XXI

»Lügen, Lügen, Lügen! Du hast mich angelogen!« Ein schwerer Klauenfuß deutete in Richtung Innenstadt. »Dies ist keine Kommune, nicht einmal teilweise, sondern ein giftiges Nest kapitalistischer Verderbtheit. Es muß nicht verbessert, sondern gesäubert werden!«

»Jetzt wart mal einen Moment, Falameezar!« Jon-Tom mühte sich, rechtschaffen zu klingen. »Was gibt dir das Recht zu entscheiden, was mit allen diesen Arbeitern geschehen soll?«

»Arbeiter... pah!« Feuer sengte über das Kopfsteinpflaster neben Jon-Tom. »Sie üben die Tätigkeiten von Arbeitern aus, haben aber die Seelen von Imperialisten! Und was mein Recht angeht: Ich gehe in rein philosophischer Gelassenheit vor und bin meinen Zielen und Anschauungen verschrieben. Ich kann erkennen, wann eine Gesellschaft imstande ist, einen edleren Zustand zu erreichen... oder sich bereits jenseits der Erlösung befindet! Und außerdem«, – er spuckte gereizt einen Feuerstrahl auf einen in der Nähe stehenden Marktstand, der unverzüglich in Flammen aufging -, »hast du mich angelogen.«

Da Unschlüssigkeit offensichtlich der Weg zu augenblicklicher Einäscherung war, antwortete Jon-Tom tapfer: »Ich habe dich nicht angelogen, Falameezar. Dies ist eine mögliche zukünftige Kommune, und der größte Teil der Bevölkerung besteht aus Arbeitern.«

»Das bedeutet gar nichts, wenn sie sich bereitwillig dem System unterordnen, das sie ausbeutet.«

»Welche Wahl hat ein unterdrückter Proletarier, Genosse Falameezar? Es ist leicht, von Revolutionen zu reden, wenn man zwanzigmal größer ist als alle anderen und Feuer und Vernichtung speien kann. Du verlangst schrecklich viel von einem armen Arbeiter, der eine Familie hat, für die er sorgen muß. Verantwortlichkeiten dieser Art hast du nicht, oder?«

»Nein, aber...«

»Dann verurteile nicht einen armen Burschen, weil er seine Familie schützt. Du verlangst von ihnen, daß sie ihre Jungen, ihre Kinder, opfern. Und außerdem: Sie haben nicht dein Wissen. Du erwartest revolutionäre Differenzierung und Intellekt von ungebildeten Arbeitern. Solltest du nicht zuvor versuchen, sie zu bilden, ihnen dein Wissen zu vermitteln? Wenn sie sich dann der sozialistischen Sache verweigern und weiterhin üble kapitalistische Verderbtheit akzeptieren, mit der sie leben, dann ist es Zeit für eine Säuberung.«

Und zu dieser Zeit, dachte er hoffnungsvoll, werden wir in sicherer Entfernung von Polastrindu sein.

»Sie dulden immerhin bereitwillig ein antibourgeoises Leben«, meinte Falameezar grummelnd und schien seiner Sache nicht mehr ganz so sicher.

Währenddessen hatte Jon-Tom in wilder Verzweiflung versucht, sich an einen Anti-Drachen-Song zu erinnern. Er kannte keinen einzigen. ›Puff the Magic Dragon‹ , war nett und freundlich, aber kaum hemmend. Denk nach, Mann! Denk nach!

Aber er hatte keine Zeit, an Songs zu denken. Er war zu sehr damit beschäftigt, die Gedanken des Drachen semantisch zu verknoten.

»Wäre es nicht das beste für alle Beteiligten, wenn eine Warnung...«

Falameezars Kopf fuhr hoch. »Ja, eine Warnung! Die üblen Einflüsse ausbrennen, damit die neue Ordnung errichtet werden kann. Nieder mit der ausbeuterischen Industrie und den Fabriken und Kapitalisten! Die Kommune unter dem Banner des wahren Sozialismus neu aufbauen. Ja!«

»Hast du nicht gehört, was ich gerade sagte?« Jon-Tom trat besorgt einen Schritt zurück. »Du wirst die Heime der unschuldigen, unwissenden Arbeiter zerstören.«

»Das wird gut für sie sein«, erwiderte Falameezar entschlossen. »Sie werden ihre Häuser mit eigenen Händen und kooperativ wieder aufbauen müssen, anstatt in Gebäuden zu leben, die den Grundeigentümern und Kapitalisten gehören. Ja, dem Volk muß die Möglichkeit gegeben werden, neu zu beginnen.« Abwägend wandte er sich dem nächstgelegenen mehrstöckigen Gebäude zu und schien darüber nachzudenken, wie es am wirkungsvollsten zu ›säubern‹ sei.

»Aber sie hassen ihre Bosse.« Jon-Tom rannte neben dem galoppierenden Drachen einher. »Es gibt keinen Grund, sie in Regen und Kälte auszusetzen. Was hier gebraucht wird, ist nicht Gewalt, sondern kluge revolutionäre Dialektik!« Falameezar polterte weiter über den Platz. »Denk an die Arbeiter!« Jon-Tom schüttelte die Faust gegen den nicht ansprechbaren Drachen.

»Bedenk ihre Unwissenheit und ihre persönliche Zwangslage.« Dann, ohne nachzudenken, flogen seine Finger über die Saiten der Duar, die notwendigen Worte und die entsprechende Melodie waren plötzlich da.

»Wacht auf, Verdammte dieser Erde, Die stets man noch zum Hungern zwingt! Das Recht wie Glut im Kraterherde Nun Macht zum Durchbruch dringt. Reinen Tisch macht mit dem Bedränger! Heer der Sklaven, wache auf! Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger, Alles zu werden, strömt zuhauf! Leeres Wort: des Armen Rechte! Leeres Wort: des Reichen Pflicht! Unmündig nennt man uns und Knechte, Erduldet die Schmach nun länger nicht! Es rettet uns kein höh'res Wesen, Kein Gott, kein Kaiser noch Tribun, Uns aus dem Elend zu erlösen, Können wir nur selber tun!«

Bei den ersten aufwühlenden Worten der ›Internationale‹ war Falameezar wie vom Blitz gerührt stehengeblieben.

Langsam schwenkte der Kopf herum, und die roten Augen starrten Jon-Tom leer an.

»Paß auf, Kumpel!« drang leise die Stimme von Mudge über den Platz. Entsprechende Warnungen kamen von Caz, Flor, Talea und Pog.

Aber der Drache war völlig gebannt. Die Ohren blieben aufmerksam nach vorn gerichtet, während die Stimme des Sängers anstieg und wieder abfiel.

Schließlich war Jon-Tom mit seinem nicht ganz originalgetreuem Vortrag zu Ende. Als seine Finger ein letztes Mal über die Saiten strichen, tauchte Falameezar allmählich aus seiner betäubten Starre auf und nickte langsam.

»Ja, du hast recht, Genosse. Ich werde tun, was du sagst. Einen Moment lang vergaß ich, was wirklich wichtig ist. Mitgefühl unterlag meinem Verlangen, die richtigen Anschauungen im Proletariat verbreitet zu wissen. In meiner Wut und meiner kleinlichen Ungerechtigkeit hatte ich die wichtigere Aufgabe vergessen, die uns bevorsteht.« Er ließ den Kopf hängen.

»Ich habe die Kontrolle über mich verloren, und ich bitte um Verzeihung für den angerichteten Schaden.«

Jon-Tom wirbelte herum, winkte wild mit den Armen und schrie sein Allesklar. Augenblicklich zockelten die Wagen der Feuerwehr vorwärts. Hände und Pfoten wurden an Pumpen gelegt, und bald griff Wasser die brennende Kaserne an. Dickerer, dunkler Rauch füllte den Himmel, als die Flammen zurückgedrängt wurden und erhitzte Steine zischten.

»Ich werde keinen Ärger mehr machen«, sagte der niedergeschmetterte Drache. »Ich werde es nicht wieder vergessen.« Dann drehte sich der große Schädel zur Seite, und ein purpurnes Auge sah Jon-Tom an. »Aber schon bald werden wir hier revolutionäre Fortschritte machen, und die Bosse werden für immer hinausgeworfen.«

Jon-Tom nickte schnell. »Natürlich. Vergiß nur nicht, daß wir zuerst die unterdrückerischsten, brutalsten Bosse von allen besiegen müssen.«

»Ich werde es nicht vergessen.« Falameezar seufzte, und eine Rauchwolke stieg aus seinem Maul. Jon-Tom zuckte unwillkürlich zusammen, aber es gab keine Flamme. »Wir werden kämpfen, um die Arbeiter zu schützen.« Er rollte sich zusammen wie eine große Katze und legte den Kopf auf das rechte Vorderbein.

»Ich bin jetzt sehr müde. Ich überlasse die Nacht deinen Händen, Genosse.« Damit schloß er die Augen und schlief, die Aktivitäten, den Rauch und die Schreie um ihn nicht achtend, friedlich ein.

»Danke, Genosse Falameezar!« Jon begann zu zittern die Hitze auf seiner Haut und die wilde Wut im Blick des Drachen, als er ihm gegenübergetreten war, wurden ihm erst jetzt richtig bewußt.

Seine Freunde rannten auf ihn zu. In ihren Gesichtern lag eine Mischung aus Erleichterung und Ehrfurcht.

»Was zum Teufel, hast du da gesungen?... Was für einen Bann hast du benutzt?... Wie hast du es gemacht?« lauteten einige der erstaunten Kommentare.

»Ich weiß nicht, ich bin nicht sicher. Die Worte kamen einfach hoch. Alter Lernstoff, der haften geblieben ist«, murmelte er, als sie zum Stadttor zurückgingen.

Dort wartete Clodsahamp, der ihm ernst die Hand bot. »Eine große Leistung, eines wahren Hexers wert. Ob du nun glaubst, einer zu sein, oder nicht, mein Junge. Ich gratuliere dir. Du hast unsere Reise gerettet.«

»Ich fürchte, mein Hauptmotiv zu guter Letzt war, mich selbst zu retten.« Er wich dabei dem Blick des Hexers lieber aus.

»Pah, Motiv! Es sind Ausführung und Resultat, die zählen. Ich heiße dich in der Bruderschaft der Magier willkommen.«

Der Griff des gealterten Hexers schloß sich kühl, aber nachdrücklich um Jon-Toms Hand.

»Es wäre vielleicht gut, wenn du mich die Worte dieses Bannliedes lehren würdest, für den Fall, daß dir etwas geschieht. Meine Stimme ist nicht besonders wohlklingend, aber ich hätte zumindest die Worte. Es klang besonders machtvoll und könnte dazu dienen, die Bestie ein anderes Mal zu kontrollieren.«

»Es dient speziell der Kontrolle – für alle Arten von Bestien«, erwiderte Jon-Tom.

Auch die anderen hörten zu, als er ein zweites Mal sang, aber die Worte hatten keine besondere Wirkung auf sie. Auf der anderen Seite des Platzes brachte die Feuerwehr die letzten Reste des Brandes unter Kontrolle. Falameezar schnarchte unbekümmert in der Nähe, seine Wut war verbraucht, sein Gewissen beruhigt.

Vielleicht war Falameezars Koller die Ursache; auf jeden Fall kam am nächsten Tag die Einladung zum Rat. Ein sehr unterwürfiger Biber informierte sie, daß die Repräsentanten, mit denen sie zu sprechen wünschten, bereits auf sie warteten.

Jon-Tom hatte einen Großteil der vergangenen Nacht damit verbracht, Caz in sozialistischem Jargon zu unterweisen, da klar war, daß Clodsahamp diesmal nicht bei Falameezar bleiben konnte. Es freute Jon-Tom, daß der Hase freiwillig bereit war, zurück zubleiben und ein Auge auf den immer noch schlummernden Drachen zu haben.

Es freute ihn gar nicht, daß Flor und Talea beschlossen hatten, ihm dabei zu helfen. Also war er schlechter Laune, als sie sich dem Rathaus näherten.

»Mein Junge«, sagte Clodsahamp, »falls du auch nur halb so alt werden solltest wie ich, wirst du lernen, daß Liebe etwas Dauerhaftes ist. Lust hingegen etwas Vorübergehendes. Bist du sicher, daß du dir über Grad und Richtung deiner Gefühle im klaren bist? Denn falls du im ersteren ertrinkst, hast du von ganzem Herzen meine Unterstützung. Falls es nur das letztere ist, dann habe ich nur Mitgefühl für deine Abhängigkeit von den Torheiten und Narreteien der Jugend, die eng mit rein körperlichen Angelegenheiten verknüpft sind.«

»Für mich ist es nun mal körperlich.« Jon rammte das Keulenende seines Stabs bei jedem Schritt in die Straße. »Und überhaupt, Sie können darin nicht objektiv sein. Sind Schildkröten in solchen Angelegenheiten nicht von Natur aus langsam und träge?«

»Gelegentlich ja, manchmal nein. Wichtig ist die geistige Reaktion, die man hat, denn es ist der Geist, der zwischen Liebe und Lust unterscheidet, nicht der Körper. Laß deine Keimdrüsen für dich denken, mein Junge, und du bist nicht besser als eine Echse.«

»Für Sie ist das leicht zu sagen; ich kann mir vorstellen, daß das innere Feuer nach zweihundert und mehr Jahren kaum noch glimmt.«

»Wir sprechen nicht über meine Situation, sondern über deine.«

»Nun, ich versuche mich zu kontrollieren.«

»Gut, mein Junge. Dann schlage ich vor, daß du nicht weiter versuchst, Wasser unter der Straße zu finden.«

Jon-Tom entlastete seinen Stab.

Mudge schlenderte selbstbewußt neben dem jungen Mann her. Er badete übermütig in der Aufmerksamkeit der Passanten, die stehen blieben und ihnen nachstarrten. Pog flatterte majestätisch über ihnen dahin, schoß an luftigen Wohnungen vorbei, an deren Bewohnern scheinbar uninteressiert. Obwohl Clodsahamp nicht mit Verrat rechnete, bestand er doch darauf, daß sein Gehilfe sicher außer Pfeilschußweite blieb. Pog war ihre Verbindung zu der unausgesprochenen Drachen-Gefahr, die beim Hafentor schlief.

»Wir tsind da, meine Herren.« Der Biber blieb stehen und dirigierte sie weiter. Sie erklommen einige Steinstufen. Auf beiden Seiten des gewölbten Eingangs standen zwei Wachtposten. Sie salutierten zackig, ihre Rüstungen glänzten in der Sonne und waren Beweis für fleißiges Polieren. Beulen im Metall legten Zeugnis von anderen Aktivitäten ab.

Das Leben um den Brunnen auf dem kleinen Rathausplatz kehrte schnell zur Alltäglichkeit zurück. Jon-Tom hielt inne, um die friedliche Szenerie zu betrachten.

Eine junge Wölfin bemutterte zwei Junge. Hasen- und Bisamkinder spielten eine Art Hockey. Zwei Alte plauderten über irgend etwas, vielleicht über das Wetter oder über Politik. Das grauhaarige Opossum hing an einem Eichenast, während sein Partner, ein fetter Fuchs in einem dicken Mantel, unter ihm auf einer Bank saß. Der Umstand, daß der eine die entgegengesetzte Haltung zur Schwerkraft einnahm wie der andere, hatte keinen Einfluß auf ihr Gespräch.

Ein Uhrmacher und der Besitzer eines Kerzenladens standen in den Türen ihrer Geschäfte und unterhielten sich angelegentlich. Ein Kunde betrat das Uhrengeschäft, und sein Eigentümer, ein Gibbon mit einer Schürze, folgte ihm widerwillig, um seinem Geschäft nachzugehen.

Vielleicht ist der warme Tag ein gutes Omen, überlegte Jon- Tom. Es war schwer, sich vorzustellen, daß alle, die hier tratschten oder herumtollten, schon bald tot oder in Sklaverei sein mochten.

Es sah herzzerreißend normal aus. Er hatte das Gefühl, nur blinzeln zu müssen, um seinen Geist umzustellen – und wenn er die Augen wieder öffnete, saßen dort alte Männer und würden reden, Mädchen und Jungen würden rennen und spielen. Und doch waren dort ja alte Männer, Jungen und Mädchen, nur daß sie von unterschiedlicher Gestalt und von warmem Pelz bedeckt waren. Es war das warme Blut, das zählte. Alles übrige war äußerlich, oberflächlich.

Er wandte sich um und blickte in den vor ihnen liegenden Durchgang. Sie würden einem wohl feindseligen, auf jeden Fall mißtrauischen Rat gegenüber treten und ihn von der drohenden Gefahr über zeugen müssen. Irgendwie würde er die Magie meistern müssen, die seiner Duar und seiner Stimme innewohnte. Er trat keiner Gruppe von Hochschullehrern gegenüber, hatte nicht vor, eine Magisterarbeit über irgendeinen unbedeutenden Abschnitt der Geschichte vorzulegen. Millionen von Leben standen auf dem Spiel. Die Zukunft dieser Welt und vielleicht die seiner eigenen.

Nur... daß dies jetzt seine Welt war, und die dunkle Zukunft, die Clodsahamp vorhergesehen hatte, war seine Zu kunft. Seine Freunde standen neben ihm, bereit zu helfen und Mut zuzusprechen. Er würde laut sprechen und schweigend hoffen.

»Gehen wir! Und möge die Kraft unserer Vorfahren bei uns sein!« verkündete Clodsahamp und watschelte die letzten Stufen hinauf.

Jon-Tom konnte ihm nur zustimmen, doch als sie unter den abschätzenden Blicken der Wachen einherschritten, die zu beiden Seiten des Durchgangs postiert waren, wünschte er sich inbrünstig ein wenig Gras – aber nicht solches, wie es draußen auf dem Platz wuchs.

Ende...