Kanne auf den Tisch. »Was ist es für eine Wohnung?«
»Zweieinhalb Zimmer. Ganz gute Lage, wenn auch nicht die beste.«
»Welches ist die beste Lage?«, fragte Ringmar. »Ich würde sagen . Vasastan.«
»Vasastan? Da ist doch am Wochenende der Teufel los. Und den ganzen Sommer über. Nee, vielen Dank.«
»Erik wohnt dort. Hat er sich schon mal über den Teufel vor seiner Tür beklagt?«
»Jeden Tag.«
»Das glaub ich dir nicht.«
»Erik Winter wohnt so hoch oben zwischen den Wolken, dass er nicht unter der Hölle da unten leidet«, sagte Ringmar.
»Davon rede ich doch«, sagte Moa Ringmar. »Unter den Wolken im siebten Stock.«
»Wo liegt diese Wohnung?«
»In Kortedala.«
»Kortedala?«
»Besser als Vasastan, wie?«
»Ich bin sprachlos«, sagte Ringmar.
»Es reicht, wenn du halleluja sagst.«
»Kortedala.« Ringmar schüttelte den Kopf.
»Ich zieh nicht in die South Bronx oder so was.«
»Martin ist auf dem Weg in die Bronx«, sagte Ringmar.
»Aber er hat sich für die Lower East Side entschieden.«
Ringmar nickte.
»Das war früher der schlimmste Distrikt von Manhattan«, sagte Moa Ringmar.
»Früher, ja. Jetzt wohnen da nur Kreative.«
»Wie unser Nachbar?«
»Ich würde seinen Auszug sponsern«, sagte Ringmar.
»Dann sponsre lieber meinen«, sagte Moa.
»Ist dir das ernst mit Kortedala, Moa?«
»Weißt du, wie schwer es ist, in Göteborg eine Wohnung zu finden? Weißt du, wie lange ich gesucht habe?«
»Ja, ja.«
»Dann hast du auch eine Antwort auf deine Frage.«
»Wo liegt denn das Nest? Kortedala ist ziemlich groß.«
Sie nannte die Adresse. Die sagte ihm nichts.
»Du hast dich hoffentlich vergewissert, dass die den Schuppen nicht nächste Woche abreißen wollen?«, sagte er.
Sie lachten beide.
»Wie bist du daran gekommen?«, fragte Ringmar.
»Ein Mädchen im Seminar kannte jemanden ... es war offenbar ein Gastdozent, der davon gesprochen hatte, dass vielleicht was frei werden würde, durch dieses Seminar hab ich eine Telefonnummer bekommen und angerufen und, tja . vielleicht krieg ich die Wohnung.«
»Als Untermieterin?«
»Das weiß ich allerdings nicht. Vielleicht zu Anfang. Das ist wohl noch in der Schwebe. Der Mann klang etwas erstaunt, als ich anrief. Sie hatten keine Anzeige aufgegeben oder so was . Wie gesagt, ist noch in der Schwebe.«
»Klingt nicht gerade viel versprechend.«
»Ach, lass doch. Am anderen Ende der Leitung hat sich ein richtig netter Onkel gemeldet. Es geht um seine Tochter, die ist da ausgezogen. Jedenfalls vorübergehend.«
»Und warum?«
»Danach hab ich nun wirklich nicht gefragt.«
»Wie heißt der nette Onkel denn? Wollte er seinen Namen preisgeben, oder war der auch noch ein bisschen in der Schwebe?«
»Musst du immer so misstrauisch sein, Papa? Entweder scheinst du die Leute zu hassen, oder du bist misstrauisch gegen sie.«
Sie holte ein kleines rotes Notizbuch hervor.
»Ja . leider . ich will ja nicht behaupten, dass das ein Berufsschaden ist, aber.«, sagte Ringmar.
»Sigge Lindsten.« Sie las den Namen aus ihrem Notizbuch vor. »Der nette Onkel heißt Sigge Lindsten.«
Der Name sagte Ringmar nichts.
Aneta Djanali bekam eine kurze Wegbeschreibung und ging um den Hügel herum zu ihrem Auto. Sigge Lindsten hatte ihr angeboten, sie dorthin zu fahren, aber es waren nur wenige hundert Meter. Zurück über den Hügel klettern wollte sie nicht. Es dämmerte jetzt schon sehr, und sie wollte keinen Zweig ins Auge bekommen.
Sie fuhr den schmalen Weg zurück. Mit aufgeblendetem Scheinwerferlicht war das leichter. Sie begegnete niemandem, kam an dem Schild der Ausweichstelle vorbei, das jetzt gar keine Farbe mehr hatte. Rechts war das Meer zu hören.
Signe Lindsten hatte sich nicht mehr gezeigt. Irgendwas verstehe ich hier nicht. Aber das ist mein Job. Man versteht nicht richtig, und wenn alles aufgeklärt ist, versteht man noch weniger. Nein. Man kann es verstehen. Das Problem ist nur, dass dann alles noch schlimmer wird.
Sie hatte Kollegen, die weigerten sich, etwas zu verstehen, weil sie befürchteten, sonst nervenkrank zu werden. Nervenkrank war ein Begriff, der innerhalb des Korps weiterlebte. Die Zeit konnte stillstehen im Korps. Alte Werturteile.
Sie waren nicht immer falsch.
Als sie die Asphaltstraße erreichte, die nach Norden führte, hatte sie ein Gefühl, als wäre sie in die Zivilisation zurückgekehrt. Im Augenblick war sie froh darüber.
Sie hielt beim Stoppschild, bog dann auf die Vorfahrtsstraße ein und stellte das Handy an. Sie hatte es abgeschaltet, während sie mit Signe Lindsten sprach. Etwas hatte ihr gesagt, dass sie bei diesem Gespräch etwas Wichtiges erfahren würde. Aber dieses Etwas hatte sich getäuscht. Oder sie hatte es nicht begriffen.
Die Mailbox piepste gereizt. Sie hörte drei Nachrichten ab, die alle von Fredrik waren, und sah, dass er auch eine SMS geschickt hatte.
»Man sollte sich melden, bevor man ins Blaue fährt«, hieß es zusammenfassend in dieser Nachricht.
Und das stimmte ja auch. Wenn nun wirklich was passiert wäre? Halders wusste es, er hatte nie so gelebt, wie er es anderen empfahl, und es war ein gefährliches Leben gewesen.
Aber diesmal hatte sie es so gewollt.
Sie rief ihn an.
»Was zum Teufel«, begrüßte er sie, da er ihre Nummer auf dem Display gesehen hatte.
»Danke gleichfalls«, sagte sie.
»So was hast du doch noch nie gemacht«, sagte Halders.
»Ist etwas passiert?«
»Das sollte ich wohl dich fragen«, sagte er.
»Ich komm grad vom Sommerhaus der Familie Lindsten.«
»Zum Teufel, Aneta.«
»Anette war nicht dort.«
»Das konntest du doch nicht wissen. ER hätte ja da sein können.«
»Er ist jetzt vermutlich bei seiner Schwester.« »Hat er eine Schwester?« »Susanne Marke« »Das Volvoweib?«
»Sie ist tatsächlich ein Fan von Hans Forsblad«, sagte Aneta Djanali.
»Dann fahren wir hin und holen ihn«, sagte Halders.
»Ich bin in zwanzig Minuten im Kriminalamt.«
»Ich bin hier ganz allein.«
»Wer ist bei den Kindern?«
»Mein üblicher Babysitter.«
»Ich fahr rüber nach Fredriksdal«, sagte Aneta Djanali.
»Ich auch«, sagte Halders. »Wir können ja mal nachsehen, ob Licht im Haus ist.«
Die Häuser in den südlichen Siedlungen waren gemütlich und traulich erleuchtet. Jemand hatte Sturmlichter angezündet. Aneta Djanali musste wegen einer Menschengruppe anhalten, die anscheinend zu einem Fest unterwegs war. Es war weder Freitag noch Samstag, aber dies war eine große Stadt. War eine große Stadt geworden. Die Leute amüsierten sich an Allen Wochentagen. Für manche war die ganze Woche Samstag. Die Festgesellschaft ließ sich Zeit mit dem Straßeüberqueren. Aus der entgegengesetzten Richtung kam ein zweites Auto. Die fröhliche Gesellschaft fing an, mitten auf der Straße fröhliche Scharaden aufzuführen. Das Viertel gehörte ihnen. Der Autofahrer aus der anderen Richtung drückte auf die Hupe. Sie erkannte das Gesicht des Fahrers. Fredrik.
»Diskret wie immer«, sagte sie, als sie auf der Straße vor Lindstens Haus geparkt hatten und den Schotterweg hinaufgingen.
»Die sollen froh sein, dass ich sie nicht über den Haufen gefahren hab«, sagte Halders. »Ich hab nichts gesehen, als ich kam. Hast du irgendwelche Reflexe gesehen?«
Aneta Djanali antwortete nicht.
»Hast du irgendein Licht gesehen?«, fragte Halders.
»Wir müssen wohl ums Haus herumgehen«, sagte Aneta.
Sie gingen durch das Gestrüpp auf die südliche Seite des Hauses. Das Fenster, hinter dem Halders eine Gestalt gesehen hatte, war ein dunkles Viereck auf der helleren Wand. Aneta Djanali spürte einen Zweig im Gesicht. Halders fluchte leise, als der Zweig ihn traf. Aus einiger Entfernung hörte sie Stimmen. Es klang immer noch nach Scharaden.
»Es brennt jedenfalls Licht«, sagte Halders.
Die Veranda auf der Rückseite war von innen erleuchtet. Das Licht warf einen Kreis auf den Rasen. Als sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, erkannte sie eine Stehlampe hinter dem Fenster. Eine Scheibe in der Tür war eingeschlagen.
»Aha«, sagte Halders und ging rasch die niedrige Treppe zur Veranda hinauf, hielt sich jedoch nah am Geländer. Aneta Djanali suchte den Raum mit Blicken ab. Die Lichtquelle, eine kleine Gartenlampe, gab viel Licht.
Aneta Djanali hatte ihre SigSauer in der Hand, und Fredrik hatte wer weiß was in der Hand. Eines schönen Tages war er dran, oder eines schönen Abends wie diesem, er würde jemanden verletzen, und bei der Ermittlung würde sich herausstellen, womit er geschossen hatte, und dann hieß es Abschied nehmen von dieser professionellen Zusammenarbeit. Sie hatte sich oft gefragt, ob eigentlich alle davon wussten. Sie sollten es wissen. Wusste Erik es? Würde er es verbieten, wenn er es wüsste? Halders trat einige scharfe Splitter herunter, die wie Eiszapfen aufragten. Er zog einen Handschuh an, öffnete die Verandatür von innen und schob sie auf.
Drinnen war es still. Es gab noch eine Lichtquelle weiter hinten im Haus.
»Ich ruf an, wir brauchen mehr Leute«, sagte Aneta Djanali.
»Es gibt keinen Grund«, sagte Halders. »Es kö.«
»POLIZEI!«, schrie Halders, sie zuckte zusammen, und auf ihrem einen Ohr war ihr Hörvermögen weg.
»POLIZEI!«, schrie Halders wieder und lief in den Flur. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe, als sie die Küche betrat, die auch nach hinten hinaus lag. Über dem Herd brannte Licht, aber niemand saß am Küchentisch oder stand bei der Spüle. Sie hörte Fredrik über sich. Er marschierte von Zimmer zu Zimmer. Es schienen drei zu sein. Dann hörte sie seine Schritte wieder auf der Treppe.
»Leer«, sagte er.
Aneta Djanali zog sich Handschuhe an, ging in den Flur und drückte die Haustürklinke herunter. Die Tür war abgeschlossen.
»Ist durch die Verandatür gekommen und gegangen«, sagte sie.
»Durch, das ist das Wort«, sagte Halders.
Er ging in das Zimmer auf der Südseite. Er schaltete die Deckenbeleuchtung an. Aneta Djanali folgte ihm. Sie sahen ein ungemachtes Bett und einen leeren Schreibtisch. Er war weiß, davor stand ein weißer Holzstuhl. In der einen Ecke stand ein weißer Ledersessel mit einem kleinen Couchtisch davor, der auch weiß war. Die Tapeten -ebenfalls weiß. Über dem Bett hingen zwei weiß gerahmte Fotos. Die Bilder wirkten kohlschwarz im Zimmer. Die Laken waren weiß und zerwühlt. Aneta drehte sich um und entdeckte einen roten Fleck in diesem Bett, aber sonst war nichts da.
Auf dem Fußboden, der aus weiß gebeizter Kiefer zu sein schien, lag ein weißer Teppich.
»Wenn die Fotos nicht wären, ich wäre jetzt schneeblind«, sagte Halders. Er drehte sich zu Aneta Djanali um.
»Findest du das hübsch?«
»Nein.«
»Jedenfalls ist weiß die Farbe der Unschuld.«
»Was soll das heißen?«
»Vielleicht ist hier gar nichts passiert.«
»Jemand hat die Scheibe eingeschlagen und ist eingestiegen.«
»Vielleicht ist dieser Jemand auch nur ausgestiegen«, sagte Halders. »Vielleicht ist sie nicht anders rausgekommen.«
»Du meinst, Anette könnte zu Hause gefangen gewesen sein?«
»Na ja, vielleicht ist sie in diesem Zimmer durchgedreht. Wer würde das nicht?«
»Jedenfalls ist sie nicht da«, sagte Aneta Djanali. »Wo also könnte sie sein?«
Halders zuckte mit den Schultern. Was ist mit ihm los?, dachte sie. Hat er keine Lust mehr? Kommt er sich albern vor? Aber über solche Gefühle ist er doch längst hinweg, hat sich dran gewöhnt durch unzählige Fehlschläge.
Aneta Djanali ging zurück ins Wohnzimmer. Alles schien an seinem Platz zu sein. Hier war fast nichts weiß. Sie bückte sich zu der eingeschlagenen Scheibe und studierte den Fußboden, der hier nicht von der Lampe beleuchtet wurde. Sie wollte sie nicht anfassen, sie nicht von der Stelle bewegen. Der Parkettfußboden hatte eine gelbliche Nuance. Hinter sich hörte sie Fredrik.
»Hast du eine Taschenlampe?«
»Im Auto«, antwortete er.
»Kannst du die mal holen?«
Halders ging, ohne weiter zu fragen. Sie hörte ihn auf der anderen Seite der Wand, hörte, wie unten auf der Straße die Autotür geöffnet und geschlossen wurde und er wieder zurückkam und zwischen dem Gestrüpp und den Bäumen fluchte. Er stapfte über die Veranda und reichte ihr die Stableuchte.
»Was sind das für Flecken?«, fragte sie.
»Willst du auf der Stelle eine Antwort?«
»Es könnte Blut sein«, sagte sie.
»Es könnte alles Mögliche sein.«
Sie leuchtete oberhalb des eingeschlagenen Fensters entlang, konnte aber nichts sehen.
»Gib mir mal die Lampe«, sagte Halders.
Er leuchtete von außen, ein wenig höher hinauf. Dort war etwas.
»Da hat sich jemand geschnitten«, sagte Aneta Djanali.
Es kommt wohl doch zu einer Untersuchung des Tatortes, dachte sie. Aber nicht dort, wo ich dachte.
Halders streckte den Rücken.
»Wir haben eine Nachricht.« Er nickte zu etwas hinter ihr.
Ein Telefon in einem der Bücherregale, das ihnen vorher nicht aufgefAllen war, hatte angefangen zu blinken. Sie hatten kein Klingeln gehört.