II

Die Samen in den Glockenbaumblättern erzeugten mit jeder sich ändernden Brise eine neue Musik, klangen einmal wie Schlittenschellen, ein anderes Mal wie ein Dutzend wütender Tambourine. Ein Bienenpaar summte an ihnen vorüber. Sie schienen in dieser verrückten Welt so schmerzlich normal, so heimatlich, daß Jon-Tom den machtvollen Wunsch verspürte, ihnen bis zu ihrem Stock zu folgen, und sei es nur deshalb, um sich zu vergewissern, daß dieser nicht mit Miniaturfenstern und türen ausgestattet war.

Mudge versicherte ihm, daß dem nicht so sei. »Aber es gibt die anderen, die mit diesen 'ier verwandt sind, und sie sind alles andere als normal.« Er zeigte warnend nach Osten. »Viele Langmeilen in diese Richtung, über Polastrindu und die Quelle des Flusses Tailaroam 'inaus, weit jenseits der Schwertgau, auf der anderen Seite von Zaryts Zahn, liegt 'n Land, aus dem noch kein warmblütiger Reisender zurückkehrte. Ein Land, um das man sich nich kümmern sollte, ein Land, das von Auswurfgezücht, eiterbeuligem Gesindel und stinkenden Kreaturen von so widerlicher Gemein'eit bewohnt wird, daß es die Erde selbst beschämt. Ein Land, wo diejenigen 'errschen, die keine Tiere sind wie wir. Ein Land namens Cugluch.«

»Ich betrachte mich nicht als Tier«, kommentierte Jon-Tom; er vergaß die Bienen und fragte sich, was in einem so selbstbewußten Wesen wie Mudge eine derart offensichtliche Abscheu und Furcht hervorrufen konnte.

»Du ‘ast auch nicht gerade viel von einem Menschen.« Mudge stieß ein schrilles, amüsiertes Pfeifen aus. »Aber ich vergesse mich. Du bist 'n Fremder 'ier, der gegen seinen Willen durch Magie aus irgend'nem unwissenden Land gepflückt wurde. Gegen deinen Willen bist du 'ier'ergemogelt worden, und ich sollte mich nich über dich lustig machen.« Plötzlich verzog sich sein Gesicht, und er trat fehl. Er beäugte seinen größeren Begleiter unsicher.

»Du 'ast das richtige Ausse'en, und du fühlst dich auch richtig an, aber bei Magie kann man nie sicher sein. Du ‘ast doch warmes Blut, Kumpel, oder?«

Jon-Tom stöhnte und sackte links zusammen. Ein kräftiger Arm stützte ihn. »Danke«, sagte er zu dem Otter. »Du solltest es eigentlich wissen, du hast genug davon vergossen.«

»Jawohl, es schien ziemlich warm, obwohl meine Gedanken woanders waren.« Er zuckte mit den Schultern. »Du ‘ast dich jedenfalls als ziemlich 'armlos erwiesen. Clodsa'amp wird wissen, warum er dich 'ergerufen 'at.«

Was will dieser Hexer von mir? fragte sich Jon-Tom. Warum wird das mir angetan? Warum nicht Shelly oder Professor Stanhope oder sonst jemandem? Warum ich? Er bemerkte, daß sie stehengeblieben waren.

»Sind wir da?« Er sah sich um, erwartete irgendwie eine malerische Hütte mit Strohdach. Doch es war keine Hütte zu sehen, überhaupt kein irgendwie geartetes Haus. Dann traf sein Blick auf die dunklen Fenster im Stamm der massigen alten Eiche, den Rauchfaden, der träge aus dem Schornstein zwischen den Hauptästen hoch oben aufstieg, und die bescheidene Tür, die zwischen einem Paar gewaltiger knorriger Wurzeln zermalmt zu werden schien.

Sie gingen auf den Einlaß zu, und Jon-Toms Aufmerksamkeit wurde nach oben gelenkt.

»Was is los?« fragte Mudge, der bemerkte, daß sein überwältigter Begleiter nicht mehr aufmerksam seinen Beschreibungen der zunehmenden Sonderlichkeiten Clodsahamps lauschte.

»Ein Vogel. Ein richtiger, diesmal.«

Mudge blickte uninteressiert in den Himmel. »Natürlich is es ein Vogel. Was ‘ast du denn erwartet?«

»Eins von diesen hybriden Echsen-Dingern, wie sie uns im Wald begegnet sind. Der hier sieht aus wie ein echter Vogel.«

»Du ‘ast verdammt recht, es is einer. Und sei froh, daß er dich nich so reden 'ören kann.«

Es war eine Wanderdrossel, indes mit einer Flügelspanne von knapp einem Meter. Sie trug eine Weste aus seetanggrünem Satin, eine Kappe, ähnlich der von Mudge, sowie einen rot und umbrafarben gemusterten Kilt. Vor der Brust war ein Sack festgeschnürt. Außerdem stellte sie einen halbdurchsichtigen Augenschutz zur Schau, der mit unbekannten Buchstaben beschriftet war.

Drei Stockwerke über dem Boden ragte ein hölzerner Pflock aus dem massigen Baum. Die Drossel kam mit einem eleganten Landemanöver darauf zur Ruhe. Sie langte mit überraschend beweglichen Flügelspitzen in den Brustsack, kramte herum und zog einige kleine Zylinder heraus, bei denen es sich um Schriftrollen handeln mochte.

Der Vogel schob sie in eine dunkle Vertiefung, einen Schlitz oder ein kleines Fenster in der Flanke des Baums. Er trillerte zweimal durchdringend und klang den Drosseln sehr ähnlich, die die Akazie vor der Kinsey-Halle der Uni bevölkerten.

Er beugte sich zu dem Schlitz, bog eine Flügelspitze zum Schnabel und rief deutlich vernehmbar: »Hee, Blödian! Komm hoch mit deim fetten Arsch und sammel deine Post ein! Die verschimmelt hier schon seit drei Tagen, und wenn ich morgen vorbeikomm, und sie ist immer noch da, werd ich sie zum Nestfüttern benutzen!« Es folgte eine Kette von Obszönitäten, die überhaupt nicht zu dem ansonsten freundlichen Verhalten des Vogels passen wollten. Er wandte sich mit mürrischem Tschirpen vom Schlitz weg und murmelte etwas vor sich hin.

»Horace!« rief der Otter. Der Vogel blickte nach unten und ließ sich von der Sitzstange fallen, um über ihnen zu kreisen.

»Mudge? Was machst 'n du hier?« Die Stimme erinnerte Jon an eine andere, die er hin und wieder während einer Reise zu einem anderen exotischen Teil der Welt gehört hatte, einem Bereich, der als Brooklyn bekannt ist. »Hab dich inner letzten Zeit nicht viel inner Stadt gesehn.«

»Bin jagen gewesen, bin ich.«

»Wo haste diese komische Type aufgegabelt?«

»Laaange Geschichte, Kumpel. 'Ab ich recht ge'ört, daß der alte Knacker seit drei Tagen nicht zu 'Ause war?«

»Oh, der is da«, erwiderte der Vogel. »Hexend und zaubernd wie immer. Ich weiß das, weil's immer wieder anders aus diesem Postschlitz stinkt, wenn ich vorbeikomm. Du hast nich zufällig 'n Wurm bei dir, hm?«

»Tut mir leid, Kumpel, mein Geschmack sind e'er Austern und Krabben.«

»Jaa, weiß ich. Fragen kostet nichts.« Er warf Jon-Tom einen hoffnungsvollen Blick zu. »Wie steht's mit dir, Freundchen?«

»Leider nicht.« Begierig, zu gefallen, fummelte er in seinen Jeanstaschen herum. »Wie war's mit 'nem Fruchtdrops?«

»Danke, was 'n Drops ist, weiß ich nicht, aber ich hab mehr Früchte verspeist, als ich ertragen kann. Ich bin bis zu den Arschfedern voll mit Früchten.« Er starrte Jon-Tom noch einen Moment an und verabschiedete sich dann zivilisiert.

»Ich 'ab diese Vögel immer beneidet.« Mudge guckte neidisch. »Flügel sind soviel schneller als Füße.«

»Ich glaube, mir sind richtige Füße und Hände lieber.«

Mudge grunzte. »Das is allerdings 'n Punkt, der nich ganz unwichtig is, Chef.« Sie gingen zur Tür. »Jetzt geht es los. Denk dran«, flüsterte er, »daß du dich so gut wie möglich benimmst, Jon-Tom. Der alte Clodsa'amp soll zwar für 'nen 'Exer ziemlich freundlich sein, aber sie sind allesamt 'ne verschrobene Bande.

Verwandeln dich so schnell in 'nen Mistkäfer, wie sie dich anse'en. Is nich gut, einen zu provozieren, besonders nich einen, der so mächtig und senil is wie der alte Clotzabums 'ier.«

Der Otter klopfte an die Tür, und klopfte nervös nochmals, als keine Antwort kam. Jon-Tom bemerkte Mudges Anspannung und schloß, daß dieser trotz seiner Scherze und schnoddrigen Bemerkungen eine tiefe Angst vor Hexern hatte und allem, was mit ihnen zusammenhing. Die Füße des Otters zuckten und bewegten sich unablässig, während sie warteten. Jon-Tom fiel auf, daß er ihn nie völlig bewegungslos gesehen hatte. Er bemühte sich, den Schmerz in seiner Seite zu ignorieren, und versuchte, aufrecht und würdevoll zu stehen.

Gleich würde sich die Tür knarrend nach innen öffnen, und er würde von Angesicht zu Angesicht einem – zumindest für Mudges Vorstellung – echten, mit Magie arbeitenden Hexer gegenüber stehen. Es war leicht, ihn sich auszumalen: an die zwei Meter groß, gewandet in eine fließende Purpurrobe, die mit mystischen Symbolen bestickt war; das majestätische Haupt gekrönt von einem sternübersäten spitzen Hut. Der Teil des Gesichts, der nicht von einem wallenden weißen Bart verhüllt wurde, wäre faltig und würde finster wirken; und es wäre sehr wahrscheinlich von einer dicken Brille geziert.

Die Tür öffnete sich nach innen. Sie knarrte unheilverkündend. »Guten Morgen«, setzte er an. »Wir...«

Der Rest der sorgfältig vorbereiteten Begrüßung blieb ihm quer in der Kehle stecken, als er in Panik zurückstolperte, strauchelte und fiel. Irgend etwas in seiner Seite riß, und er spürte, wie es dort feucht wurde. Er fragte sich, wie lange er die Wunde noch unbehandelt lassen durfte, und ob er an diesem Ort trügerischer Heiterkeit sterben würde, so weit von zu Hause entfernt, wie man nur sein konnte. Die Ungeheuerlichkeit, die die Türöffnung ausfüllte, trieb auf ihn zu, während er versuchte, davonzukrabbeln, davonzukriechen..

Mudge starrte angewidert auf seinen Schützling und klang sowohl verärgert als auch verlegen, als er sagte: »Also was zum Teufel is jetzt wieder mit dir los? Das is doch nur Pog.«

»Pppog?« Jon-Tom war außerstande, seinen Blick von dem schwebenden Schrecken zu wenden.

»Clods'amps Famulus, du Superblödian! Er..,«

»Ischt egal«, grummelte der gigantische schwarze Fledermäuserich. »Ischt mir egal.« Seine Flügelspitzen kratzten an den Türpfosten, als er in das Portal zurückflatterte. Übergroße rosafarbene Ohren und vier scharfe Fänge fingen das Licht ein. Seine Stimme war unglaublich rauh und hallte, als käme sie aus einer tiefen Kiesgrube. »Ich weisch, dasch ich nicht hübsch bin. Ich habe allerdingsch noch nie jemanden damit umgeworfen.« Er flog wieder heraus, um in Jons Nähe schweben zu, bleiben.

»Du bischt schelbst nicht besondersch anschehnlich, Mensch.«

»Nimm's ihm nich übel, Pog!« Mudge versuchte einen versöhnlichen Tonfall anzuschlagen. »Er is aus seiner Welt in unsere magieriert worden, und er is außerdem verletzt.« Der Otter vermied es diplomatisch zu erwähnen, daß er die Ursache der Verletzung war.

Jon-Tom kämpfte sich unsicher auf die Füße. Blut sickerte rot und warm aus seinem linken Hosenbein.

»'at Clodsa'amp irgendwelche außerweltliche Beschwörungen ausgearbeitet?«

»Ich weisch nicht, jedenfallsch scheint er momentan mehr bei Verschtand alsch schonscht.« Pog stieß ein höhnisches Schnauben aus.

Eine volltönende, kehlige Stimme rief aus den Tiefen des Baumes, eine beeindruckende, wenn auch leicht zittrige Stimme, die Jon-Tom instinktiv als zum Meister-Hexer gehörig erkannte.

»Wer ist da, Pog?«

»Mudge, der Otterjäger, und ein verletschter, dämlich dreinschauender Mensch.«

»Mensch, sagst du?« In der Frage schwang ein erregter Unterton mit. »Herein mit ihnen! Bring sie herein!«

»Kommt!« befahl Pog kurz angebunden. »Scheine Erlaucht möchte euch schehen.« Der Fledermausfamulus verschwand im Innern des Baumes; seine Flügel, größer als die der Drossel, paßten kaum durch die Tür.

»Bis du in Ordnung, Kumpel?« Mudge sah seinen ungewollten Begleiter schwanken. »Warum ‘ast du dich so erschreckt? Pog is nich 'äßlicher als andere Fledermäuse.«

»Es war... es war nicht sein Gesicht, das mich... Es war seine Größe. Da wo ich herkomme, werden Fledermäuse meist nicht so groß.«

»Pog is durchschnittlich, würd ich sagen.« Mudge ließ das Thema fallen. »Komm jetzt und versuch, nicht so stark auf den Boden zu bluten.«

Jon-Tom wies die Hilfe des Otters zurück und stolperte hinter ihm drein. Die Diele war ein Schock. Sie war viel zu lang, um in die Eiche zu passen, obwohl diese einen bemerkenswerten Durchmesser hatte. Dann betraten sie ein Zimmer, das mindestens sieben Meter hoch war. Bücherregale säumten die Wände, vollgepackt mit Folianten jeder Größe und Bindung und deutlich erkennbaren Alters. Weihrauch stieg von einem halben Dutzend Brennern auf, konnte aber das in der Nase beißende Miasma nicht überdecken, das den Raum erfüllte.

Zwischen den Büchern verstreut fanden sich sonderbar befleckte und verschmutzte Tiegel und Schüsseln, Glasfläschchen, Phiolen, Gefäße mit widerwärtigen Objekten und andere befremdliche Utensilien. An den Wänden hingen auf verschiedene Weise behandelte und verzierte Schädel. Zu Jon- Toms Schrecken waren zwei davon offensichtlich menschlich.

Fenster ließen Topaslicht herein. Es tauchte den hohen Raum in Bernstein und Gold und ließ die in der ungesunden Luft tanzenden Staubteilchen lebendig erscheinen. Der Boden war aus Holzschindeln gefertigt. Einige stark benutzte Möbel aus schwerem Holz und Reptilienhaut beherrschten die Mitte des Raumes. Zwei offenstehende Türen führten in schwach beleuchtete andere Räume.

»Das ist einfach unmöglich«, sagte Jon-Tom mit gedämpfter Stimme zu Mudge. »Der ganze Baum ist nicht groß genug, um allein diesem Raum Platz zu bieten, ganz zu schweigen von den anderen und der Diele, durch die wir gerade gekommen sind.«

»Ja, Chef, das is ein 'übscher Trick, is das.« Der Otter klang beeindruckt, wenn auch nicht übermäßig. »Löst bestimmt das Raumproblem, nich? Ich 'abe es in einigen Städten bei den Wohl'abenden gese'en. Glaub mir, der Ausgangszauber kostet 'ne Menge, von den 'äufigen Wieder'olungen ganz zu schweigen. Permanent geschlossene 'yperdimensionale vertexile Ausweitungen sind nich billig, wa?«

»Warum nicht?« fragte Jon-Tom verdutzt, angesichts der geometrischen Unmöglichkeit außerstande, einen intelligenteren Kommentar zu produzieren.

Mudge blickte verschwörerisch zu ihm auf. »Inflation.«

Sie sahen sich um und bemerkten Pog, der aus einem anderen Raum zurückkehrte. »Er schagt, er ischt in ein, schwei Minuten schoweit.«

»Wie ist seine Verfassung?« Jon-Tom sah den Fledermausgehilfen hoffnungsvoll an.

»Er ischt bei Verschtand.« Der geflügelte Famulus balancierte in der Luft und griff mit der winzigen Hand an der Mitte seines linken Flügels in einen an seiner Brust festgeschnürten Beutel. Er war erheblich kleiner als der der Drossel. Die Hand kam mit einer Zigarre zum Vorschein. »Hascht du Feuer?«

»Mir sind die Feuersteine ausgegangen, Kumpel.«

»Eine Sekunde.« Jon-Tom fummelte aufgeregt in seinen Jeanstaschen herum. »Ich habe.« Er zeigte ihnen ein billiges Wegwerffeuerzeug.

Mudge nahm es in Augenschein. »Interessant.«

»Jaa.« Pog flatterte heran. Jon-Tom zwang sich, die Nähe der schimmernden nadelscharfen Fänge zu ignorieren. »Scho einen Feuermacher habe ich noch nie geschehen.« Pog schwenkte die winzige Zigarre im Mund herum.

Jon-Tom drehte das Rädchen. Pog entzündete die Zigarre und paffte zufrieden.

»Laß mich mal se'en, Kumpel!« Jon-Tom überreichte dem Otter das Feuerzeug, der es mit den Pfoten hin und her drehte.

»Wie funktioniert es?«

»So.« Jon-Tom nahm es zurück und drehte das Rad. Funken, aber keine Flamme. Er sah sich den durchscheinenden Boden an. »Kein Gas mehr.«

»Bischt wohl mit einem wertloschen Schauber reingelegt worden?« Pog klang mitfühlend. »Mach dir nichtsch drausch. Und danke für dasch Feuer«, sagte er und blies Rauchquadrate.

»Das hat nichts mit Zauber zu tun«, protestierte Jon-Tom. »Es funktioniert mit Flüssiggas.«

»Ich ließe mir mein Geld zurückgeben«, riet ihm der Otter. Jon-Tom sah auf sein Handgelenk. »Meine Uhr läuft auch nicht mehr. Brauche 'ne neue Batterie.« Er hob die Hand. »Und ich will nichts mehr über Zauber hören.« Mudge zuckte die Achseln und bedachte Jon-Tom mit einem Blick, mit dem man einen debilen Verwandten ansähe. »Na, wo ist denn jetzt dein alter, fauler, sogenannter Hexer?« wandte sich Jon-Tom an Pog.

»HIER DRÜBEN!« donnerte eine machtvolle Stimme. Bebend, da seine ungehörige Bemerkung gehört worden war, drehte sich Jon-Tom langsam um, um dem namhaften Clodsahamp gegenüberzutreten.

Es gab keine fließenden Gewänder und keinen weißen Bart, keinen spitzen Hut und keinen geheimnisvoll gemusterten Mantel. Die dicke Brille aber war da. Irgendwie hielt sie über einem breiten gerundeten Schnabel, genau über winzigen Nasenöffnungen. Die Brille hatte keine Bügel, die nach hinten über Ohren führten, da die Ohren von Schildkröten fast unsichtbar sind.

Ein dickes Buch in der stummelfingrigen Hand, watschelte Clodsahamp zu ihnen herüber. Er war gute dreißig Zentimeter kleiner als Mudge.

»Ich wollte nicht respektlos sein«, hatte Jon-Tom die Geistesgegenwart zu sagen. »Ich wußte nicht, daß Sie im Raum sind, und ich bin fremd hier, und ich...«

»Unsinn, Junge.« Clodsahamp lächelte und wedelte die bevorstehende Entschuldigung beiseite. Seine Stimme hatte einen normalen Tonfall angenommen, das hexerische Donnern war verschwunden. »Ich bin nicht leicht zu beleidigen. Wäre solches der Fall, wäre es mir unmöglich, mich mit ihm abzufinden.« Er zeigte mit dem Daumen in Pogs Richtung.

»Einen Augenblick, bitte!«

Er sah an sich herunter. Jon folgte dem Blick und bemerkte einige kleine Knopfgriffe, die aus dem Panzer des Hexers ragten. Clodsahamp zog mehrere heraus und enthüllte winzige Schubladen, die in seine Vorderseite eingebaut waren. Entschuldigungen murmelnd, suchte er nach irgend etwas.

»Die einzige Möglichkeit zu verhindern, daß ich die wirklich wichtigen Pulver und Flüssigkeiten verliere«, erläuterte er.

»Aber wie können Sie... ich meine, tut das nicht weh?«

»Beim Himmel, nein, Junge!« Er stieß ein ansteckendes Kichern aus. »Ich verwende dieselbe Technik, die mir ermöglicht, das Innere meines Baumes zu vergrößern, ohne das mit dem Äußeren auch zu tun.«

»Der prahlt hier rum«, meckerte Pog, »während der arme Kerl offenschichtlich Schmerschen hat.«

»Hüte deine Zunge!« Der Famulus flatterte in engen Kreisen herum, sagte aber nichts mehr. »Ich muß seine Impertinenz im Zaum halten.« Clodsahamp blinzelte. »Das letzte Mal habe ich ihn fixiert, so daß er nur mit der rechten Seite nach oben schlafen konnte. Ihr hättet ihn sehen sollen, wie er versuchte, an den Ohren zu hängen!« Er kicherte wieder.

»Aber in Anwesenheit von Gästen verliere ich nicht gern den Gleichmut. Ich kultiviere eine Reputation für Sanftmütigkeit. Also dann«, sagte er mit professionellem Unterton, »schauen wir uns mal deine Verletzung an.«

Jon-Tom sah dem Schildkrötenzauberer zu, wie er sanft den groben Verband beiseite zog, den Mudge angelegt hatte. Stummelfinger betasten das feuchtglänzende blutige Fleisch, und der junge Mann stöhnte.

»Verzeihung! Besser, du setzt dich hin.«

»Vielen Dank.« Sie gingen zu dem in der Nähe stehenden Sofa, dessen Beine einmal einem Wesen von nicht mehr rekonstruierbarer Gestalt gehört haben mußten. Jon ließ sich vorsichtig nieder, da die Polster sich kaum fünfzehn Zentimeter über dem Boden befanden, eine Höhe, die für das niedrige Hinterteil der Schildkröte angenehm war.

»Stichwunde.« Clodsahamp betrachtete nachdenklich die häßliche Verletzung. »Allerdings nicht tief. Das haben wir bald wieder in Ordnung gebracht.«

»Entschuldigung, Eure 'Exerschaft«, mischte sich Mudge ein.

»Bitte um Vergebung, aber ich 'abe immer ge'ört, daß es zauberische Gepflogen'eit is, sich für magische Dienste im voraus bezahlen zu lassen.«

»Das ist in diesem Falle kein Problem... was hast du gesagt, wie dein Name lautet?«

»'Abe ich nich, aber er lautet Mudge.«

»Hmpf. Wie ich sagte, wird die Bezahlung für diesen Jungen kein Problem sein. Wir werden diese kleine Reparatur einfach als Vorauszahlung auf seine Dienste ansehen.«

»Dienste?« Jon-Tom guckte argwöhnisch. »Was für Dienste?«

»Er is eigentlich zu über'aupt nichts gut, soviel ich gese'en 'abe«, piepste Mudge dazwischen.

»Ich erwarte kein Verständnis von einem bloßen Aasesser, wie Ihr einer seid, Herr Mudge.« Der Hexer rückte überheblich die Brille zurecht. »In der Welt waren Kräfte am Werk, die nur ich voll begreifen konnte und mit denen umzugehen nur ich ausreichend gerüstet bin. Die Anwesenheit dieses Jungen hier ist nur ein kleiner Teil eines gefährlich komplexen Puzzles.«

Da! dachte Mudge triumphierend. Wußte doch, daß er herumgepfuscht hat.

»Er ist offensichtlich derjenige, nach dem ich letzte Nacht gegriffen habe. Siehst du – er ist selbst ein Hexer.«

»Wer... er?« Mudge lachte otterisch, hoch und quiekend, nach der Art eines altklugen Kindes. »Sie machen Witze, Chef.«

»Ich scherze nicht in Angelegenheiten von derart gravierender und wichtiger Bedeutung«, erklärte Clodsahamp düster.

»Jaaa, gut, aber er ein 'Exer? Er konnte nich mal den Zauber seines Feuermachers erneuern.«

Der Schildkrötenzauberer seufzte und sagte langsam: »Da er aus einer Welt, aus einem Universum kommt, das von unserem differiert, steht zu erwarten, daß auch einiges seiner Magie von der unsrigen abweicht. Ich bezweifle, daß ich in seiner Welt von meinen formidablen Talenten Gebrauch machen könnte. Aber überall in der Welt, Mudge, ist eine furchteinflößende interdimensionale Magie tätig. Um sie erfolgreich zu meistern, benötigen wir die Unterstützung und das Wissen einer Person, die mit ihrer Wirkweise vertraut ist.« Er sah besorgt aus, als würde irgendein unsichtbares Joch auf ihm lasten, das er seinen Zuhörern auch weiterhin zu verbergen wünschte.

»Er ist der Magier, nach dem ich suchte. Ich habe viele neue und unerprobte Worte verwandt, viele seltene und schwer zu mischende Formeln und Intergramme. Ich habe stundenlang und unter großer Anspannung gesucht und hinausgegriffen. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, jemanden zu lokalisieren, als ich zufällig auf diesen umhertreibenden Geist stieß, so verfügbar und frei.«

Jon-Tom erinnerte sich, was er geraucht hatte, er war umhergetrieben, kein Zweifel. Aber was sollte das alles – daß er ein Hexer-Magier sei?

Scharfblickende Augen starrten durch dicke Linsen in seine Augen. »Sag mir, Junge, sind nicht die Hexer und Magier deiner Welt als Inschinnscheure bekannt?«

»Inschinn... Ingenieure?«

»Ja, so klingt es wohl richtig, denke ich.«

»Ich schätze, das ist eine ziemlich gute Analogie.«

»Siehst du?« Der Hexer wandte sich wissend an Mudge.

»Und mit seinen Diensten wird er zurück zahlen.«

»Äh, Herr Hexer...?« Aber Clodsahamp war hinter einem hoch aufragenden Bücherstapel verschwunden. Leises Klirren wurde hörbar.

Mudge war jetzt überzeugt, daß es ihm viel besser ergangen wäre, wenn er nie dieses Granbit verfolgt oder einen Blick auf diesen eigentümlich schlaksigen jungen Menschen geworfen hätte. Er betrachtete die zusammengesackte Gestalt des jungen Mannes. Jon-Tom redete zwar ziemlich koboldhaft... aber ein Hexer? Trotzdem, man konnte nie ganz sicher sein, wenn man es mit hexerischem Treiben zu tun hatte; besonders nicht, was den Augenschein anging. Normale Leute taten gut daran, so etwas zu meiden.

Wie war ein Hexer zu erklären, der keinen einfachen Feuermacher zaubern und noch viel weniger seine Verletzung heilen konnte? Angst und Verwirrung des Jungen waren ziemlich real, und beide sprachen nicht für die Natur von Hexern. Vielleicht war es das beste, abzuwarten und zu sehen, welche verborgenen Fähigkeiten dieser Jon-Tom noch enthüllen würde. Sollten diese Fähigkeiten plötzlich zum Vorschein kommen, wäre es außerdem ratsam sicherzustellen, daß er vergaß, wer ihm das Loch in die Rippen beschert hatte.

»Also, Junge, scher dich gar nich drum, was Clodsa'amp über Bezahlung und so sagt. Ganz egal, was es schließlich kostet, wir werden uns darum kümmern. Ich fühle mich irgendwie verantwortlich dafür.«

»Das ist sehr freundlich von dir, Mudge.«

»Ja, ich weiß. Geld erwähnst du gegenüber seiner Erlaucht am besten erst gar nicht.«

Beladen mit Flaschen und sonderbaren Keramikbehältern, watschelte der Schildkrötenmagier zu ihnen zurück. Er arrangierte die Kollektion ordentlich auf den Holzschindeln vor dem Sofa, wählte verschiedene Gefäße aus und mischte ihren Inhalt in einer Bronzeschüssel zwischen Jon-Toms Beinen. Dann mengte er der trüben Pfütze in der Schüssel ein gelbes Pulver bei, worauf ein kaum hörbares Murmeln folgte. Mudge und Jon-Tom griffen sich an die Nase. Die Paste produzierte plötzlich einen Duft von unbeschreiblicher Widerwärtigkeit.

Clodsahamp fügte noch ein letztes Quentchen blaues Pulver bei, rührte die Mixtur um und schmierte sie direkt auf die offene Wunde. Gedanken an eine Infektion schwanden, als Jon-Tom bemerkte, daß die Paste sich dämpfend auf den Schmerz auswirkte.

»Pog!« Clodsahamp schnippte mit kurzen Fingern. »Bring mir einen kleinen Tiegel, den mit den seitlich eingravierten Sonnensymbolen!«

Jon-Tom glaubte, gehört zu haben, wie die Fledermaus gemurmelt hatte: »Warum holscht du ihn dir nicht schelbscht, du fauler, fetter Vetter einer Muschel.« Aber er war sich nicht sicher.

Jedenfalls sagte Pog nichts, als er mit dem gewünschten Utensil zurückkehrte. Er deponierte den Tiegel zwischen Jon- Tom und dem Hexer und flatterte dann aus dem Weg.

Clodsahamp maß die Paste in den Tiegel und fügte eine übel riechende Flüssigkeit aus einer giftigschwarzen Flasche und dann eine Prise einer braunroten Substanz aus einem Schubfach neben seinem rechten Arm hinzu. Jon-Tom fragte sich, ob die eingebauten Laden des Hexers wohl manchmal juckten.

»Wo zum Teufel habe ich diesen Zauberstab... äh!« Unter beständigem Murmeln machte der Zauberer sich daran, die Flüssigkeit mit einem kleinen Ebenholzstab umzurühren, den Silber- und Amethyst-Intarsien zierten.

Die Paste in dem Tiegel hatte die Konsistenz einer dicken Suppe angenommen. Sie begann in tiefem Smaragdgrün zu glühen. Winzige Explosionen brachen durch die Oberfläche und spiegelten sich in Jon-Toms aufgerissenen Augen. Das Gemisch roch jetzt nach Zimt statt nach Sumpfgas.

Der Hexer nahm mit seinem Stab ein wenig von der Flüssigkeit heraus und kostete sie. Augenscheinlich zufrieden, nahm er den Stab an beiden Seiten zwischen Daumen und Zeigefinger und führte ihn in flachen Stößen über den kochenden Tiegel. Die Funken auf der Oberfläche der Flüssigkeit nahmen an Leuchtkraft und Häufigkeit zu.

»Terra bakteria, Rot für Muskel, Blau für Blut, Desintegration, Agglutination, Konfrontation, Vereint euch überlegen. Pyroxin für Nerven, Penicillin für Gerinsel. Chirurgische Kräfte, Herd der Schwäche, ich gebiete: Beendet euren unerquicklichen Kampf!«

Jon-Tom lauschte völlig verwirrt. Da war keine kehlige Anrufung von Salamanderschwänzen oder Fledermauszähnen. Kein Spinnenblut und keine Ochsenaugen; allerdings erfuhr er auch nichts über die Pulver und Flüssigkeiten, die der Hexer eingesetzt hatte. Clodsahamps mystischer Singsang von Pyroxin, agglutinieren und so weiter klang verdächtig nach dem, was ein praktizierender Arzt vielleicht in einer Anwandlung nicht unterdrückbarer Albernheit zum eigenen Vergnügen schreiben würde.

Sobald die Rezitation beendet war, fragte Jon-Tom nach den Worten.

»Das sind die magischen Worte und Symbole, Junge.«

»Aber sie bedeuten tatsächlich etwas. Ich meine, sie haben Bezug zu wirklichen Dingen.«

»Natürlich haben sie das.« Clodsahamp starrte Jon an, als sei er mehr um dessen geistige Gesundheit besorgt als um die Wunde. »Was sollte realer sein als die Komponenten der Magie?« Er wies mit dem Kopf auf die Armbanduhr. »Ich bin mit deinem Zeitmesser nicht vertraut, doch ich akzeptiere, daß er gut die Zeit anzeigt.«

»Das ist allerdings nicht magisch.«

»Nein? Erklär mir genau, wie er funktioniert.«

»Es ist ein Quarzkristall. Die Elektronen fließen durch... ich meine...« Er gab auf. »Es ist nicht mein Fachgebiet. Aber es funktioniert elektrisch und nicht mit magischen Formeln.«

»Wirklich? Ich kenne viele elektrische Formeln.«

»Aber, verdammt, es läuft mit einer Batterie!«

»Und was befindet sich in jenem Ding, das du als Batterie bezeichnet hast?«

»Gespeicherte elektrische Energie.«

»Und es gibt keine Formel, um das zu erklären?«

»Natürlich gibt es die. Aber es ist eine mathematische Formel, keine magische.«

»Du willst behaupten, Mathematik sei keine Magie? Was für ein Hexer beanspruchst du zu sein?«

»Das versuche ich ja Ihnen die ganze Zeit zu sagen, ich bin...« Aber Clodsahamp hob schweigengebietend die Hand und überließ es dem frustrierten Jon-Tom, sich in wortlos kochender Wut über die Halsstarrigkeit des Hexers zu ergehen.

Jon-Tom begann über das nachzudenken, was der Hexer gerade gesagt hatte, und wurde zunehmend verwirrter.

Zu den feurigen Explosionen, die auf der Oberfläche des Pastengebräus tanzten, war eine Farbänderung von Grün nach Gelb und ein beständiges Pulsieren gekommen. Clodsahamp legte zeremoniell den Stab beiseite. Er hob den Tiegel und bot ihn den vier Himmelsrichtungen dar. Dann neigte er ihn und trank den Inhalt.

»Pog.« Er wischte sich Paste vom Schnabel.

»Ja, Meister.« Die Stimme der Fledermaus klang ehrerbietig Clodsahamp reichte ihm den Tiegel und dann die Bronzeschüssel. »Spülarbeit.« Die Fledermaus nahm beide Behälter und flatterte in eine entfernte Küche.

»Nun, wie ist es, mein Junge?« Clodsahamp sah ihn mitfühlend an. »Geht es dir besser?«

»Sie meinen... das war es? Sie sind fertig?« Jon-Tom sah an sich herunter. Die häßliche Wunde war vollständig verschwunden. Das Fleisch war glatt und ebenmäßig, der einzige Unterschied bestand darin, daß die neue Haut nicht sonnengebräunt war wie der Rest des Rumpfes. Er bemerkte, daß auch der Schmerz nicht mehr da war.

Probehalber drückte er auf die ehemals blutige Region. Nichts. Er wandte der Schildkröte einen großäugig staunenden Blick zu.

»Bitte.« Clodsahamp wandte sich ab. »Nackte Bewunderung macht mich verlegen.«

»Aber wie...?«

»Die Beschwörungen haben dich geheilt, mein Junge.«

»Was war dann der Zweck von dem Zeug in der Schüssel?«

»Das? Oh, das war mein Frühstück.« Clodsahamp grinste, soweit es sein Schnabel zuließ. »Es hat dich außerdem wundervoll abgelenkt, während du genast. Einige Patienten regen sich erheblich auf, wenn sie mit ansehen, wie ihre Körper heilen... der Anblick kann manchmal höchst unappetitlich sein. Also stand ich vor der Wahl, dich einzuschläfern oder abzulenken. Das letztere war sicherer und einfacher. Außerdem war ich hungrig.

Und jetzt, denke ich, sollten wir uns dem Thema zuwenden, dessenthalben ich dich aus deiner Welt in diese Welt gezogen habe. Weißt du, ich nahm einige beachtliche Schwierigkeiten auf mich – von der Gefahr ganz zu schweigen -, als ich die Tore zwischen den Dimensionen öffnete und die Raum-Zeit beugte. Aber zuerst ist es notwendig, diesen Raum zu versiegeln. Geh dort hinüber, bitte!«

Immer noch sprachlos ob seiner erstaunlichen Genesung, trat Jon-Tom gehorsam bis zu einem Bücherregal zurück. Mudge schloß sich ihm an, ebenso der zurückkehrende Ppg.

»Tiegel schrubben«, grummelte die Fledermaus verhalten. Clodsahamp hatte seinen Zauberstab ergriffen und schwenkte ihn, kryptisch murmelnd, durch die Luft. »Dasch ischt allesch, wasch ich hier mache, die Teller waschen, die Bücher bringen, den Dreck bescheitigen.«

»Wenn dich das so anwidert, warum bleibst du dann hier?« Jon-Tom sah den Fledermaus-Famulus mitfühlend an. Er hatte sich fast an dessen Scheußlichkeit gewöhnt. »Willst du so unbedingt Hexer werden?«

»Scheische, nein!« Pogs grobe Verdrießlichkeit machte heftiger Erregung Platz. »Hexerei ischt eine mächtig gefährliche Schache.« Er flatterte näher. »Ich habe mich alsch Gegenleischtung für eine volle permanente Totalumwandlung mit einem Lehrvertrag an dasch alte Wrack gebunden. Ich musch nur noch ein paar Jahre auschhalten... denke ich bevor ich meine Beschahlung verlangen kann.«

»Was für 'ne Verwandlung ‘ast du im Auge, Kumpel?«

Pog wandte sich dem Otter zu. »Kennscht du den Teil der Schtadt am Ende der Avenue der Paschgänger? Dasch grosche alte Gebäude, dasch über die Schtälle gebaut wurde?«

»'Türlich, was treibst du da 'erum? Du paßt nich in diese Kreise. Das is eine teure Gegend, is das.« Die Barthaare des Otters bebten über einem breiten Grinsen.

»Ich weisch, ich weisch«, bekannte der untröstliche Pog. »Ich habe einen Freund, der bei den Rennen grosch abschahnte und mich eine Nacht schum Feiern dorthin mitnahm. Er kennt Madame Scorianscha, die dasch Hausch für Flügelträger führt. Da gibt esch ein Mädchen, dasch da arbeitet, gerade eben erseht flügge geworden, dasch schuperbeschte Falkenweib, dasch ihr je geschehen habt. Schie heischt Uleimee, und schie ischt«, – er tanzte fast in der Luft, als er zurückdachte -, »dasch exquischiteschte aller Weschen mit Flügeln. Scholche Gratschie, scholche Farbe und Kraft, Mudge! Ich dachte, ich schterbe vor Ekschtasche.« Die Erregung der Erinnerung zitterte in der Luft.

»Aber schie will nichtsch mit mir schu tun haben, wenn ich nicht schahle wie jeder andere auch. Schie ischt vernarrt in einen reichen alten Fischadler, der drüben in Winztraubental eine Advokaturkanschlei hat. Mit mir macht schie gerade mal einen schnellen Looping, aber wann immer diescher Bursche auch nur mit einer Feder schnippt, ischt schie bereit, mit ihm um die Welt schu fliegen.«

»Dann vergiß sie doch, Kumpel!« riet ihm Mudge. »Es gibt andere Vögel, und nicht nur bei Madame Scorianza, und einige davon sind verdammt gut ausse'ende Fledermäuse. Ein Flug'undmädchen, das ich 'ier in der Stadt gese'en 'abe, darf immer seine Flügel um mich legen, wa.«

»Mudge, du bischt nie verliebt geweschen, nicht?«

»Natürlich bin ich... oft.«

»Scho hatte ich esch mir vorgeschtellt. Ich kann nicht erwarten, dasch du verschtehscht.«

»Ich verstehe.« Jon-Tom nickte wissend. »Du willst, daß Clodsahamp dich in den größten, schnellsten Falken überhaupt transformiert, richtig?«

»Mit dem gröschten Schnabel«, ergänzte Pog. »Dasch ischt der einschige Grund, warum ich diesche gansche Warterei bei dieschem alten, tattrigen, knickrigen Grieschgram auschhalte. Ich konnte esch mir nie leischten, für eine permanente Totalumwandlung schu schahlen. Ich musch mich dafür schinden.«

Jon-Tom wandte den Blick wieder der Mitte des Raumes zu. Der tattrige, knickrige alte Griesgram, der auf rätselhafte Weise die Stichwunde kuriert hatte, winkte ihnen, zu ihm zurück zu kommen. Die Fenster wurden rasch dunkel.

»Kommt näher, meine Freunde!« Mudge und Jon-Tom gehorchten; Pog hing sich an die Oberkante eines in der Nähe stehenden Bücherregals.

»Eine schwere Krise droht über uns herein zu brechen«, sagte der Hexer ernst. Im Baum wurde es immer dunkler. »Ich kann es in der Bewegung der Würmer in der Erde spüren, an der Art und Weise, wie die Winde miteinander flüstern, wenn sie sich unbelauscht glauben. Ich nehme es in dem Muster der Regentropfen wahr, im frühen Fall der Blätter des vergangenen Herbstes, im Ruf der widerstrebenden Wintersämlinge und in dem nervösen Bauchkriechen der Schlange. Die Wolken über uns stoßen zusammen, so interessiert sind sie an den Ereignissen, die unter ihnen Gestalt annehmen, und sogar der Erde selbst stockt manchmal das Herz.

Es ist eine Krise unserer Welt, aber ihr wesentlicher Kern, ihr Zentrum, kommt aus einer anderen... aus deiner Welt.« Und er zeigte mit einem kurzen Finger auf den schockierten Jon-Tom.

»Ruhig, mein Junge! Du selbst hast nichts damit zu tun.« Im Baum war es jetzt nachtdunkel. Jon-Tom spürte die Dunkelheit wie ein Gewicht im Nacken. Oder kamen andere Dinge unsichtbar näher, versammelten sich, kämpften darum, durch den schützenden Mantel zu horchen, den der Zauberer dicht um den Baum gelegt hatte?

»Einem ungeheuerlichen Übel ist es gelungen, die Gesetze von Magie und Vernunft auf den Kopf zu stellen, Beschwörungen schrecklicher Macht von deiner Welt in unsere zu bringen, um unsere friedlichen Lande zu bedrohen.

Es liegt jenseits meiner schwachen Fähigkeiten zu bestimmen, was diese Macht ist, oder gar mit ihr fertig zu werden. Nur ein großer Inschinnscheur-Magier hat vielleicht den Schlüssel zu dieser Bedrohung. Es ist eine elende Schwierigkeit, das Tor zwischen den Dimensionen zu öffnen, und doch hatte ich nach einer solchen Person zu suchen. Es kann nur ein oder zweimal im Jahr getan werden, so groß ist die Belastung bestimmter Teile des Geistes. Da also hast du den Grund, warum du jetzt unter uns weilst, mein junger Freund.«

»Aber ich versuche es Ihnen doch dauernd zu sagen: Ich bin kein Ingenieur.«

Clodsahamp wirkte bestürzt. »Das ist nicht möglich. Die Tore konnten sich nur zum Durchlaß eines Inschinnscheurs öffnen.«

»Es tut mir ehrlich leid.« Jon-Tom breitete hilflos die Hände aus. »Ich bin nur Student der Rechtsgeschichte und Möchtegern- Musiker.«

»Das ist unmöglich... zumindest denke ich, daß es unmöglich ist.« Plötzlich sah Clodsahamp tatsächlich sehr alt aus.

»Was is denn das für eine vermaledeite Krise?« wollte der unbezähmbare Mudge wissen.

»Das weiß ich nicht mit Genauigkeit. Mit Sicherheit weiß ich nur, daß sie sich um irgendeine machtvolle Magie gruppiert, die aus der Welt-Zeit dieses Jungen gerissen wurde.« Eine hornige Hand hämmerte auf einen Tisch, ließ Gefäße und Behälter tanzen. Donner flutete durch den Raum.

»Die Beschwörung konnte nur bei einem Inschinnscheur funktionieren. Mein Suchen und Greifen war blind, und ich war müde, aber darin kann ich mich nicht irren.« Er holte tief Luft.

»Junge, du sagst, du bist Student?«

»Richtig.«

»Ein Inschinnscheurstudent vielleicht?«

»Tut mir leid. Rechtsgeschichte. Und ich glaube auch nicht, daß eine elektrische Amateurgitarre mich qualifiziert. Außerdem arbeite ich zeitweilig als Hausmeister bei... he, einen Moment!« Er guckte betroffen. »Mein offizieller Titel ist Sanitäringenieur*.«

[*In den USA werden Hausmeister und Kalfaktoren oft beschönigend als 'Sanitation Engineer‹ (wörtlich übersetzt ›Sanitätsingenieur‹ ) bezeichnet. -. d. Übers. ] Clodsahamp stöhnte verzweifelt auf und ließ sich auf das Sofa sacken. »So endet die Zivilisation.«

Pog löste sich vom Bücherregal, flog so hoch wie möglich und stieß ein entzücktes Grummeln aus. »Wundervoll! Herrlich! Ein Dunghexer, ein Abfallhexer!« Er liei sich jäh nach unten sacken und fing sich flatternd vor Jon ab. »Willkommen, o willkommen, allerhöchschter erhabener Hexer! Bleib und hilf mir, all den Schmutsch in dieschem Dreckloch verschwinden schu laschen!«

»HINFORT! donnerte Clodsahamp in einem Ton, der besser zu der Kehle eines Berges als der einer Schildkröte paßte. Jon- Tom und Mudge erbebten, als das unnatürliche Röhren den Raum erfüllte; Pog wurde gegen die hintere Wand des Baumes geworfen. Er trudelte fast bis auf den Boden, bevor er sich mit zitternden Flügeln wieder fing. Dann huschte er durch eine Seitentür davon.

»Lästerlicher Schwätzer!« Der Schildkrötenzauberer sprach wieder mit normaler Stimme. »Ich weiß nicht, warum ich ihn in meinen Diensten behalte...« Er seufzte, rückte die Brille zurecht und sah Jon-Tom traurig an.

»Es ist nun ziemlich klar, was geschehen ist, mein Junge. Ich war bei der Definition der Parameter des Zaubers nicht präzise genug. Ich bin eine alte Schildkröte und sehr müde. Unsaubere Arbeit hat ihren gerechten Lohn erhalten.

Ich habe Monate gebraucht, die Beschwörung vorzubereiten. Vier Monate sorgfältiges Studium der Runen, Zusammenstellung der erforderlichen Materialien und Zitationen, ein großer Kessel voll gekochter subatomarer Partikel und so weiter – und zum Schluß kommst du heraus.«

Jon-Tom fühlte sich gegen alle Vernunft schuldig.

»Mach dir deshalb keine Sorgen, mein Junge! Du kannst daran nichts ändern. Ich muß einfach noch mal von vorn beginnen.«

»Was passiert, wenn Sie es nicht rechtzeitig schaffen? Wenn Sie nicht die Hilfe erhalten, die Sie für nötig halten?«

»Dann werden wir vielleicht alle sterben. Was aber nur ein kleines Intermezzo im universellen Plan der Ereignisse ist.«

»Mehr nicht?« fragte Jon-Tom sarkastisch. »Nun ja, ich habe Arbeit, an die ich zurück muß. Es tut mir wirklich leid, daß ich nicht das bin, was Sie erwartet haben, und ich habe für die Heilung meiner Wunde zu danken. Aber ich würde es wirklich begrüßen, wenn Sie mich zurückschicken könnten.«

»Ich glaube nicht, daß das möglich ist, mein Junge.«

Jon-Tom versuchte, seine Panik nicht durchklingen zu lassen.

»Falls Sie dieses Tor oder was immer für mich öffnen könnten, könnte ich vielleicht den Ingenieur suchen, den Sie brauchen. Jede Art von Ingenieur. Meine Universität ist voll davon.«

»Dessen bin ich sicher«, erklärte Clodsahamp milde.

»Andernfalls hätte das Tor das Gewebe deiner Welt nicht an dem gegebenen Ort und der entsprechenden Zeit durchstoßen. Ich habe durchaus im richtigen Gebiet gefischt und dabei einfach nur das falsche Subjekt geangelt.

Dich zurück zu schicken, ist keine Frage der freien Wahl, sondern der Zeit und der Vorbereitung. Bedenke, daß ich dir sagte, daß eine derartige Beschwörung Monate verlangt, und ich muß mich möglichst ein volles Jahr erholen, bevor ich die Anstrengung noch einmal riskieren kann. Und wenn ich das tue, so fürchte ich, muß es wegen wichtigerer Dinge geschehen, als dich zurück zu senden. Ich hoffe, du verstehst das, aber es macht nichts, wenn du es nicht verstehst.«

»Was ist mit einem anderen Hexer?« fragte Jon-Tom hoffnungsvoll.

Clodsahamp klang stolz. »Ich wage zu behaupten, daß auf der ganzen Welt kein anderer die nötigen Sprüche und physikalischen Verwindungen zu handhaben vermag. Sei versichert, daß ich dich zurück schicken werde, sobald es mir möglich ist.« Er tätschelte Jon-Tom väterlich die Schulter und mahnte ihn mit wackelndem Zeigefinger.

»Keine Angst! Wir werden dich zurück senden. Ich hoffe nur«, fügte er bedauernd hinzu, »daß ich dazu imstande bin, bevor die Krise ausbricht und wir alle dahingeschlachtet werden.« Er flüsterte ein paar Worte und schwenkte abwesend seinen Zauberstab.

»Lichtrefraktion nicht mehr bestehe, Solare Verwünschung auch vergehe. Bitterkeit gib Retina und Zäpfchen frei, Moleküle, fließt aufs neu.«

Das Licht kehrte voll und höchst willkommen in das dimensional verzerrte Innere des Baumes zurück. Mit der Dunkelheit verschwand auch Jon-Toms Eindruck unsauberer Dinge, die über seinen Rücken krochen. Von den Ästen draußen drang wieder das Singen der Flugechsen herein.

»Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich es erwähne – aber Ihre Magie ist überhaupt nicht das, was ich erwartet habe«, erklärte Jon-Tom.

»Was hast du erwartet, mein Junge?«

»Da wo ich herkomme, werden magische Formeln immer mit Tränken aus Spinnenbeinen und Kaninchenfüßen zurechtgemacht und... ach, ich weiß nicht! Mystische Wörter aus dem Lateinischen und anderen alten Sprachen.«

Mudge schnaubte höhnisch, während Pog, der durch eine Türöffnung lugte, sich ein quiekendes Kichern erlaubte. Clodsahamp schenkte dem Paar nur einen mißbilligenden Blick.

»Was Spinnenbeine angeht, mein Junge, die Kleinen unter unseren Füßen sind so gut wie zu nichts nutze. Die Größeren hingegen... aber ich habe nie meinen Aufenthalt in Gossameringu genommen und rechne auch in Zukunft nicht damit.« Clodsahamp deutete mit einer Geste Spinnen an, die so lang waren wie sein Arm; Jon-Tom hielt seine Frage nach Gossameringu zurück; er hatte kein sonderliches Interesse am Aufenthaltsort von Spinnen dieser Größenordnung.

»Und was die Kaninchenfüße betrifft, rechne ich damit, daß jedes Kaninchen, das auch nur ein wenig Selbstachtung im Leibe hat, mich aufschlitzt und als Waschbecken benutzt, falls ich die Idee zur Sprache bringe. Die Worte und Prozeduren sind über die Zeit durch Experimente erprobt und werden während der Sitzungen des Großrats der Zauberer in Übereinkunft gebracht.«

»Aber was verwenden Sie dann, um einen Durchgang zu einer anderen Dimension zu öffnen?«

Clodsahamp trat verschwörerisch näher. »Du verstehst sicherlich, daß es mir nicht gestattet ist, Zunftgeheimnisse zu verraten. Aber ich denke, du wirst dich nicht einmal daran erinnern. Man benötigt ein paar Germaniumkristalle, ein Quentchen Molybdän, einen Teelöffel Californium... und mit diesen kurzlebigen Superschweren zu arbeiten, ist eine königliche Qual, kann ich dir verraten. Dazu kommen ein paar reguläre Radioaktive und ein, zwei Transurane, deren Beschaffung eme Herausforderung für sich ist.«

»Wie finden Sie...?«

»Das ist eine andere Formel. Dabei geht es um Ingredenzien, die ich einem Nichteingeweihten gegenüber eindeutig nicht erwähnen darf. Du plazierst die gesamte Reaktionskette in den größten Kessel, den du hast, rührst gut um, tanzt dreimal in Mondrichtung um das nächste Nickel- und Zinklager und... aber genug der Geheimnisse, Junge!«

»Komische Art von Magie. Klingt fast wie wirkliche Wissenschaft.«

Clodsahamp sah ihn enttäuscht an. »Habe ich dir das nicht bereits erklärt? Magie ist fast überall ziemlich gleich, ganz egal, in welcher Welt oder Dimension du existierst. Nur die Zaubersprüche und Formeln sind unterschiedlich.«

»Sie sagen, daß ein Kaninchen sich weigern würde, einen Fuß herzugeben. Sind Kaninchen auch intelligent?«

»Mein Junge, mein Junge!« Clodsahamp ließ sich müde auf dem Sofa nieder, das unter seinem Gewicht krachte. »Alle Warmblüter sind intelligent. So sollte es auch sein. Das ist so, seit wir eine Geschichte haben. Auch die Vögel verfügen darüber; nur die Reptilien nicht – bis auf uns Schildkröten, aus bestimmten Gründen. Und die Einwohner von Gossamringu und der Grünhügellande natürlich. Und je weniger wir über jene reden, desto besser.« Er musterte Jon-Tom.

»Da wir dich also nicht nach Hause schicken können, mein Junge, was fangen wir mit dir an...?«