I
Die Bürger von Pelligrew lachten über die Invasoren. Obwohl sie von allem zivilisierten Volk den Grünauen am nächsten wohnten, fürchteten sie die schrecklichen Einwohner jener Gebiete nicht. Ihre Stadt hatte Mauern und Wälle und schmiegte sich in die zerklüftete Flanke eines Berges. Der einzige Zugang führte über einen schmalen Pfad, der, wie es hieß, von fünf alten Frauen und ein paar Säuglingen gehalten werden konnte.
Als also der Führer des absurd kleinen Stoßtrupps ihre Kapitulation forderte, lachten sie und warfen Müll und Nachtdung auf ihn hinunter.
»Geht nach Haus!« forderten sie ihn auf. »Geht zurück in eure stinkenden Häuser und zu euren scheißefressenden Müttern, bevor wir unseren Berg mit eurem Blut schmücken!«
Sonderbarerweise erregte dies den Führer des Trupps nicht. In der Stadt wiesen einige wenige darauf hin und machten sich Sorgen, aber alle anderen lachten weiterhin.
Der Führer begab sich zurück zu seinen Truppen, seine Würde war unverletzt. Er wußte, was ihm versprochen war.
Schließlich erreichte er ein Zelt, das größer und dunkler war als die anderen. Hier wurde er schwankend in seinem Mut, denn es machte ihm kein Vergnügen, mit dem zu sprechen, der darin hauste. Und doch war es an ihm, es zu tun. Er trat ein.
Obwohl es draußen später Morgen war, herrschte im Innern Dunkelheit, schwarz und schwer vom Gestank verderbter Dinge und der Nähe des Todes. Im Hintergrund des Zeltes, um wimmelt von Gehilfen, wartete der Hexer. Hinter ihm stand der Born des Bösen.
»Um Vergebung, Meister!« begann der Führer der Soldaten und berichtete von dem verachtungsvollen Empfang durch die Pelligrewer.
Als er geendet hatte, sprach die zusammengekauerte Gestalt aus der Dunkelheit des Zeltes: »Kehr zu deinen Soldaten zurück, guter Hauptmann, und warte dort!«
Der Gruppenführer entfernte sich eilig, froh, daß er diesem unsauberen Ort entkommen war und wieder unter seiner Truppe sein durfte. Aber es war schwer, dort einfach nur zu warten, hilflos vor der unübersteigbaren Mauer, während die Städter spotteten und lachten und seinen wütenden Soldaten ihre Hinterteile darboten.
Plötzlich wurde es dunkel; der Himmel nahm die Farbe von Blei an. Es donnerte, doch Wolken waren nicht zu sehen. Dann verschwand die Mauer von Pelligrew, wurde zusammen mit einer Vielzahl ihrer entgeisteten Verteidiger zu Staub. Einen Augenblick lang waren auch seine Krieger gelähmt. Dann belebte sie der Blutdurst, und sie schwärmten kreischend vor frohlockender Erwartung in die ungeschützte Stadt.
Das Gemetzel war allumfassend. Keine Seele blieb am Leben. Diejenigen, die Fleisch verschmähten, entspannten sich und schlürften von den Blutpfützen der Sterbenden.
Es stand zur Debatte, die Kinder der Stadt zur Aufzucht am Leben zu lassen oder nicht. Nach kurzer Überlegung entschied der Hauptmann dagegen. Er hatte keine Lust, eine lärmende, jammernde Bande von Kindern zurück nach Cugluch zu geleiten. Außerdem verdienten seine Soldaten eine Belohnung für die Geduld, die sie gezeigt hatten angesichts der verbalen und körperlichen Beleidigungen der jetzt ausgelöschten Stadtleute. Also gab er seine Zustimmung zu einem generellen Schlachten des Nachwuchses.
In dieser Nacht wurde Pelligrew ein Opfer der Flammen, und die Kinder waren den Soldaten ein wohlschmeckendes Mahl. Das Holz der Häuser und das Stroh der Dächer brannten die ganze Nacht hindurch bis in den folgenden Morgen.
Der Hauptmann sah zu, wie die letzten Flammen erstarben, und nickte anerkennend, als eben zubereitetes Fleisch für die Rückreise aufgeladen wurde. Er saugte das Mark aus einem dünnen Arm, während er den Flieger ansprach.
»Reise mit den schnellsten Luftströmen, Herold!« wies er den geflügelten Soldaten an. »Eile rasch zur Hauptstadt! Sag jedem, daß das höhnende Pelligrew, der tausendjährige Stachel in unserem Fleisch, nicht mehr ist. Berichte dem Volk und dem Hof, daß der erste kleine Erfolg unser ist und daß die sanfte Freundlichkeit der westlichen Warmlande bald folgen wird – und bald die ganze Welt jenseits davon!«
Der Flieger salutierte und erhob sich in die Bergluft. Der Hauptmann wandte sich um und sah, wie die Bewohner des dunklen Zeltes ihren eigenen ekligen Bedarf packten. Er sah, wie der Hexer das sorgfältige Verladen des schrecklichen gespenstischen Gebildes überwachte, das Pelligrew zerstört hatte, und ihn schauderte, als er sich abwandte.
Durch die Kraft dieser Scheußlichkeit und das Wissen des Hexers mochten sie wahrlich bis zur Herrschaft über das gesamte Universum voran marschieren – falls dem Hexer zu glauben war. Aber was ihn selbst anging, so war er entschlossen, sich so weit davon entfernt zu halten wie irgend möglich.
Er mochte wirklich alles, was neue Methoden des Tötens erschloß, aber das hier hatte eine Reichweite, die Welten umfaßte..
Allein Größe und Kleidung hätten den riesenhaften Otter beachtenswert gemacht, selbst wenn er nicht über Meriweathers Füße gestolpert wäre. Mit gespreizten Schnurrhaaren im Gras liegend, maß das Wesen kaum dreißig Zentimeter weniger als der ein Meter neunzig lange schlacksige junge Mann.
Es war der bei weitem größte Otter, den Jon Meriweather je gesehen hatte. Obwohl Student der Geschichte und nicht der Zoologie, war er trotzdem bereit zu wetten, daß ein Meter sechzig ein wenig über dem lagen, was Otter normalerweise erreichten. Trotz des Nebels, der sein Gehirn immer noch einhüllte, war er auch ziemlich sicher, daß sie nicht in Spitzkappen aus grünem Samt, Schlangenhautwesten und kastanienbraunen Samtpuffhosen umherliefen. Jon erhob sich sehr bedächtig, bemerkte den Stummel des Joints, den er zwischen rechtem Daumen und Zeigefinger festklammerte, und schnippste ihn angewidert weg. Das augenblickliche Problem war nicht so sehr der völlig unmögliche Otter, sondern die Lösung der Frage, womit sein Freund Shelly das Gras verschnitten hatte.
Dessen ungeachtet konnte Jon den Blick nicht von dem Wesen wenden, das sich jetzt auf sein Hinterteil rollte. Die samtenen, an den Knöcheln zusammen gebundenen Pumphosen machten ihm einen Umstand klar, über den nach zu denken er zuvor nie Grund gehabt hatte: Otter haben sehr tiefe Gürtellinien.
Dieser zog seine gefederte Kappe fest über keksförmige Ohren und machte sich daran, die Pfeile einzusammeln, die aus dem Köcher an seinem Rücken gefallen waren. Das Unterfangen wurde durch das kurze Schwert behindert, das in seiner Scheide vor der Brust des Otters hing; es kam ihm jedesmal in die Quere, wenn er sich vorbeugte. Einige beiläufige mörderische Blicke auf Jon gaben diesem das Gefühl, daß es dem Tier Freude bereitet hätte, einen der ellenlangen Pfeile in ihn zu versenken.
Das war kein Grund, sich Sorgen zu machen. Er schwankte und genoß behaglich die Halluzination. Cannabis hatte nie zuvor Halluzinationen in ihm erzeugt, aber es gab immer ein erstes Mal. Womit hatte Shelly ihren Stoff nur verschnitten?
Der Beweis, daß er mit etwas sehr Kräftigem versetzt sein mußte, stolperte vor ihm durchs Gras, murmelte böse vor sich hin und sammelte Pfeile ein.
Zweifellos litt sein überfordertes Hirn unter den langen Studierstunden, die er kürzlich eingelegt hatte – zusätzlich zu seiner Arbeit von abends neun bis morgens drei. Es war notwendig gewesen. In sieben Wochen standen die Abschlußprüfung und die Vorlage seiner Magisterarbeit bevor. Einmal mehr ließ er das Thema auf der Zunge zergehen: Manifestationen und Vorformen demokratischer Regierung in Amerika am Beispiel der »Verbindungen des Edlen Sonnenkönigs der Inka‹ 1248-1350. Es war ein großartiger Titel, fand er; und bei der Vorlage einer Dissertation war ein guter Titel schon ein halb gewonnener Kampf. Mochten Recherchen und Stil auch noch so brillant sein – ohne Titel war man verloren.
Nachdem er den letzten Pfeil in seinen Köcher geschoben hatte, zog der Otter ihn vorsichtig zurück auf den Rücken. Dann blickte er sich auf der Wiese um; seine scharfblickenden schwarzen Augen registrierten jeden Baum und jeden Busch. Schließlich kam der aufmerksame Blick auf der verträumten Gestalt Jon Meriweathers zur Ruhe.
Da die Vision augenscheinlich auf irgendeinen Kommentar zu warten schien, sagte der freundlich gestimmte Student: »Was kann ich für dich tun, Sproß meines nächtlichen Tagtraums?«
Anstelle einer Antwort richtete das Tier seine Aufmerksamkeit wieder auf die andere Seite der Wiese, suchte kurz und zeigte dann auf ein entferntes Gebüsch. Träge folgte Jon der Geste des Otters.
Unter einem moosigen Findling von der Form und Größe eines demolierten Volkswagens verschwand eine leuchtend gelbe Waldeidechse, die etwas größer war als ein Huhn. Sie schoß auf ihren Hinterbeinen davon, den langen peitschenartigen Schwanz zur Balance nach hinten ausgestreckt. Einmal starrte sie über die Schulter zurück und enthüllte eine Doppelreihe aus hellrosa Punkten, die von der Kehle über die Brust verlief. Dann war sie in der Sicherheit ihres Baus verschwunden.
Die Realität begann ihr häßliches Haupt zu heben. Jon nahm langsam Notiz von seiner Umgebung. Sein Bett und sein Zimmer, die Buchreihen auf dem Regal aus Brettern und Ziegelsteinen, die Pinup-Girls, der lädierte Fernseher das alles war durch einen Wald aus Eichen, Platanen, Birken und Pinien ersetzt. Tulpenartige Blumen erhoben sich über dichtes Gras und vereinzelte Blaukleebüschel. Ein leises Klingeln wie von Tempelglocken drang von den entfernten Bäumen herüber.
Jon preßte die Hände an den Kopf. Klare Gedanken flohen weiterhin lachend seinen Geist. Er erinnerte sich schmerzhaft an ein Zerren, das ihm das Gehirn aus dem Schädel zu reißen drohte. Dann war er dahin getrieben, in einem anderen Treiben als in der entspannenden Schummrigkeit, die ihn üblicherweise nach einer Nacht angestrengten Lernens und schweren Kiffens einhüllte. Der Kopf pulsierte.
»Nun?« fragte der Otter unerwartet mit einer sehr hohen, aber nicht direkt quiekenden Stimme.
»Nun – was?« Bald, sagte er sich in wilder Verzweiflung, bald werde ich in meinem Bett aufwachen, die Geschichte aller römischen Kaiser neben mir, die ich noch zu Ende lesen muß. Kein Hasch, dachte er. Irgend etwas Stärkeres. Himmel, mein Kopf!
»Du 'ast gefragt, was du für mich tun kannst.« Der Otter deutete wieder mit einer raschen Bewegung in die Richtung des Findlings am Rande des Waldes. »Weil dein verdammter großer Fuß mich zu Fall brachte und ich das Granbit verloren 'ab, könntest du's auch verdammt gut für mich ausbuddeln.«
»Wozu? Wolltest du es essen?«
»Nee.« Der Ton des Otters troff vor bitterem Sarkasmus. »Ich wollte mir den dämlichen Zweibeiner um den 'als wickeln und als Kette tragen, wollt ich.« Die Schnurrhaare bebten vor Wut.
»Du willst wohl den Klugscheißer spielen, wa? Glaubst wohl, deine Größe könnt dich schützen, wa?«
Das Tier ruckte wie beiläufig den Bogen an Brust und Rücken zurecht, zog das Schwert und trat auf Jon zu, der nicht zurückwich. Wie konnte er auch, da er doch tief schlief?
»Ich weiß, was jetzt passiert.« Er bewegte die Füße und fiel fast hin. »Du tötest mich, und ich wache auf. Es wird Zeit. Ich muß noch ein ganzes verdammtes Buch zu Ende lesen.«
»Du bist wohl bekloppt!« Der Kopf des Otters fuhr nervös herum, und eine pelzige Pfote kratzte eine Wange. »Türlich, ich glaub, du bist es.« Er sah sich aufmerksam um. »Ich weiß nich, welche Einflüsse an diesem Ort 'ne Rolle spielen, aber sie 'aben mich 'nen Granbit gekostet. Ich mach 'nen Abgang. Willst du dich nich wenigstens entschuldigen?«
»Weil ich dich zum Stolpern brachte, meinst du?« überlegte Jon. »Ich habe überhaupt nichts getan. Ich schlafe, hast du das vergessen?«
»Du siehst verdammt übler aus als nur 'n Schläfer. Das Granbit läßt dich Eingeweide kotzen, wenn du das Glück hast, es zu erwischen. Ich bin jedenfalls fertig damit, wenn es bedeutet, Typen wie dir zu begegnen. Und wenn du mir folgen solltest, schlitz ich dich vom Schlund bis zum Arsch auf. Be'alt also deine verdammte Entschuldigung für dich, und nimm dafür das als Abschiedsgeschenk!«
Damit hieb er mit dem Traumschwert nach Jon. Es durchschnitt das Hemd und schlitzte ihn links genau über dem Jeansgürtel auf. Ein blendender Schmerz explodierte in der Hüfte, nur schwach gedämpft durch die abklingenden Effekte des nächtlichen Rauchens. Jons Mund öffnete sich zu einem kleinen »Oh!« der Überraschung. Beide Hände fuhren an die Rippen.
Der Otter zog sein Schwert zurück, dessen Spitze jetzt feuchtrot schimmerte, und schob es in die Scheide, nachdem er es in dem hohen Gras gereinigt hatte. Er drehte sich um und ging, Obszönitäten murmelnd, davon. Jon sah ihm nach, wie er durch das Gras auf die Bäume zu watschelte.
Der Schmerz in seiner Seite verstärkte sich. Rot durchtränkte sein blaues T-Shirt. Warme Feuchtigkeit tropfte unangenehm an seinem Slip herunter und lief dann am linken Bein seiner Jeans weiter. Oberflächliche Wunden bluten unverhältnismäßig stark, verglichen mit ihrer Ernsthaftigkeit, sagte er sich. Aber es tut weh! dachte er verzweifelt.
Mein Gott, hoffentlich wache ich bald auf!
Aber falls er schlief... der Schmerz war zu real, weit mehr als die Bäume oder der Otter. Blut benetzte das Gras; doch er humpelte hinter seinem Angreifer her.
»Warte einen Moment... bitte warte!« Die Worte kamen ihm rauh aus der trockenen Kehle, und er hatte einen Mordshunger. Die Linke gegen die Seite gepreßt, mit der Rechten wedelnd, stolperte er dem Otter nach. Klee barst zart unter seinen Sandalen, und kleine fliegende Dinger brachen in Panik aus dem Gras unter seinen Füßen hervor, um sich rasch in anderen Nischen des schützenden Grüns zu verbergen.
Helles Sonnenlicht erfüllte die Lichtung. Vögel sangen seltsame Lieder. Schmetterlinge mit Buntglasflügeln krönten die Tulpen.
Der Otter, der die ersten Bäume erreicht hatte, zögerte unter einer dunkelbraunen Platane und zog sein Schwert halb aus der Scheide. »Mir is nich bang vor dir, Dämonenmann. Komm näher, und ich piek dich noch mal!« Aber während es seine mutige Herausforderung äußerte, zog sich das Tier langsam in den Wald zurück, suchte rechts und links nach einem Fluchtweg.
»Ich will dir nichts tun.« Jon flüsterte die Worte, zum einen wegen der Schmerzen, zum anderen weil er das Wesen nicht erschrecken wollte. »Ich will einfach nur aufwachen, das ist alles.« Tränen traten ihm in die Augen. »Bitte laß mich aufwachen! Ich möchte raus aus diesem Traum und zurück an die Arbeit. Ich nehme nie wieder einen Zug, ehrlich! Es tut weh.«
Er blickte über die Schulter zurück und betete darum, sein überfülltes kleines Zimmer mit der abblätternden Decke und den schmutzigen Fenstern zu sehen. Statt dessen sah er nur noch mehr Bäume, Tulpendinger und Glasschmetterlinge. Ein schmaler Bach verlief dort, wo eigentlich sein Bett stand.
Er wandte sich wieder dem Otter zu, trat einen Schritt vor, stolperte über einen Felsbrocken und fiel, geschwächt durch den Blutverlust. Der Geruch von Pfefferminze und Heidekraut stieg ihm in die Nase.
O Gott! Bitte, laß mich nicht in einem Traum sterben... Einzelheiten strömten auf ihn ein, als er die Augen wieder öffnete. Es war hell draußen. Er war auf seinem Bett eingeschlafen, hatte bis zum Morgen durchgepennt und das Buch nicht gelesen. Und um acht hatte er bei einer Vorlesung über brasilianische Regierungsgeschichte zu erscheinen.
Nach der Intensität des Lichts zu urteilen, hatte er kaum genug Zeit, sich zurechtzumachen, seine Bücher und Notizen zu schnappen und bis zur Uni zu kommen. Und er mußte Shelly ein paar passende Worte sagen, weil er ihn nicht vor der Potenz des von ihm verkauften Stoffs gewarnt hatte.
Und es war komisch, wie sehr ihm die linke Seite weh tat.
»Muß aufstehen«, murmelte er benommen.
»'Ee, immer langsam, Chef!« sagte eine Stimme, weder seine eigene noch die von Shelly, und doch vertraut. »Nich so 'astig!
'Ast ziemlich einen abgekriegt, als du gefallen bist.«
Jons Lider klappten hoch. Ein borstigpelziges Gesicht mit tanzenden schwarzen Augen starrte ihn unter dem Rand einer hellgrünen Spitzkappe entgegen. Jons Augen weiteten sich. Einzelheiten des Traums stürzten in sein Denken. Das Tiergesicht zog sich zurück.
»Und probier keinen deiner Dämonentricks an mir... falls du welche 'ast!«
»Ich...« Jon konnte sich nicht entscheiden, ob er dem dumpfen Klopfen im Kopf oder dem Schmerz an der Hüfte mehr Aufmerksamkeit schenken sollte. »Ich bin kein Dämon.«
Der Otter produzierte ein zufrieden zwitscherndes Geräusch.
»Äh! 'Ab ich eigentlich auch nie gedacht. 'Ab ich die ganze Zeit gewußt, 'ab ich das. Erstens würd sich 'n Dämon nie so leicht pieken lassen wie du, und zweitens fallen die nich flach auf die Fresse, wenn sie ihre Beute verfolgen. Der schlechteste Levitationsversuch, der mir je untergekommen is. Dachte mir, ich 'ätt dich wegen meinem Ärger über die entgangene Beute wohl falsch beurteilt, und 'ab dir des'alb den kleinen Piekser verbunden. Schätze, du bist bloß ein Mensch, wa? Nichts für ungut, Kumpel!«
Jon sah an sich herunter. Sein Hemd war hochgezogen. Ein primitiver Verband aus einem faserigen Material war mit einem Schlangenhautriemen um die Taille befestigt. Ein dumpfer Schmerz meldete sich aus der bandagierten Körperregion. Er fühlte sich, als hätte man ihn als Punchingball benutzt.
Er setzte sich langsam auf und nahm erneut Notiz von seiner Umgebung. Er war nicht in seinem Apartment – ein winziges, elendes Loch, das ihm jetzt so erstrebenswert und unerreichbar erschien wie der Himmel.
Traumbäume spendeten Traumblumen weiterhin ihren Schatten. Unter ihm bildeten Gras und blauer Klee eine frühlingshafte Matratze. Traumvögel sangen oben in den Ästen, nur daß sie keine Vögel waren. Sie hatten Zähne und Schuppen und Klauen an den Flügeln. Ein Glasschmetterling ließ sich auf Jons Knie nieder, befächerte ihn mit Saphirschwingen und flatterte davon, als er versuchsweise die Hand nach ihm ausstreckte.
Sehnige Muskeln spannten sich unter seinen Armbeugen, als der Otter hinter ihn trat und ihn aufhob. »Bist 'n ziemlich Großer... 'ilf ein bißchen mit, ja, Kumpel?«
Mit der Unterstützung des Otters stand Jon bald wieder auf den Füßen. Er schwankte ein wenig, aber der Nebel im Kopf hob sich.
»Wo ist mein Zimmer. Wo ist die Uni?« Er drehte sich im Kreis, sah auf allen Seiten Bäume und nicht die Spur eines Gebäudes, das sich darüber erhob. Wieder begannen die Tränen zu fließen; überraschend für Jon, denn er war auf seine gefühlsmäßige Selbstkontrolle immer sehr stolz gewesen. Aber er war schwer, fast gefährlich desorientiert. »Wo bin ich? Was... wer bist du?«
»Alles gute Fragen, Mann.« Ist das ein komischer Kerl! dachte der Otter. Paß bloß auf! »Was dein Zimmer und die, äh, Uni angeht, 'ab ich keine Ahnung. Wo wir sind, das is ganz einfach. Das 'ier sind die Glockenwälder, wie jeder Narr weiß. Wir sind 'n paar Tagesmärsche außer'alb von Lynchbany, und mein Name wäre Mudge. Wie wäre denn deiner, Verehrtester, falls du einen 'ast?«
»Meriweather«, antwortete der junge Mann betäubt.
»Jonathan Thomas Meriweather.«
»Nun dann, Jnthin Tos Miwath... Joneth Omaz Morwoth... also 'ör mal, Mann, so geht das einfach nich! Das is kein richtiger Name. Bis man den ausgesprochen 'at, is man zweimal gegen die Sonne um die glatten Schenkel der samtpelzigen Felice getanzt, von der gesagt wird, daß sie mehr Männer zu Narren machte, als es Bürokraten in Polastrindu gibt. Ich werde dich Jon-Tom nennen, wenn es dir nichts ausmacht und wenn du drauf bestehst, mehr als einen Namen zu haben. Aber ich werde dir keine drei geben. Das rasselt ungeziemlich in den Ohren.«
»Glockenwälder«, plapperte der schlacksige, desorientierte junge Mann. »Lynchbany... Lynchbany... ist das in der Nähe von Culver City? Es muß irgendwo an der South Bay liegen.« Der Otter legte die Hände um die Gelenke von Jon-Tom und drückte. Kräftig. »Also 'ör mal, Junge!« sagte er ernst. »Ich weiß nich, ob du nun verdreht oder ver'ext bist, aber am besten nimmst du dich jetzt zusammen. Ich 'ab nich die Zeit, deine Probleme zu lösen oder dir deine Kullertränen wegzuwischen. Du bist so wirklich, wie du dich fühlst, so wirklich wie unsereins, und wenn du nich anfängst, auf dich selbst achtzugeben, bist du 'ne wirkliche Leiche mit wirklichen Würmern, die an dir nagen und sich keinen Schlagenfurz drum scheren, woher du stammst, 'örst du, Junge?«
Jon-Tom hörte auf zu schniefen und schien plötzlich wieder sein wirkliches Alter zu haben. Ruhig! sagte er sich. Nimm es für bare Münze, und beiß dich durch das Rätsel, was immer es ist. Richte dich nach der inneren Logik, und bete, daß du aufwachst, selbst wenn es in einem Krankenhausbett sein sollte. Ob dieses Tier nun real ist oder nicht, es ist alles, was du hast. Ist nicht nötig, daß du dich selbst zum Narren machst, selbst wenn es nur ein imaginärer Narr ist. »Das is besser.« Der Otter ließ die Gelenke los. »Du murmelst da Namen, von denen ich nie ge'ört 'ab.« Plötzlich schlug er die Pfoten zusammen und sprang erfreut in die Luft. »Natürlich! Kannst mich ruhig 'nen rattenköpfigen Narren nennen, daß ich nich früher daran gedacht 'ab! Das muß Clodsa'amps Werk sein. Der alte Säufer hat wieder mal mit den Kräften der Natur 'erumgespielt.« Sein Verhalten war augenblicklich verständnisvoll – mitfühlend, die Schnurrhaare bebten, als er dem staunenden Jon-Tom wissend zunickte.
»Jetzt is alles ganz klar, du armer Kerl. Is überhaupt kein Wunder, daß du so verwirrt und benommen bist und daß ich dich über'aupt nich begreifen konnte.« Er trat heftig mit dem Fuß in den Boden; Blumen flogen davon. »Du bist 'ier'er magieriert worden.«
»Magieriert?«
»Jawohl! Oh, sieh mich nich so an, Chef! Ich glaube nich, daß es schlimm is. Der alte Clodsa'amp is 'n ehrbarer Gelehrter und 'n ziemlich gerissener 'exer, wenn er nüchtern und bei Verstand is. Und die schlimmste Landplage, wenn er in Altersschwachsinn abgleitet, was in letzter Zeit 'äufiger vorkommt. Is manchmal schwer zu sagen, ob er noch ganz klar is. Nich, daß es sein Fehler war, daß er alt und spinnig wird. Passiert uns schließlich allen, würd ich meinen. Ich 'alt mich von ihm fern, 'alt ich mich. Wie jeder, der Köpfchen genug 'at. Man weiß nie, in was für 'ne verrückte Beschwörung er einen vielleicht reinzieht.«
»Dann ist er also ein Hexer«, murmelte Jon-Tom. Bäume, Gras, der Otter vor ihm nahmen die durchdringende Klarheit eines Feueralarms an. »Dann ist alles wirklich.«
»Das 'ab ich dir gesagt. Mit deinen Ohren is alles in Ordnung. Nich nötig, daß ich wieder'öle, was ich schon gesagt 'ab. Du 'hörst dich ohne'in ziemlich blöd an.«
»Blöd? Jetzt hör mal!« sagte Jon-Tom ein wenig hitzig. »Ich bin verwirrt. Ich bin ziemlich beunruhigt. Ich gebe zu, daß ich vor Angst fast von Sinnen bin.« Eine Hand fuhr an seine Wunde. »Aber ich bin nicht blöd.« Der Otter schnaubte geringschätzig. »Weißt du, wer von 1936 bis 1941 Präsident von Paraguay war?«
»Nein.« Mudges Nase zuckte. »Weißt du, wie viele Nadeln auf dem Kopf eines Engels tanzen können?«
»Nein. Und außerdem«, – Jon-Tom zögerte, seine Augen verengten sich -, »geht es darum, wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können.«
Mudge stieß ein angewidertes Pfeifen aus. »Wir glauben, wir sind schlau, was? Ich kann nicht zündeln, bin nicht mal 'n Eleve, und ich kann nadeltanzen.«
Seine Pfote holte fünf kleine silbrige Nadeln aus einer Westentasche. Jede war gut einen halben Zentimeter lang. Der Otter murmelte etwas Unverständliches und vollführte ein, zwei Bewegungen über den Metallstiften. Die Nadeln erhoben sich und tanzten einen sehr respektierlichen Cakewalk über seiner geöffneten Pfote.
»Linksum«, kommandierte der Otter. Die Nadeln gehorchten, nur die einzelne außen hatte Schwierigkeiten, sich in das Muster des Tanzes einzufügen.
»Kriege die fünfte Nadel nie richtig 'in. Wäre gut, wenn wir den Kopf von 'nem Engel 'ätten.«
»Das ist sehr beachtlich«, bemerkte Jon-Tom ruhig. Dann fiel er in Ohnmacht...
»Wenn du so weitermachst, Chef, wird deine Birne 'inten so rauh wie die Hügel von Kilkapnys Klaue. Gar nich zu reden davon, was du damit deinem Fell antust.«
»Mein Fell?« Jon-Tom rollte sich auf die Knie und atmete mehrmals tief durch, bevor er sich erhob. »Oh.« Leicht verlegen glättete er seine schulterlangen Locken und stützte sich auf den hilfsbereiten Otter.
»Da ihr Menschen so wenig davon 'abt, solltest du besser darauf achtgeben.« Mudge ließ den Arm Jon-Toms los. »Nackte 'aut ohne Fell... dann noch lieber die Blattern.«
»Ich muß zurück«, murmelte Jon-Tom müde. »Ich kann hier nicht bleiben. Ich habe einen Job und Vorlesungen und eine Verabredung für Freitagnacht, und ich muß...«
»Deine anderweltlichen Belange sind bedeutungslos für mich.« Mudge deutete auf den feuchten Verband unter Jon- Toms Rippen. »Ich 'abe dich nicht schlimm verletzt. Du müßtest rennen können, falls nötig. Wenn du nach 'Ause willst, gehen wir am besten zu Clodsa'amp. Ich werd dich ihm übergeben. Ich 'abe meine eigenen Geschäfte. Kannst du ge'en?«
»Ich kann gehen, um diesen... Hexer zu treffen. Clodsahamp hast du ihn genannt?«
»Jawohl, so 'eißt er, Junge. Der alte ärgermachende Knülch, der mit Kräften herumpfuscht, die er nich mehr kontrollieren kann. Da gibt's für mich keinen Zweifel, Kumpel. Daß du 'ier bist, is sein Werk. Er muß dich da'in zurückschicken, wo du 'inge'örst, bevor du wirklich verletzt wirst.«
»Ich kann auf mich selbst aufpassen.« Jon-Tom war für sein Alter ausgedehnt gereist. Er war stolz auf seine Fähigkeit, sich an exotische Umgebungen anzupassen. Objektiv betrachtet, war das Land, in dem er sich jetzt befand, nicht fremdartiger als das amazonische Peru und vergleichsweise weniger als Manhattan.
»Also los, machen wir uns auf den Weg, um diesen Hexer zu finden!«
»Das is der richtige Geist, Chef!« Im stillen hielt Mudge den hochgewachsenen jungen Mann immer noch für ein weinerliches, triefnasiges Kleinkind. »Wir werden die Situation 'ier in Null Komma nichts in Ordnung bringen, wa?«
Eichen und Pinien überragten, den Wald beherrschend, die Platanen und Birken. Jon-Tom glaubte hin und wieder auch eine Fichte zu erkennen. Sie lebten einträchtig beieinander in einem botanischen Alptraum, obwohl Jon-Tom nicht genug von Botanik verstand, um die Unstimmigkeit der Landschaft zu erkennen.
Überall wucherten schmarotzende Büsche, ebenso wie gigantische Champignons und andere Pilze. Verstreute Nester von Kletterpflanzen trugen die Last schwarzer, scharlachroter oder granatgrüner Beeren. Hier und da wuchsen Schößlinge aus dem Boden, die Ulmen hätten sein können, wäre nicht ihre schillernd blaue Rinde gewesen.
Die Glasschmetterlinge waren überall. Ihre Flügel sandten vereinzelte Strahlen aus Regenbogenlicht durch die Zweige. Und doch schien alles zusammenzugehören, schien natürlich, bis hin zu den Glocken, die von den Blättern eines unbekannten Baumes gebildet wurden; sie läuteten im Wind und gaben dem Namen des Waldes Substanz.
Das kühle Gehölz mit seinem allgegenwärtigen Duft belebender Minze war fast vertraut geworden, als er schließlich zum ersten Mal einen ›Vogel‹ aus der Nähe sah. Das Wesen saß auf einer niedrig hängenden Ranke und beäugte die Vorübergehenden neugierig.
Die Ähnlichkeit mit einem Vogel endete bei den Federn. Eine kurze Schnauze zeigte winzige scharfe Zähne und eine lange gespaltene Zunge. Die Flügel entsprangen einem schuppigen gelben Körper. Das gefederte Reptil (oder der geschuppte Vogel?) löste seine klauenbewehrten Füße von der Ranke und zog ein paar Kreise über ihren Köpfen. Es stieß ein bezauberndes Tirilieren aus, das den erstaunten Jon-Tom an die Stimme einer Spottdrossel erinnerte. Doch zeigte es insgesamt eine größere Ähnlichkeit mit dem Wesen, das unter dem Findling verschwunden war, als mit einem Vogel und war eher verwandt mit einer Viper als mit einem Finken.
Ein kleiner Felsbrocken zischte durch die Luft. Mit einem wütenden Quäken wirbelte die gefiederte Erscheinung herum und verschwand im Schutz der Bäume.
»Warum hast du das getan, Mudge?«
»Er is über uns rumgeflogen, Mann.« Der Otter schüttelte betrübt den Kopf. »Du bist nich gerade 'elle. Oder lassen die Flieger deiner Welt ihren Kot nich auf unvorsichtige Reisende fallen? Oder 'ast du deine eigenen magierierten Gründe, auf dich scheißen zu lassen?«
»Nein.« Er versuchte, etwas von der Achtung des Otters zurück zugewinnen. »Ich mußte auch schon ein paarmal Vögeln ausweichen.«
Das Bekenntnis rief eine andere als die erhoffte Reaktion hervor.
»Vögel?« Das Gesicht des Otters zeigte völligen Unglauben, die dünnen Barthaare zitterten nervös. »Kein Vogel, der was auf sich 'alt, würde eine derartige Beleidigung wagen. Der wäre schneller vorm Rat, als man braucht, um 'ne Schlange zu verschlucken. Glaubst du, wir sind hier unzivilisierte Monster, wie die Gepanzerten?«
»Tut mir leid.« Jon-Tom klang zerknirscht, wenn auch immer noch verdutzt.
»Du paßt besser auf, was du sagst, Junge, sonst stößt du noch auf einen, der 'n bißchen tiefer piekt, als ich es getan 'ab.«
Sie gingen weiter zwischen den Bäumen hindurch. Kurzgewachsen und Obeinig wie alle seiner Art, glich der Otter seine kleine Schrittweite durch unerschöpfliche Energie aus. Jon-Tom mußte hin und wieder in einen leichten Trab fallen, um mit ihm Schritt zu halten.