25.

 

„Das erste Blut, im Kampf genommen, zeichnet dich als Erwachsenen. Die erste Rache, kalt genossen, erhebt dich zum Krieger.“

Sinnspruch der Nola

 

 

Inani und Kythara lagen im Schatten des größten Bauwerkes der Welt auf der Lauer. Kein Gebäude durfte höher sein als der Ti-Tempel von Roen Orm, er ragte auf der höchsten Klippe über der gesamten Stadt. Sein goldenes, frei schwebend erbautes Kuppeldach galt als Wunderwerk, es war von allen Seiten weithin sichtbar. Egal, aus welcher Himmelsrichtung man sich der Stadt näherte, ob zu Land oder über Wasser, der Sonnentempel war das Erste, was ein jeder Reisender zu Gesicht bekam. Tagsüber wachte der feurige Gott selbst über sein Heiligtum, nachts wurde es von magischen Lichtsäulen erhellt. Unzählige Lieder und Gedichte waren allein dieser Kuppel gewidmet, die schon so viele Seefahrer sicher in den Hafen von Roen Orm geleitet hatte, die den erschöpften Wanderern Mut spendete, den Zweifelnden Hoffnung gab. Eine Statue des Gottes war in das Mauerwerk eingemeißelt, gewiss fünfzig Schritt hoch, direkt neben dem gewaltigen Eingangsportal. Auch innen gab es unzählige Kunstwerke zu bestaunen – Mosaike, Wandmalereien, Statuen von bedeutenden Kriegern, Königen und Helden. In den Kellergewölben lagerte die gewaltige Chronik der Stadtgeschichte, sorgsam bewahrt und behütet von den Sonnenpriestern. Durch einen Innenhof getrennt schlossen sich mehrere hohe Gebäude an den Tempel an, Wohn- und Arbeitshäuser, Lagerräume und Ställe der Priesterschaft. Das höchste von ihnen wurde von vier Türmen geschmückt und war prachtvoller gestaltet als der Königspalast, der sich unterhalb des Tempelkomplexes befand.

Doch dies alles interessierte die beiden Hexen nicht, die in der Gestalt ihrer Vertrauten warteten, bis der rechte Moment gekommen war. Kythara unternahm in Rabengestalt gelegentliche Aufklärungsflüge, während Inani als Schlange in einer Mauerritze verborgen zurückblieb. Es gab viele Raben in Roen Orm, man betrachtete sie als nützliche, kluge Vögel, deshalb drohte Kythara keinerlei Gefahr. Kein einziger der gelbgewandeten Priester spürte, dass zwei Hexen in ihrer Mitte wandelten.

„Er ist immer noch in Gesellschaft, aber ich denke, er wird sich bald zu einem Mittagsschlaf zurückziehen“, sprach sie in Inanis Bewusstsein.

„Gut! Sagst du mir jetzt, was ich mit dem Pergament tun muss?“

„Nicht viel. Du wartest, bis du mit Garnith allein in einem Raum bist und hinterlässt die Träne Pyas in seiner unmittelbaren Nähe, mitsamt deinem Dolch. Garnith wird verstehen, was das bedeutet: Eine Dunkle Tochter war bei ihm, sie hätte ihn töten können, doch sie hat ihn nicht angerührt. Er wird wissen, dass er gejagt wird, und von dieser Stunde an wird Angst sein Gefährte sein. In jedem Schatten wird er dich vermuten, keine Nacht wird er mehr Ruhe finden können. In einigen Monden wirst du ihm eine neue Warnung schicken, es bleibt dir überlassen, welche – vielleicht zeichnest du seinen Namen mit deinem eigenen Blut, vielleicht schneidest du ein Büschel seiner Haare ab oder zerstörst seine Festtagsrobe. Dies ist dein Spiel, Inani. Von heute an darfst du, wann immer du möchtest, nach Roen Orm reisen, um es zu genießen. Nimm allerdings eine erfahrene Hexe als Schutz mit, bis du deine Reifeprüfung abgelegt hast! Spiele, solange du möchtest. Beschütze Garnith vor Krankheiten und Unfällen, lass ihn niemals aus deinen Klauen. Und wenn du spürst, der richtige Moment ist gekommen, töte ihn. Ob langsam oder schnell, spielt dann keine Rolle mehr, die Angst wird ihn bis dahin völlig zerrüttet haben.“

„Ich verstehe.“ Inanis Gedanken waren völlig ausdruckslos, bedingt durch ihre seelische Nähe zur Kyphra, doch Aufregung und Vorfreude brodelten unterhalb des Reptilienbewusstseins.

Als Kythara das nächste Mal von ihrem Flug zurückkehrte, musste sie Inani nicht erst sagen, dass es soweit war.

„Alle Priester haben sich zur Meditation oder Ruhe zurückgezogen. In etwa einer halben Stunde werden sie sich zum Gebet versammeln, du musst dich also nicht beeilen. Garnith ist im Südturm, alle Fenster sind geöffnet. Ich werde als Rabe in der Nähe sein, falls es Schwierigkeiten gibt, hole ich dich dort raus – meine Messer habe ich nicht zur Dekoration mitgenommen! Wenn aber alles nach Plan verläuft, hinterlasse deine Botschaft und gehe sofort in die Nebelwelt. Warte am Rand der Schleier auf mich, ich treffe dich dort.“

„Einverstanden. Ich werde als Panther zu ihm gehen, nicht als Kyphra.“

Inani glitt aus ihrem Versteck heraus. Der Innenhof war leer, alle Priester, die bis vor kurzem hin und her geeilt waren, hatten sich in die Wohngebäude zurückgezogen, die zum gewaltigen Tempelkomplex gehörten. Die Luft flirrte einen Moment lang, dann war ihre Schlangengestalt verschwunden und sie kauerte sich als Raubkatze am Boden nieder. Kythara – der Rabe – krächzte ihr aufmunternd zu, flatterte in die Höhe, umkreiste den Südturm und ließ sich auf einem Fenstersims nieder. Inani nahm Anlauf und sprang kraftvoll in die Höhe. Mühelos fand sie Halt in dem unebenen Gestein, stieß sich ab, landete auf dem Kopf einer Statue irgendeines längst verstorbenen Erzpriesters.

Leicht und elegant suchte sie sich ihren Weg, und gelangte schließlich lautlos in das karg eingerichtete Schlafgemach von Garnith, dem obersten Priester der Sonne.

Der alte Mann schlief fest, er ahnte nichts von der Gefahr in Gestalt des schwarzhaarigen Mädchens, das sich vor seinem Bett erhob. Dieser Aspekt der Wandlungsmagie faszinierte sie immer noch am meisten – sowohl Kleidung als auch Ausrüstung wurden zum Teil der Tiergestalt und kehrten vollständig zurück, sobald man wieder zum Mensch wurde.

Inanis Raubtieraugen ruhten auf dem zerbrechlichen Körper des Alten. Sie spürte die Kraft, die durch die Adern dieses Mannes pulsierte, die feurige Macht des Sonnengottes. Doch sie sah auch die Schatten, die ihn umgaben. Ti hatte sich von diesem Priester abgewandt. Der Gott konnte die Gaben nicht zurücknehmen, aber es war gewiss: Garnith würde keine Gnade im Jenseits erwarten können, und keinen göttlichen Schutz im Diesseits. Inani zog den Dolch, nahm das Pergament in die Hand und näherte sich geräuschlos dem Bett.

Du bist mein, dachte Inani grausam lächelnd, als sie die Träne der Pya über dem Kopf des Priesters an der Wand befestigte.

Ein kaum wahrnehmbares Rascheln warnte sie. Inani wirbelte herum, zum offenen Türbogen gegenüber des Bettes. Sofort nahm sie Kampfhaltung an, sprang auf den Eindringling zu, bereit zum tödlichen Schlag – und hielt inne, als sie gewahr wurde, wer ihr Gegner war: Ein schmächtiger Junge in weißer Leinenkleidung, vielleicht ein, zwei Jahre älter als sie selbst, starrte sie zu Tode erschrocken aus weit aufgerissenen Augen an. Er trug einen Stoß gelber Roben im Arm, die er jetzt fallen ließ. Inanis sprang hinter ihn, packte ihn grob, riss ihn an sich heran, und hielt seinen Mund zu, bevor er auch nur daran denken konnte zu schreien. Die linke Hand grub sie in seine dunkelbraunen Haare, sodass er den Kopf nicht mehr befreien konnte, mit der rechten drückte sie nun gegen seinen Hals, um ihn am Schreien zu hindern.

„Keinen Laut, oder es war dein letzter!“, wisperte sie in sein Ohr. Sie spürte, wie er zitterte und verstärkte den Druck gegen seine Kehle. „Wenn ich dich loslasse, wirst du ruhig sein, verstanden?“ Er nickte gegen ihre Schulter. Langsam nahm sie die Hand von seinem Hals, gab seinen Kopf aber noch nicht frei.

„Wie heißt du?“

„Ja-Janiel“, hauchte er verängstigt.

„Leg dich auf den Bauch, die Arme über den Kopf. Zähl bis hundert, danach darfst du schreien. Rühr dich vorher, zucke nur mit der Wimper und ich werde dich umbringen, verstanden?“

                                                                               

Janiel wimmerte fast, als er die tödliche Kälte in den Worten des Mädchens hörte. Er war erst vor zwei Tagen im Tempel aufgenommen worden, von seinen eigenen Eltern verkauft für einen Sack Mehl und einen Esel. Das übliche Schicksal kleiner Jungen, die magische Kräfte besaßen – ihre Familien schoben sie stets so rasch wie möglich zu den Priestern ab. Mit dreizehn Jahren war er recht alt, es war ihm lange gelungen, seine merkwürdigen Unfälle geheim zu halten. Alles hatte er versucht, um seinen Vater davon zu überzeugen, dass er ein normaler Junge war, der seine Arbeit auf dem elterlichen Bauernhof leisten konnte. Er wollte nicht hier sein, getrennt von seinen Eltern und Geschwistern. Nicht bei den Priestern, nicht bei Garnith, dem jähzornigen alten Mann, und erst recht nicht in der Gewalt dieses dämonischen Mädchens. Der Finsterling selbst schien aus ihren Raubtieraugen zu sprechen und sie besaß Magie! Was bei Männern schon ungern gesehen war – Magie war unheimlich, sie stand doch eigentlich nur den Göttern zu! – bedeutete für Frauen das Todesurteil, so viel wusste Janiel bereits von der Welt.

Zitternd ließ er zu, dass dieses finstere Geschöpf ihn zu Boden drückte. Er versuchte zu zählen, verhaspelte sich aber immer wieder. Bis hundert würde er sowieso nicht kommen, sein Vater hatte ihm nie erlaubt, rechnen zu lernen, da seiner Meinung nach ein Bauer nicht klüger sein durfte als die hochgeborenen Herren. Plötzlich roch er Feuchtigkeit, ein kühler Hauch strich über seinen Nacken. Unwillkürlich blickte Janiel hoch und fand sich von Nebel umgeben. Erschrocken stützte er sich auf und sah die Gestalt des Mädchens. Sie drehte sich zu ihm um, schenkte ihm ein geheimnisvolles Lächeln. Dann sank sie in sich zusammen und glänzend schwarzes Fell überzog ihren Leib. Eine schlanke Raubkatze verschwand im Nebel und ließ ihn bewegungslos erstarrt zurück. Janiel presste die Augen zusammen, er wollte diesen Wahnsinn nicht mehr sehen müssen.

Als er wieder aufblickte, war der Nebel verschwunden. Die Sonne strahlte warm und friedlich in das Turmzimmer und ließ den Ti-Schrein mit der kleinen Goldstatue, der sich neben dem Bett des Erzpriesters befand, aufleuchten. Wie gehetzt starrte Janiel um sich, suchte nach dem finsteren Mädchen, dem Panther, irgendetwas, das ihm bewies, es war kein furchtbarer Traum

gewesen. Ein großer Rabe saß auf dem Fenstersims rechts von ihm. Der Vogel legte den Kopf schräg. Er starrte ihn aus klugen Augen an. Sein Krächzen klang wie Spott in Janiels Ohren. Der Schnabel des Raben zuckte herum, er hob einen Flügel; deutlich erkennbar wies er zum Bett. Garnith war aufgewacht, misstrauisch betrachtete der Alte den Raben, den Jungen – und den Dolch über seinem Kopf, mitsamt der Pya-Träne. Der Fluch des Priesters, der schrille Schrei des Jungen und das Krächzen des flüchtenden Raben mischten sich disharmonisch und zerstörten endgültig den Frieden des Tages.

 

~*~

 

Inani und Kythara trafen sich am Rand der Nebelwelt. Gemeinsam mit ihren Seelenvertrauten kehrten sie langsam zurück ins Reich der Hexen, sie hatten es beide nicht eilig.

„Du warst gut, Inani. Ich bin froh, dass du den Jungen nicht verletzt hast.“

Inani lächelte erleichtert, sie war besorgt gewesen, dass Kythara ihr deswegen Vorhaltungen machen würde. Immerhin würde der Junge eines Tages ein Priester sein!

„Er war unbewaffnet, wehrlos und ungefährlich. Hätte er geschrien, wäre vermutlich ein schlimmer Kampf daraus entstanden, in dem sowohl er als auch du das Leben hätten verlieren können. Doch so, wie du die Situation gerettet hast, war es das Beste. Janiel wird womöglich ein besonders fanatischer Hexenjäger werden, nachdem er in so jungen Jahren von einer Dunklen Tochter überwältigt wurde. Vielleicht wird er sich allerdings erinnern, dass du ihn verschont hast. Dass du ihn hättest verletzen oder töten können, es aber nicht getan hast.“

Eine Weile gingen beide schweigend weiter, dann hielt Kythara sie plötzlich fest. Ratlosigkeit stand in ihrem Blick, verwirrt wartete Inani, was nun kommen würde.

„Ich hatte gehofft, du würdest mich von allein ansprechen“, begann die Königin, sichtlich nach Worten ringend.

Schließlich seufzte sie und fragte gerade heraus: „Willst du dich von deiner Mutter lossprechen, ja oder nein?“

Verblüfft starrte Inani sie an. „Nein! Warum sollte ich? Ich meine – ich komme nicht gut mit ihr aus, im Moment, aber sie ist meine Mutter!“

„Nun, Shora hat mir erzählt, was du sie gefragt hat, über die Möglichkeiten und Rechte, die Junghexen haben.“

Endlich dämmerte Inani, wovon Kythara eigentlich sprach. Eisiger Schrecken durchfuhr sie, niemals hätte sie damit gerechnet, dass ihre Mutter diese Frage auf sich selbst münzen könnte!

„Oh Pya! Nein, ich hatte nicht für mich gefragt! Pya vergib mir! Wenn ich geahnt hätte, dass meine Mutter dann glaubt, ich hätte ...“ Inani schlug die Hände vors Gesicht, zu aufgewühlt, um klar denken zu können.

„Sag es mir.“ Mit sanfter Gewalt zog Kythara sie an sich, schubste dabei den Kopf der aufgeregten Kyphra beiseite, um Inani umarmen zu können. „Sag mir, für wen du gefragt hast.“

„Corin.“ Inanis spürte regelrecht, wie sich ihre Augen eisblau färbten, als der menschliche Teil ihrer Seele an die Oberfläche drang. „Corin wird von ihrer Mutter zugrunde gerichtet. Ich habe versucht sie zu überreden, sich von Ylanka loszusagen, doch sie wollte nichts davon wissen. Corin glaubt, sie hätte es verdient.“

 

„Was verdient?“ Kythara ahnte bereits, was sie erfahren würde, sie wusste, dass Ylanka ihre Tochter mit mehr Gewalt erzog als normalerweise toleriert wurde. Ylanka besaß allerdings so viele Freundinnen und Fürsprecherinnen, dass Kythara bislang darauf verzichtet hatte, es auf einen Machtkampf ankommen zu lassen.

„Die ständigen Schläge. Den Hass, die Verachtung ... Ylanka schämt sich dafür, Corins Mutter sein zu müssen. Bitte, sag nichts, Kythara. Ich habe Corin geschworen, ihr Geheimnis nicht zu verraten.“

Beschämt über ihren eigenen Verrat senkte Inani den Kopf.

Kythara dachte einen Moment lang, erschüttert von dem, was sie gehört hatte. Von regelmäßigen Schlägen hatte sie nichts gewusst.

Ich hätte es sehen müssen! Ich hätte eingreifen müssen, ich wusste, dass Ylanka nicht gut für das Kind ist!

Das warnende Krächzen ihres Raben riss Kythara zurück in die Wirklichkeit. Es war gefährlich, zu lange in der Nebelwelt zu verharren, selbst die mächtigsten Hexen konnten den Weg verlieren und sich für alle Zeiten verirren. Entschlossen zog sie Inani mit sich und führte sie in die Wälder der Hexenwelt, noch weit entfernt von der Dorfgemeinschaft.

„Inani, es ist gut, dass du es mir gesagt hast. Ein solches Geheimnis darf nicht bewahrt werden. Aber was soll ich jetzt tun? Wenn ich Corin von ihrer Mutter fort nehme, wird dies für böses Blut sorgen. Du brauchst keine weiteren Feinde, und ich selbst kann es mir nicht leisten, Ylanka und ihre Freundinnen gegen mich zu wissen.“ Ratlos starrte Kythara zu Boden.

„Wenn du sie trennen könntest, ohne den Blutbund zu zerstören?“, fragte Inani scheu.

„Du meinst, ich soll Ylanka mit einer wichtigen Aufgabe betrauen? Natürlich ist das ein guter Weg, aber Corin bliebe dann allein zu Hause, Ylankas Launen weiterhin hilflos ausgesetzt, wann immer diese von ihrer Mission heimkehrt.“

„Und wenn auch Corin eine Aufgabe erhält?“

„Corin ist zu jung, ihr beide habt gerade erst eure Ausbildung begonnen“, widersprach Kythara. Doch dann musterte sie nachdenklich das Mädchen an ihrer Seite. Jeder hatte sich schon gewundert, dass ausgerechnet diese beiden sich angefreundet hatten. Kythara schämte sich ein wenig dafür, dass sie Corin für ein allzu schwaches Mädchen hielt, ohne Talent, Begabung oder auch nur eine eigene Persönlichkeit.

„Inani, welche Fähigkeiten hat Corin deiner Meinung nach? Welche Aufgabe könnte man ihr geben?“

„Sie besitzt begnadete Kampftechnik, ist nur zu langsam und vertraut nicht auf sich selbst. Und ich glaube, sie kann

instinktiv Wege finden, ohne Nebel und Magie. Wie eine Taube.“

Ja, es stimmte, Corin konnte sich selbst vor ihr, Kythara verstecken und war die einzige Junghexe, die niemals ihre Ausrüstung suchen musste …

„Hm. Es wäre eine Überlegung wert. Thamar und seine Verbündeten würden sich vielleicht zunächst zurückgesetzt fühlen, wenn ein kleines Mädchen wichtige Botschaften vermitteln soll, aber mit einigen Ausbilderinnen an ihrer Seite ... Es wäre sicherlich gut für Corin, fern von den anderen Hexen erzogen zu werden, ich könnte zu ihrem Schutz vielleicht zwei Frauen mitgeben, die sowohl sie als auch den Prinzen ständig unterrichten sollen. Ylanka … Corins Mutter war nicht immer so. Ihr ist schlimmes widerfahren, wofür sie Shora die Schuld gibt, obgleich sie weißt, dass es nicht so war … Sie kann ihren Hass nicht loslassen, Hass, der auch dich mit einschließt.“ Sie zögerte kurz, doch sie wollte ein solch junges Mädchen nicht mit der ganzen Geschichte belasten. Inani würde früh genug lernen, dass man manchmal nicht jeden retten konnte, wenn mehrere zugleich in Lebensgefahr schwebten. Shora hatte vor vielen Jahren Ylanka während eines Elfenangriffs zurückgelassen und statt ihrer Alanée gerettet. Mehr war nicht möglich gewesen! Als Ylanka schließlich entkommen konnte, war sie ein anderer Mensch gewesen. Kythara hatte so sehr gehofft, dass die Sorge für ein Kind Ylanka helfen könnte …

„Ylanka schicke ich an den lynthischen Hof, wir brauchen dort eine fähige Spionin. Der neue Fürst von Lynthis zeigt sich als stolzer Mann, der

vielleicht für Unruhen sorgen wird. Es gäbe andere, die geeigneter wären, aber sie ist gut genug, um die Ehre verdient zu haben.“

Kythara brach ab und packte Inani plötzlich bei den Schultern.

„Das wäre auch für dich eine gute Lösung, Kind. Wir brauchen jemanden in Roen Orm, der mit diesem Loy zusammenarbeitet, und ihr scheint euch gut verstanden zu haben. Du bist sowieso auserkoren, eines Tages an den

Königshof zu gehen und dort das Spiel der Macht zu erlernen, warum also nicht jetzt? Jetzt sofort?“

Sie lächelte, als sie den Schrecken in Inanis Gesicht bemerkte und strich ihr beruhigend über den Rücken. Immer wieder musste sie sich ermahnen, dass Inani eben noch ein Kind war. Die immens weit entwickelten magischen Fähigkeiten des Mädchens und ihre reifen Gedanken täuschten zu leicht darüber hinweg.

„Ich überlasse es dir, und du würdest selbstverständlich nicht allein bleiben. Willst du mit deiner Mutter zusammen gehen, oder eine andere Erzieherin an deiner Seite haben? Es wäre nichts ungewöhnliches, gerade weil Shora einen weniger guten Stand in unserer Gemeinschaft hat.“

„Bitte, ich ...“, Inani schüttelte leicht den Kopf. „Lass mir meine Mutter. Ich habe es versucht, wirklich versucht. Ich brauche sie, auch, wenn sie mich nicht mehr liebt. Ich brauche sie.“ Inani kämpfte erfolglos gegen die Tränen an.

„Sie liebt dich.“ Kythara zog das schluchzende Mädchen an sich. „Aber sie verzweifelt an ihrer Lebensaufgabe. Sieh, was ich dir jetzt sage, solltest du erst viel später erfahren, es ist nichts, was man einem Kind erzählt. Ich hoffe, du wirst es verstehen.

Der Grund, warum Shora beinahe von der Gemeinschaft der Hexen ausgestoßen worden wäre, lag keineswegs darin, dass sie sich eigenmächtig zu deiner Mutter erklärt hatte. Das war dumm, aber nichts, was wir ihr jahrelang vorgeworfen hätten. Ich ... komm her, teile meine Erinnerung, das kann ich nicht in Worte fassen.“

Zögernd öffnete sich Inani ihrem Bewusstsein, sie fürchtete, was sie gleich erfahren würde, doch Kythara spürte, das Mädchen musste es einfach wissen!

 

„Shora, du musst mir das Kind geben, du kennst das Ritual!“ Kythara runzelte die Stirn, sie war mehr als verärgert. Sie kannte Shora und Alanée jetzt schon so lange, diese beiden waren die letzten, von denen sie so etwas erwartet hätte! Ein Kind, das in der Hexennacht geboren wurde, musste vom Rat untersucht werden, ob es wirklich die Gabe der dunklen Göttin besaß. Erst dann wurde entschieden, wer es als Tochter aufnehmen würde. Shoras Anspruch, dieses Mädchen besitzen zu wollen, war irritierend genug. Ein schwerer Bruch der Traditionen, doch wenn sie nicht einmal zuließ, dass es vom Rat anerkannt wurde, musste Schlimmes vermutet werden.

Alanée flüsterte energisch auf ihre Freundin ein, und endlich gab Shora das Kind aus der Hand. Kythara sah verblüfft die Angst im Gesicht ihrer

langjährigen Freundinnen. Konnte es sein? War dies wirklich die Klinge der Göttin, die Kriegerin, die angekündigt worden war, um ein neues Zeitalter des Gleichgewichts einzuleiten? Oder steckte noch etwas anderes dahinter?

Zögernd starrte sie auf den schlafenden Säugling. Es kostete sie Überwindung, nach der jungen Seele zu greifen, um die schlummernden Kräfte des winzigen Mädchens zu prüfen. Was sie fand, ließ sie zurückschrecken. Beinahe hätte sie das Kind fallen gelassen, das war unmöglich! Legenden sprachen davon, doch niemand hatte je bestätigt, dass es so etwas wirklich gab.

„Shora, wo hast du sie gefunden?“, wisperte Kythara. Die magische Kraft einer gewöhnlichen Hexe bündelte sich in einem knotenartigen Geflecht unter ihrem Rippenbogen. Bei Neugeborenen war dieses Geflecht kaum größer als ein Sandkorn. Wenn die Kraft erwachte, wuchs das Geflecht heran und begann zu pulsieren, bis die Hexe voll ausgereift war. Dann zogen sich magische Energiestränge durch ihren ganzen Körper, dünne Fäden, ausschließlich für jene sichtbar, die selbst über Magie verfügten. Dieses Kind hingegen besaß nicht nur ein stilles, samenkornkleines Geflecht, überall in seinem Körper waren weitere magische Knoten sichtbar. Sie pulsierten, leuchteten hell wie kleine Sterne unter Kytharas Blick. Sie waren allesamt miteinander verbunden, der gesamte Leib war durchzogen von magischen Energiebahnen.

Die anderen Ratshexen drängten heran, betrachteten das Kind und reagierten nicht weniger erschrocken.

„Wir müssen sie töten, Kythara! Gewiss ist sie die Frucht einer verbotenen Verbindung zwischen einer Hexe und einem Priester, du kennst die Legenden!“

„Schweig, Kjelle. Du weißt, was ich von Legenden halte, ganz besonders von dieser!

Selbst wenn ein Priester und eine Hexe ein Kind zeugen sollten, was gewiss schon häufig genug geschehen ist, die Wahrscheinlichkeit, dass es in der Hexennacht zur Welt kommt, ist lächerlich gering. Dass dabei dann so etwas entsteht, halte ich für völlig ausgeschlossen.“

„Ich musste die Mutter vom Tod retten, Kythara. Es war ein Bauernmädchen, selbst noch fast ein Säugling, und sie besaß nicht einen Funken von der Gabe“, wisperte Shora. „Der Vater des Kindes soll der Schmied des Guts sein. Ich habe mich nicht vergewissert, doch es gab kein Anzeichen von hoher magischer Konzentration an diesem Ort. Selbst den Sonnenpriester konnte ich kaum wahrnehmen.“ Alanée nickte bestätigend.

„Und ich sage trotzdem, wir müssen sie töten! Keine Hexe darf über so viel Magie verfügen. Es würde nicht nur sie selbst umbringen, noch bevor sie lernt zu laufen und zu sprechen, sie könnte die halbe Welt dabei vernichten!“, rief Ylanka hitzig.

Kythara betrachtete das Mädchen, das mittlerweile erwacht war. Es lag ruhig in ihren Armen, vertrauensvoll erwiderte es den Blick. Zu ihrem Entsetzen spürte Kythara, wie sich das Bewusstsein des Neugeborenen nach ihr ausstreckte.

Dieser Säugling, dessen einziger Antrieb das Verlangen nach Nahrung, Wärme, Sicherheit und Schlaf sein sollte, griff magisch nach ihr!

Hastig legte sie das Mädchen auf den Boden nieder und schloss kummervoll die Augen. Wie sehr sie es hasste, Todesurteile auszusprechen, wenn es um Kinder ging! Doch sie war die Königin, von ihr wurde Stärke erwartet. Kythara strich heimlich über ihr Schlangenamulett, bevor sie sich aufrichtete und das Wort ergriff.

„Dieses Mädchen kann nicht in die Gemeinschaft der Hexen aufgenommen werden. Ihr Körper ist von Magiegeflechten übersät wie von Krebsgeschwüren. Es würde sie zu einem qualvollen Tod verurteilen und unabsehbares Unheil für jeden in ihrer Nähe bedeuten, wenn wir sie leben lassen. Deshalb bestimme ich, dieses Kind zu töten, zu seinem eigenen und unser aller Wohl. Es tut mir leid, Shora.“

Stumm wollte sie Shora um Verzeihung bitten, doch ihre Freundin starrte unentwegt auf das Kind nieder. Als sie endlich aufblickte, lächelte sie sanft.

„Du irrst dich, Kythara. Ich weiß nicht, warum meine Tochter all diese Geflechte in sich trägt, aber es ist ein Irrtum, dass du sie töten musst. Inani ist meine Tochter. Sie ist die Klinge der Göttin, die ich zu schmieden habe.“

Mit diesen Worten sprang Shora vor, geschmeidig wie eine Wildkatze, riss das Kind an sich und rannte fort in die Nacht. Bevor irgendjemand reagieren konnte, war sie bereits durch den Nebel verschwunden.

 

Sechs Tage später kehrte sie zurück und legte das Mädchen erneut in Kytharas Arme.

„Prüfe sie! Prüfe meine Tochter!“, verlangte Shora. Sie war so bleich wie der Tod, ausgezehrt bis auf die Knochen, als hätte sie monatelang gefastet. Doch in ihren Augen brannte ein wildes Feuer der Entschlossenheit, nah am Wahnsinn.

Schweren Herzens nahm Kythara das winzige Bündel an sich. Sie hätte schreien können, als sie erkannte, was Shora getan hatte: Mit Hilfe von Magie war ein Geflecht nach dem anderen zerstört worden, die filigranen Energiebahnen zerrissen. Nur das etwa walnussgroße Urgeflecht war unangetastet und flimmerte leicht unter Kytharas suchendem Blick. Es musste Shora nahezu alle Kraft gekostet haben, die sie besaß. Es war zweifelhaft, ob sie sich jemals wieder vollständig davon erholen und zu alter Macht zurückkehren würde. Dieses Kind allerdings …

Es war den Legenden zufolge schon früher versucht worden, die überzähligen Magiegeflechte zu zerstören. In allen Fällen waren die Kinder jung gestorben oder dem Wahnsinn anheimgefallen, kein einziges Mädchen hatte sich zu einer normalen, gesunden Hexe entwickelt. Einige wenige sollten angeblich alle Kräfte verloren haben und als mehr oder weniger behinderte, schwachsinnige Frauen unter den gewöhnlichen Menschen dahinvegetiert sein.

Zögernd suchte Kythara in dem Geist des Mädchens nach einem Zeichen, nach irgendetwas, das rechtfertigte, sie anzunehmen. Sie wusste, würde sie das Kind erneut zurückweisen, wäre das auch für Shora ein Todesurteil.

Das schlafende Bewusstsein des Kindes schien völlig leer. Lediglich einige Erinnerungen an Schmerz, Kälte und Angst waren dort zu finden, wo sich bereits reiche Eindrücke von Licht und Geborgenheit hätten ansammeln müssen. Es wäre gnädiger, diesem Elend ein Ende zu bereiten. Doch gerade, als Kythara aufgeben wollte, erwachte das Mädchen. Helle Augen richteten sich sie, und tief verborgen unter all dem Schmerz regte sich eine weitere Erinnerung. Inani erinnerte sich. Sie erinnerte sich, diese Frau schon einmal gesehen zu haben. Was auch immer sie sein mochte, ihr Geist war gesund.

Tief erschüttert legte Kythara das leise wimmernde Mädchen in Shoras Arme zurück.

„Nimm deine Tochter, ihr Name sei Inani. Sie ist aufgenommen in die Gemeinschaft der Hexen, bis sich an ihrem zwölften Geburtstag entscheidet, ob sie im Licht oder in der Dunkelheit leben wird.“ Obwohl sie die rituellen Worte kaum hörbar wisperte, wussten alle umstehenden Hexen, was hier in diesem Moment geschah. Niemand protestierte, doch es war leicht zu sehen, dass niemand mit ihrer Handlung einverstanden war.

„Für deine Eigenmächtigkeit, sie als deine Tochter zu erwählen, verurteile ich dich zu zwanzig Stockhieben. Du wirst die Strafe in einer Woche empfangen, wenn du dich von den Folgen deiner Taten erholt hast. Danach darfst du einen Ort in Enra wählen, an dem du deine Tochter aufziehen willst.“

Kythara selbst führte die Strafe aus, sie schonte ihre Freundin nicht. Sie durfte es nicht, zu viel Ansehen hatte sie durch ihre Entscheidung verloren.

 

Inani löste sich schweigend aus Kytharas Armen. Sie zitterte, als wäre sie fieberkrank.

„Alle haben damit gerechnet, dass du jung sterben würdest, oder an schweren Gebrechen erkrankst. Immer wieder haben wir euch beide in eurem Dorf besucht, um nach dir zu schauen … Dass du körperlich und geistig stark und gesund zu uns zurückgekehrt bist, haben dir einige bis heute nicht verziehen. Es gibt genug Hexen, die insgeheim fürchten, dein Verstand könnte zwar unbeschädigt sein, deine Seele hingegen zerstört, da du oft so unbeherrscht bist. Niemand weiß, was du in deiner Wut alles anrichten kannst! Noch schlimmer sind die Neider, die es nicht verkraften können, wie mächtig deine Magie ist, wie anders du bist. Zwei, ja, eigentlich sogar drei Seelenvertraute, das ist mehr als ungewöhnlich. Du lernst leichter und schneller als die meisten anderen, und das nehmen sie dir übel. Shora war früher beliebt, doch ihre eigenmächtige Entscheidung war für viele Hexen unverzeihlich. Die Gefahr, die sie mit dir zu uns

brachte, können sie nicht vergessen. Das ist der Grund, warum Shora so sehr am Rande unserer Gemeinschaft leben muss, warum du ebenfalls fast eine Geächtete bist. Das alles ist aber auch der größte Beweis dafür, was Shora bereit ist, für dich zu tun. Sei gewiss, sie liebt dich mehr als ihr eigenes Leben. Du solltest das niemals vergessen. Shora liebt dich. Sie wird jederzeit für dich sterben, und sie wird ganz gewiss sterben, falls du dich von ihr abwendest. Aber ich ... Inani, du kannst mir vertrauen. Wenn ich zwischen dir und Ylanka entscheiden müsste, ich würde stets dein Leben wählen.“

Sorgenvoll blickte Kythara in das bleiche, tränenüberströmte Gesicht des Mädchens, das sich zu Boden sinken ließ und Halt bei ihren Vertrauten suchte. Sie wusste um die Gefahr, die in diesem übermäßig starken Bund mit einem Raubtier lag, sie wusste, wie leicht sie das Mädchen verlieren könnte.

Es dauerte lange, bis Inani aufhörte zu zittern und sie ruhiger atmete. Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme so leise, dass Kythara sie kaum hören konnte: „Ich habe bis heute nicht verstanden, was es bedeutet, eine Tochter Pyas zu sein. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich weiß nicht, ob ich der Göttin gehorchen kann, meine Lebensaufgabe annehmen ... Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich es will.“

Kythara kniete nieder und zog Inani behutsam auf die Füße.

„Das weiß niemand. Das ist eine Entscheidung, die du jeden Tag von neuem treffen musst. Für heute reicht es, wenn du mir sagst, ob du dich deiner neuen Aufgabe stellen willst. Ich möchte, dass du mit Shora und Alanée nach Roen Orm gehst, an den Königshof. Sie werden dich dort mit Hilfe anderer Hexen unauffällig in allen wichtigen Fertigkeiten unterrichten und dafür sorgen, dass du Ilat genauestens beobachten kannst. Du sollst mit Niyam von den Loy zusammenarbeiten und alles, was er liefert, zu Thamar und seinen Verbündeten bringen. Auf diese Weise kannst du Corin nahe bleiben, was euch beiden sicher gut tun wird. Ich denke, fern von dieser Welt wird es dir leichter fallen, Frieden mit Pya zu schließen. Dein Schicksal liegt nicht diesseits des Nebels, so viel ist gewiss. Außerdem kannst du dein Rachespiel auf diese Weise viel intensiver genießen. Was sagst du?“

Inani hielt das Gesicht im Fell der Leopardin verborgen, sie schwieg lange Zeit, während Kythara wartete und beobachtete. Es war wundersam anzusehen, wie Inanis wild gelocktes Haar sich von glänzendem Schwarz zu einem satten Rotton färbte. Es war die einzige Antwort, die sie brauchte. Als das Mädchen schließlich aufstand und ruhig lächelte, ruhte es vollkommen in sich selbst.

„Ich bin einverstanden. Für die Gelegenheit, nagaurischen Verbformen zu entfliehen, würde ich alles tun. Alles!“

Lachend rannte Inani los, die Kyphra im Arm, die Leopardin an ihrer Seite.

„Dieses Kind wird mich eines Tages umbringen!“, sagte Kythara seufzend zu ihrem Raben.

„So ist es“, erwiderte der Vogel krächzend, und flog auf in die Wipfel der Bäume.