V
Die Wirklichkeit regte sich kräftig in Jon-Toms Magen, vermengte sich unangenehm mit dem Kuchen. »Äh, können wir nicht einfach zurück zu Clodsahamp gehen?« Er kam zu dem Schluß, daß ihm diese Welt zu gefallen begann.
Mudge schüttelte langsam den Kopf. »Nich, wenn er diesen Goldzauber nich 'inkriegt. Denk immer daran, daß 'Exer, so nett und freundlich der alte Lüstling vor 'n paar Tagen auch schien, gottverdammt launisch sein können. Wenn wir schon jetzt zurückkommen und ihn um Geld ange'en, wird er nich besonders stolz sein auf dich. Ganz zu schweigen, wie seine Meinung über mich ausse'en würde. Du willst doch, daß der alte Gimpel sich weiter für das verantwortlich fühlt, was er dir angetan 'at, Kumpel.
Oh, er 'at sicherlich irgendwo 'nen 'übsch ordentlichen Vorrat an Silber versteckt. Aber sein Silbervorrat is natürlich begrenzt. Solange diese angebliche Krise seinen schwachen Verstand beansprucht, wird er nich viel Geschäfte machen. Keine Geschäfte, kein Silber. Kein Silber, keine milden Gaben, richtig? Ich fürchte, du wirst arbeiten müssen.«
»Ich verstehe.« Jon-Tom starrte trübsinnig in seinen geleerten Krug. »Könnte ich nicht mit dir arbeiten, Mudge?«
»Versteh mich nich falsch, Kumpel. Ich bin gerade soweit, daß ich deine Gesellschaft ertragen kann.«
»Danke«, entgegnete Jon-Tom beißend.
»Das is schon in Ordnung, is das. Aber Jagen is 'ne Einzelgängerarbeit. Ich glaube nich, daß ich da draußen viel für dich tun könnte, und du kommst mir nich wie der Typ vor, der sich im Wald auskennt. Du würdest so schnell über 'ne Falle stolpern, wie sie aufgestellt is, glaub ich.«
»Ich kann nicht bestreiten, daß ich mich zwischen Büchern oder in einer Korbballhalle mehr zu Hause fühle.«
»Anderweltlicher Sport hilft dir 'ier 'nen Dreck, Kumpel.
Und was das andere angeht... was wolltest du noch werden?«
»Ich studiere Rechtsgeschichte, Mudge.«
»Äh, ein zukünftiger Advokat, wa? 'Ab selbst nie viel Verwendung für diese Burschen ge'abt«, fügte er hinzu, uninteressiert daran, was Jon-Tom von seiner abschätzigen Beurteilung des Juristenstandes halten mochte. »Was 'as du neben den Gesetzen studiert? Die sind 'ier, wie du dir; wohl vorstellen kannst, wahrscheinlich ein wenig anders als die deinen.«
»Allgemeine Geschichte, Verwaltung, ein wenig Polin"!... ich schätze, das ist hier auch nicht besonders nützlich.«
»Ich nehme an, wir könnten dich bei einem 'iesigen Advokaten als Lehrling unterbringen«, überlegte Mudge laut. Er kratzte sich in einem Ohr und dann weiter am Rücken.;, »Ich weiß nich, Kumpel. Bist du sicher, daß du nich noch was anderes kannst? 'Ast du jemals mit 'ner Mistgabel gearbeitet oder Möbel gebaut? Metall bearbeitet, Wunden versorgt und Krank'eiten ge'eilt oder 'Äuser gebaut... irgendwas Nützliches?«
»Eigentlich nicht.« Jon-Tom fühlte sich unwohl.
»Puh!« Der Otter stieß ein geringschätziges Pfeifen aus.; »'N tolles Leben ‘ast du geführt, für 'nen sogenannten 'Exer.«
»Das ist Clodsahamps Fehler«, protestierte Jon-Tom. »Ich habe nie behauptet, daß ich einer bin. Ich habe nie beansprucht, etwas anderes zu sein, als ich bin.«
»Was nich viel zu sein scheint, wenn's drum geht, dich unterzubringen. Keine weiteren Fä'igkeiten oder Fertigkeiten also?«
»Nun...« Ein alter Ehrgeiz durchflutete ihn. Mit ihm tauchten das Gelächter seiner Freunde und die Verwünschungen und entsetzten Proteste seiner Familie auf. Sie wurden von einem Bild verdrängt, in dem er eine Gitarre in Händen hielt, und von den Erinnerungen an alle die Gruppen, deren Musik er gesammelt und deren Auftritte er in Augenblicken der mehr gefühlsmäßigen als intellektuellen Selbstbetrachtung nachgeahmt hatte. Erinnerungen und Klänge von Zeppelin und Harum, von Deep Purple und Tangerine Dream, von Moody Blues und tausend anderen. Elektrisierende Melodien kitzelten ihn in den Fingerspitzen. Logik und Vernunft lösten sich auf. Einmal mehr trafen gesunder Menschenverstand und Wahrheit in ihm aufeinander.
Nur daß hier gesunder Menschenverstand nicht half. Seine Herzenswünsche gewannen wieder einmal die Oberhand.
»Ich spiele eine G... einen elektrischen Baß. Das ist eine Art Saiteninstrument. Es ist nur ein Steckenpferd. Ich habe mal daran gedacht, daß ich vielleicht versuchen könnte, eine Karriere damit zu starten, nur...«
»Dann bist du also ein Musiker!« Die Bestürzung schwand in dem Maße, wie sich Begreifen in dem Otter ausbreitete. Er schob seinen Stuhl zurück, stellte die Füße auf den Boden und sah sein Gegenüber mit neuem Interesse an. »Ein Spielmann. Ich will tausendfach verdammt sein! Jawohl, es könnte 'nen Weg für dich geben, 'n paar Kupferstücke einzustreichen, vielleicht sogar etwas Silber. Du wärst auf jeden Fall 'ne Neu'eit. Laß mich mal was 'ören!«
»Direkt hier?« Jon-Tom sah sich nervös um.
»Jawohl. Es wird dich sowieso keiner 'ören. Nich bei dem Gebrabbel und der Kapelle.«
»Ich weiß nicht.« Jon-Tom überlegte. »Ich muß mich aufwärmen. Und ich habe meine Gitarre nicht dabei.«
»Pfeif auf dein verdammtes Instrument!« brummte der Otter.
»Wie willst du 'nen guten Spielmann abgeben, wenn du nich singen kannst, sobald man's von dir verlangt? Und jetzt kümmer dich gar nich um mich, Kumpel! Fang einfach an!« Er setzte sich erwartungsvoll zurecht und blickte ehrlich interessiert drein.
Jon-Tom räusperte sich befangen und sah sich um. Niemand schenkte ihm das geringste Interesse. Er nahm einen Stärkungsschluck aus Mudges Krug und überlegte. So was Albernes! dachte er. Na gut, am besten, du versuchst es mit einem alten Lieblingsstück. Und er begann mit ›Eleanor Rigby*‹ . Bin ich jetzt einer von all den einsamen Leuten« fragte er sich, während seine Stimme sang.
Als er fertig war, sah er den Otter gespannt an. Mudges Gesicht blieb ausdruckslos.
»Nun, wie war ich?«
Mudge lehnte sich zurück und lächelte andeutungsweise.
»Vielleicht 'attest du recht, Jon-Tom. Vielleicht wäre es besser mit Begleitung. Interessante Worte, das gestehe ich dir zu. Ich kannte mal einen Burschen, der mehrere Gesichter in Gläsern aufbewahrte, allerdings 'atte er sie nich an der Tür.«** Jon-Tom versuchte, seine Enttäuschung nicht zu zeigen, aber warum sollte er bei dem Otter eine andere Reaktion erwarten als bei seinem bisherigen Publikum?
»Ich bin eigentlich viel mehr Instrumentalist. Und was die Stimme angeht«, setzte er verteidigend hinzu, »so ist siel vielleicht nicht weich, aber ich singe mit Begeisterung.‹ »Das mag sein, Kumpel, aber ich bin mir nich sicher, daß dein Publikum auch zu'ört. Ich werde versuchen, mir einfallen zu lassen, was du sonst noch tun könntest. Für den Augenblick aber war es nett, wenn du das Singen vergessen! würdest.«
* Eine Zeile in dem Lied der Beatles lautet: ›Where are all the lonely people now?‹ – Etwa: ›Wo sind jetzt all die einsamen Menschen?‹ ** Eine andere Zeile lautet: ›She is wearing a face that she keeps in a jar by the door.‹ – Etwa: ›Sie trägt ein Gesicht, das sie in einem Gefäß/Glas bei der Tür aufbewahrte »Nun, ich bin nicht hilflos.« Jon-Tom beschrieb eine den Raum umfassende Geste. »Ich will mich dir nicht weiter; aufdrängen, Mudge. Diese Kneipe zum Beispiel. Ich habe! keine Angst vor harter Arbeit. Die Krüge und Servierplatten, die gewaschen werden müssen, gehen sicher in die Hunderte; der Boden muß aufgewischt, Tische gesäubert und Abflüsse gereinigt werden. Es gibt verdammt viel Arbeit hier. Ich könnte...«
Mudge griff über den Tisch, und beide Pfoten vergruben sich in Jon-Toms Indigohemd. Der Otter starrte in die Überraschung seines Gegenüber hinauf und flüsterte eindringlich: »Das kannst du nich tun! Das is Arbeit für Mäuse und Ratten. Laß das bloß niemanden 'ören, Jon-Tom!« Er gab die Seide frei und setzte sich in seinen Stuhl zurück.
»Ach, komm schon!« protestierte Jon-Tom. »Arbeit ist Arbeit.«
»Glaubst du das jetzt auch noch?« Mudge deutete nach rechts. Zwei Tische entfernt sah Jon-Tom einen etwa neunzig Zentimeter großen Rattenmann. Er war in einen Overall aus irgendeinem schweren, dicken Material gekleidet, der vor Schmutz starrte. Dicke Handschuhe schützten winzige Pfoten, und kniehohe Stiefel ruhten auf dem Boden, während der Nager die Holzplanken schrubbte.
Die anderen um ihn herum ignorierten seine Anwesenheit völlig und warfen Knochen und anderen Abfall in seine Nähe, manchmal auch auf seinen Rücken. Während Jon-Tom zusah, stolperte der Nager unversehens über das Bein einer betrunkenen Möwe, die nach einem Tisch mit Sitzstangen für ihre ornithologischen Belange suchte. Der große Vogel richtete ein glasiges Auge auf die Ratte und zuckte einmal mit dem Schnabel vor, mehr hänselnd als drohend.
Die Ratte stolperte sich frei, fiel über die eigenen Füße nach hinten und schüttete ihren Kübel mit Müll und Dreckbrühe über sich. Die Schmiere lief über die Stiefel und den schützenden Overall. Einen Moment lang lag der Rattenmann betäubt zwischen dem Müll, dann kämpfte er sich auf die Füße und begann ihn schweigend wieder einzusammeln, die Pfiffe und Beleidigungen, mit denen die Gäste ihn überhäuften, scheinbar überhörend. Ein schwerer Knochen prallte ihm auf den Rücken, und er sammelte ihn zusammen mit dem restlichen Abfall ein. Die kurze Ablenkung begann die Zuschauer bald zu langweilen, und sie kehrten zum Trinken, Essen und Streiten zurück.
»Und diese Arbeit verrichten nur Ratten und Mäuse?« erkundigte sich Jon-Tom. »Ich habe etwas in der Art eigentlich immer gern getan. Erinnere dich, das hat Clodsahamp verwechselt und mich so hierher gebracht.«
»Was du anderswo tust, versuchst du besser nich 'ier, Kumpel. Jedes ehrbare Tier würde eher 'Ungers sterben, als das zu tun oder betteln zu ge'en, wie unser piekser versteckender Freund, der Gibbon.«
»Ich verstehe das alles nicht, Mudge.«
»Versuch es nich, Kumpel! Schwimm einfach mit dem Strom, wa? Außerdem, diese Typen sind von Natur aus fau und dumm. Sie liegen lieber rum und stopfen Käse in sich rein, als irgend'ne ehrliche Arbeit zu tun. Verbringen ihn ganze Zeit – wenn sie nich gerade essen – mit wahllose: Herumbumsen, obwohl man annehmen sollte, daß sie gar nich wissen, mit welchem Teil sie's tun sollen.«
Jon-Tom kämpfte um seine Selbstbeherrschung. »An niedriger Arbeit ist nichts Schlechtes. Diejenigen, die sie tun, werden dadurch nicht niedrig, und auch ihre Intelligenz nicht. Ich...« Er seufzte und wunderte sich über die Hoffnungslosigkeit, die in seinem Unterfangen lag. »Ich nahm einfach an, daß hier, soweit das überhaupt möglich ist, alles anders sei. Es ist mein Fehler. Ich habe mir eine Welt eingebildet, die nicht existiert.«
Mudge lachte. »Ich kann mich erinnern, daß du vor kurzem noch darauf bestandest, daß diese Welt nich existiert.«
»Oh, sie existiert, schon gut!« Seine Fäuste rieben wütend über den Tisch, als er sah, wie der Rattenmann plötzlich auf die Brust stürzte. Eine Schildkröte mit einem erheblich unfeineren Charakter als Clodsahamp hatte ein stummeliges Bein ausgestreckt und den unglücklichen Nager zu Fall gebracht. Wieder sammelte er mühselig den verstreuten Abfall ein, während unter den Zuschauern erneut Fröhlichkeit ausbrach.
»Warum gibt es auch hier diese Diskriminierung? Warum auch hier?« murmelte Jon-Tom böse.
»Diskriminierung?« Mudge schien verwirrt. »Niemand diskriminiert sie. Sie sind einfach zu nichts anderem gut. Gegen 'n Naturgesetz kommst du nich an, Kumpel.«
Jon-Tom hatte mehr von Mudge erwartet, obwohl es dazu keinen wirklichen Grund gab. Nach allem, was er bisher gesehen hatte, war der Otter nicht schlimmer als der Durchschnittseinwohner dieses stinkigen, zurückgebliebenen Nichtparadieses.
Im Restaurant fand sich hier und da auch ein Mensch. Keiner war auch nur annähernd so groß wie Jon-Tom. In der Nähe saß ein älterer Herr, der ab und zu an seinem Krug nippte und mit einem in schwarzen Seidenbrokat gekleideten Klammeraffen Karten spielte. Ihnen gegenüber hockten ein Menschenaffe, den Jon-Tom nicht einordnen konnte, und ein neunzig Zentimeter großer Ziesel, der einen knallroten Overall und die dunkelste Sonnenbrille trug, die Jon-Tom je gesehen hatte.
Ohne Zweifel waren sie genauso vor eingenommen und bigott wie die anderen. Und woher nahm er das Recht, sich als Richter über die Moral einer anderen Welt aufzuschwingen?
»Daran kannst du über'aupt nichts ändern, Kumpel. Warum sollte man das auch ändern wollen? Teller waschen und Aufwischen und das alles is nich drin, außer du willst nich als richtiger Bürger respektiert werden. Du wärst natürlich auch zum Politisieren geeignet, aber das rangiert noch unter der Schmutzarbeit. Ich 'offe, du mußt nich auf deine Fä'igkeiten als Sänger zurück greifen.« Er machte eine Pause. Als er weitersprach, lag sowohl Hoffnung als auch Neugier in seiner Stimme: »Also, unser alter Clodsa'amp war sich verdammt sicher, daß du irgend'ne Art von Magier bist, war er. Bist du sicher, daß du nich zaubern kannst? Ich 'ab doch ge'ört, wie du den alten 'Exer- 'Eini nach seinen speziellen Worten gefragt ‘ast.«
»Das war nur Neugierde, Mudge. Einige der Worte kannte ich. Aber nicht in der Art und Weise, wie er sie benutzte. Selbst du hast diese Sache mit den tanzenden Nadeln gemacht. Praktizieren hier eigentlich alle Magie?«
»Oh, das tut jeder, sicher.« Mudge nahm einen Schluck des schwarzen Gebräus. »Aber nur wenige werden gut genug, um mehr als einen oder zwei Tricks 'inzukriegen. Nadeln sind meine Grenze, fürcht ich. 'olle, ich wollt, ich könnte diesen Goldzauber!« Sein Blick richtete sich plötzlich nach links, und sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.
»Aber natürlich, wenn die Situation es erfordert, bin ich gar nich so schlecht, was bestimmte Formen der Levitation angeht.« Seine rechte Hand bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, zu der nur Otter imstande sind.
Wie es der keck gekleideten und aufreizend geschminkten Streifeneichhörnchenfrau gelang, die sechs Bierkrüge, die sie durch die Menge manövrierte, nicht zu verschütten, war ein wenig Magie für sich, dachte Jon-Tom, als er sich duckte, um den fliegenden Schaumspritzern zu entgehen.
Sie bedachte den unschuldig dasitzenden Mudge mit einem wutentbrannten Blick. »Behalt deine Hände bei dir, du dreckfressender Sohn eines Schlammwurms! Das nächste Mal bekommst du einen von diesen hier in deinen fetten Nacken!«
Sie drohte ihm mit einem der Humpen.
»'Eee, Lily!« protestierte Mudge. »'Ast du mir nich immer erzählt, du suchst nach 'nem Weg, um nach oben zu kommen?«
Sie setzte dazu an, ihre gesamte Fracht über ihn auszuleeren, und er duckte sich in gespielter Furcht zusammen, die Pfoten vor das immer noch lächelnde Gesicht gelegt. Dann überlegte sie sich, daß es besser war, das Getränk nicht zu verschwenden. Sie wandte sich vom Tisch ab und bahnte sich mit den Ellbogen ihren Weg durch die Menge; ihr Schwanz zuckte kokett von einer Seite zur anderen. Der kurze goldene Rock reichte kaum von der Taille bis zu den Knien; das graue Muster kontrastierte wundervoll zu ihrem Rostbraun und den schwarzweißen Streifen.
»Was 'ab ich dir gesagt, Kumpel?« Mudge grinste Jon-Tom über den Rand seines Kruges an.
Der versuchte zurück zu lächeln, weil er sich bewußt war, daß der Otter versuchte, die trübe Stimmung aufzubrechen, in die er verfallen war. Also zwang er sich, den Scherz fort zu setzen.
»Ziemlich kurze Levitation, Mudge. Ich glaube nicht, daß sie irgendwas davon gehabt hat.«
»Wieso sie?« Der Otter drückte sich den Daumen auf die Brust. »Ich bin es, dem die Levitation guttut!« Er schlug sich auf die Schenkel und lachte aus vollem Hals über seinen eigenen Scherz.
Vor den beiden Fenstern des Seidigen Oppossums wurden hölzerne Rolläden hinuntergelassen, und irgend jemand dämpfte die Öllampen. Jon-Tom wollte aufstehen und spürte eine Pfote am Handgelenk, die ihn zurückhielt.
»Nein, Chef, kein Grund, sich Sorgen zu machen!« Die Augen des Otters funkelten. »Ganz im Gegenteil. 'Abe ich dir nich ein wenig Unter'altung versprochen?« Er deutete auf einen Punkt über der runden Zentraltheke.
Etwas, das wie ein auf den Kopf gestellter Baum aussah, sank langsam aus einer Lücke in der Mitte der spitz zulaufenden Decke. Es war grün durch frisches Blattwerk, das allerdings angeheftet war und zweifellos regelmäßig erneuert wurde. Die immer noch unsichtbare Band fiel in eine völlig neue Melodie. Dabei trug der Schlagzeuger jetzt den Hauptanteil, wie Jon-Tom bemerkte. Der Rhythmus war schwer, langsam und sinnlich.
Die Schreie und Rufe, die die Luft des Etablissements erfüllt hatten, veränderten sich ebenfalls. Wildes Chaos wandelte sich, leiser werdend, zu erwartungsvollem Gemurmel, aus dem gelegentlich lautere, meist zotige Kommentare aufklangen.
Mudge hatte seinen Stuhl so verrückt, daß er jetzt dicht neben Jon-Tom saß. Sein Blick war auf den falschen Baum gerichtet, und er rammte seinem Begleiter wiederholt den Ellbogen in die Rippen.
»Und jetzt sperr die Augen auf, Kumpel! Es gibt keinen lieblicheren und graziöseren Anblick in ganz Lynchbany.«
In der dunklen Deckenöffnung erschien ein Tier, und die Menge brüllte auf. Es verschwand kurz und tauchte dann neckend wieder auf. Es war schlank, fast schmächtig und! ließ sich sehr langsam aus der verborgenen Kammer über! dem Dach in die Äste der künstlichen Konifere gleiten. Fast genau einen Meter groß, stellte es einen ruhelosen, fünfzehn Zentimeter langen Schwanz zur Schau und war völlig von einem geradezu blendenden schneeweißen Fell bedeckt; nur an der Schwanzspitze zeigten sich einige Zentimeter Schwarz.
Die Kleidung, falls eine derart geschmeidigduftende Umhüllung so genannt werden konnte, bestand aus vielen Lagen schwarzer chiffonartiger Schleier, durch die schwach das leuchtendweiße Fell schimmerte. Das Gesicht war von roten, sonderbar geschwungenen Linien und Mustern bedeckt, die sich von der Schnauze über die Brust und die Schultern zogen und unter den luftigen Falten verschwanden. Ein Turban in passendem Schwarz war mit Juwelen übersät. Die Krönung des Ganzen waren, wie Jon-Tom fasziniert bemerkte, lange falsche Wimpern.
Die strahlende Vision war so fesselnd, daß ihm die Identifizierung erst nach einigen Sekunden gelang. Die schlanke Gestalt und der muskulöse Rumpf konnten nur zu irgendeinem Mitglied der Wiesel-Familie gehören. Als die Erscheinung lächelte und winzige scharfe Zähne zeigte, war er sich dessen sicher. Es war ein Hermelin, noch im vollen winterweißen Vlies. Das bestätigte seine Ahnung über die Jahreszeit, in der er eingetroffen war – er hatte vergessen danach zu fragen. An der Weiblichkeit des Wesens hatte er sowieso keinen Zweifel.
Gespannte gattungsübergreifende Erwartung hatte die Menge erfaßt. Alle Aufmerksamkeit war nach oben gerichtet, als die Hermelin-Stripperin mit den Schnallen zu spielen begann, die einen der Schleier hielten. Sie ließ eine aufschnappen, dann das Gegenstück. Begeisterungsschreie stiegen aus dem Publikum auf, ein verblüffendes Gemisch aus Tuten, Pfeifen, Zischen, Quietschen, Jaulen und Bellen. Mit schlangengleichen Bewegungen löste sie den ersten Schleier.
Jon-Tom hatte nie Gelegenheit gehabt, sich ein Tier vorzustellen, das etwas so Erotisches wie einen Striptease vollführt. Schließlich lag unter jeder Kleidung immer noch ein dichtes, solides Fell und nicht das bloße Fleisch eines Menschen.
Aber Erotik hat wenig mit Nacktheit zu tun, wie er bald entdeckte. Es waren die Bewegungen des weiblichen Hermelins (ein subtiles Drehen und Wenden, das keine menschliche Frau auch nur annähernd nachahmen konnte), die stimulierten. Er fand sich völlig Vom Ablauf und Ausdruck des Tanzes selbst gefangen genommen.
Unter den zunehmenden Begeisterungsschreien der Menge folgte ein Schleier dem anderen. Die kühle Unberührtheit, die Jon-Tom hatte zeigen wollen, war längst einem eindeutigen Kitzel gewichen. Er war Schönheit gegenüber nicht weniger empfänglich als irgendein anderes Tier. Die Hermelin-Stripperin führte eine Reihe von Bewegungen aus, die weit jenseits der Fähigkeiten des talentiertesten Menschen lagen, und sie tat das mit der Grazie und der Haltung einer Komteß.
Dazu kam die Art, wie sie um die Äste und Blätter des Baumes glitt; sie streichelte und liebkoste sie in einer Weise mit Händen und Körper, der nur ein Klotz alten Granits zu widerstehen vermochte. Moschusgeruch lag jetzt schwer in der Luft, die Eindeutigkeit der Bewegungen und Gesten beeinflußte jedes männliche Wesen.
Der letzte Schleier fiel, glitt federleicht zu Boden. Die Musik war fast so schnell wie die Tänzerin. Das weißbepelzte Hinterteil war zu einem der Schwerkraft spottenden Metronom geworden, ein sinnliches Pendel der Leidenschaft, manchmal von dem zuckenden Schwanz verhüllt, manchmal durch ihn betont, und alles vibrierte im Rhythmus der Musik.
Die Musik erreichte einen abschließenden Höhepunkt, als das Hermelin-Mädchen, an einem der untersten Äste hängend, eine Serie von absolut unmöglichen Bewegungen vollführte, die Jon- Tom nebenher auch den Grund für die zentrale und kreisförmige Natur der Theke enthüllte. Siel diente jetzt als Festungswall, hinter dem die schwer bewaffneten Köche und auch Ausschenker in der Lage waren, die, hysterischen Vorstöße der überhitzten Gäste abzuwehren.
Einem langohrigen Kaninchen gelang es schließlich, eine Handvoll von dem schwarzspitzigen Schwanz zu fassen, der ihm scheu, aber entschieden entzogen wurde. Ein stämmiger Luchs stieß das Kaninchen zurück in die wogende Menge, als die Tänzerin ihrem Publikum einen letzten Kuß zublies. Dann glitt sie durch die Zweige und Blätter zurück und verschwand mit einem abschiednehmenden Schwenken der Hüften im Dach.
Die Fensterläden und der Baum wurden wieder hochgezogen. Die Gespräche nahmen ihren Fortgang, und die Normalität kehrte in das Lokal zurück. Serviererinnen und Kellner bahnten sich wieder ihren Weg durch die Menge wie Sauerstoff durch den Blutstrom.
»Weißt du jetzt, was ich meine, Kumpel?« fragte Mudge mit der Zufriedenheit von jemandem, der gerade einen sehr hohen Scheck eingelöst hat. »Wenn ich sage, daß es keinen lieb...« Er unterbrach sich und starrte eigenartig über den Tisch.
»Was ist?« fragte Jon-Tom verstört.
»Da soll mich doch...« kam die verblüffte Antwort. »Du wirst ja rot! Ihr Menschen...«
»Quatsch!« murmelte Jon-Tom und wandte sich verärgert ab.
»Nee, nee!« Der Otter beugte sich über den Tisch und sah Jon-Tom, der versuchte, sein Gesicht zu verbergen, aus nächster Nähe an. »Leck mich am Ärmel, aber es is wahr... du bist rot wie 'n Pavian'intern, Kumpel.« Er deutete mit dem Kopf zur Dachspitze. »Dann ‘ast du noch nie so eine Vorstellung gese'en?«
»Natürlich habe ich das.« Er wandte sich schwungvoll seinem Begleiter zu und bemerkte, daß er leicht schwankte. In seinem Gehirn entwickelte sich langsam die Frage, ob er einen kleinen Schwips hatte. Wieviel von diesem schwarzen Gebräu hatte er intus?
»Das heißt... im Film, habe ich es gesehen.«
»Was wäre das?«
»Eine magische Erscheinung«, erklärte Jon-Tom rasch. »Nun, wenn du dir so was angese'en ‘ast, wenn auch nicht, wage ich zu be'aupten« – er blickte bewundernd zum Dach hinauf -, »von solcher Grazie und Kunstfertigkeit warum dann das rote Gesicht?«
»Es ist einfach so, daß....« Er suchte nach den Worten, die seine Verwirrung erklären konnten, »... ich nicht erwartet hätte, so eine Darbietung von...« Wie konnte er ›einem anderen Tier‹ ausdrücken, ohne sein Gegenüber zu beleidigen? Verzweifelt suchte er nach einer anderen Erklärung. »Ich habe nie zuvor etwas gesehen, das... nun, von einer so hochentwickelten perversen Geschicklichkeit ist.«
»Äh, jetzt verste'e ich. Pervers würde ich es allerdings nich nennen. Ich find, das war etwas von großer Schön'eit.«
»Wenn du es sagst, war es das wohl.« Jon-Tom war dankbar für dieses Schlupfloch.
»Jawohl.« Mudge knurrte leise und lächelte. »Und falls ich je die Gelegen'eit bekomme, meine 'Ände an dieses kleine geschmeidige Liebchen zu legen, dann werd ich ihr was von großer Schön'eit zeigen.«
Die schwere, warme Luft des Restaurants hatte Jon-Tom zusammen mit dem reichhaltigen Mahl und den Getränken eindeutig benebelt. Er war aber entschlossen, nicht wegzutreten. Mudge hielt schon jetzt nicht viel von ihm, und Clodsahamps Warnungen hin oder her, er würde nicht darauf wetten, daß der Otter bei ihm blieb, wenn er sich vollends lächerlich machte.
Entschlossen schob er den Krug weg, stand auf und sah sich um.
»Wonach suchst du jetzt, Kumpel?«
»Nach Leuten meiner Art.« Sein Blick schweifte auf der Suche nach bloßem Fleisch über die Menge. »Was – Menschen?« Der Otter zuckte die Achseln. »Na ja, ich 'abe eure sonderliche Vorliebe füreinander nie so recht;? verstanden, aber es steht dir natürlich frei, dir deinen Umgang selbst zu suchen. Siehst du irgendwo welche, hm?«
Jon-Toms Blick ruhte auf zwei vertraut haarlosen Gesichtern in einer Nische am anderen Ende des Raums. »Dahinten sitzt ein Paar, zwei Männer, glaube ich.«
»Na gut, dann.«
Jon-Tom wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Otter zu.
»Es ist nicht so, daß ich nicht gern in deiner Gesellschaft bin, Mudge. Ich möchte einfach nur mal 'ne Zeitlang mit Leuten meiner Art reden.«
Seine Sorgen waren grundlos. Mudge war viel zu guter! Stimmung, um sich durch irgend etwas beleidigen zu lassen.
»Was immer du willst, Kumpel. Dann ge'en wir eben rüber und machen 'nen Plausch, wenn du das möchtest. Aber vergiß nich, daß wir immer noch die kleine Angelegen'eit zu klären 'aben, wovon du leben sollst.« Er schüttelte den Kopf, mehr um ihn zu klären, als um sein Mißvergnügen zu zeigen.
»Spielmann... ich weiß nicht. Da könnte immer noch der Neuheitsfaktor sein.« Er kratzte sich das Fell unterm Kinn. »Ich sage dir was. Sing uns noch ein Lied, und dann ge'en wir rüber und versuchen die Bekanntschaft von diesen Burschen zu machen.«
»Ich dachte, du hättest beim ersten Mal genug gehört.«
»Urteile nie nach dem ersten Eindruck, Kumpel! Außerdem war das 'n verdammt trübseliges und düsteres Stück, was du da zum besten gegeben ‘ast. Versuch was anderes. Spielmann, der 'ne bestimmte Art von Lied ver'unzt, könnte doch 'ne andere Art sehr 'übsch trillern.«
Jon-Tom setzte sich wieder, verschränkte die Finger und dachte nach. »Ich weiß nicht. Was möchtest du hören? Klassik, Pop, Blues, Jazz?« Er versuchte, ansteckend begeistert zu klingen. »Ich kenne ein paar klassische Stücke, aber was ich wirklich immer gewollt habe, ist Rock zu singen. Das ist eine Art populäre Musik, da wo ich herkomme.«
»Ich weiß auch nich, Kumpel. Wie war's mit Balladen? Jeder mag Balladen.«
»Sicher.« Wieder erwärmte er sich für seine wahre Liebe.
»Ich kenne viele. Welches Thema gefällt dir am besten?«
»Laß mich 'ne Minute nachdenken.« Tatsächlich dauerte es nur Sekunden, bis die schwarzen Augen zu strahlen begannen und das Gesicht des Otters sich zu einem Lächeln verzog.
»Schon gut«, sagte Jon-Tom hastig. »Ich denke mir selbst was aus.«
Er dachte nach, aber es war schwer, sich auf irgendein bestimmtes Lied festzulegen. Vielleicht waren es der Lärm und der Geruch, die um sie herumwirbelten, vielleicht die Nachwirkungen der Mahlzeit, aber die Worte und Noten flatterten ihm wie Mücken durchs Hirn, machten nie lange genug halt, daß er eine einzelne Erinnerung greifen konnte. Außerdem kam es ihm unnatürlich vor, ohne seine vertraute abgenutzte Gitarre vor dem Bauch zu singen. Wenn er doch nur irgend etwas hätte, und sei es nur eine Mundharmonika! Aber er konnte nicht gleichzeitig singen und darauf spielen.
»Na los, Kumpel!« drängte Mudge ihn. »Dir fällt doch bestimmt etwas ein.«
»Ich werde es versuchen.« Und das tat er, indem er eine rauhe Interpretation von ›Strawberry Fair‹ vom Stapel ließ, aber die zarten Harmonien gingen in dem Bellen, Tuten und Zischen unter, die die Luft des Restaurants erfüllten.
Auf den scharfen Hieb, der ihn zwischen den Schulterblättern traf, war er völlig unvorbereitet. Die Arme ausgebreitet, rutschte er auf der Brust über den Tisch.
Wütend und verwirrt drehte er sich um und starrte in ein wild blickendes dunkelbraunes Gesicht, das zu einem stämmigen, muskulösen Körper gehörte, der so groß war wie der von Mudge, aber mehr als doppelt so breit...