1.
Die Gemeinschaft der Dunklen Schwestern besitzt nicht viele Regeln, doch diese müssen ohne Ausnahme befolgt werden. Diejenige Schwester, die gegen diese Gesetze verstößt, wird vor dem Rat angehört werden, ob es gute Gründe gab. War es Leichtsinn, ein Missgeschick, ein unglückliches Versehen, mag ihre Strafe leicht ausfallen. War es notwendig, um ihr eigenes Leben oder das einer Schwester zu retten, wird der Rat entscheiden, was richtig ist. War es Vorsatz, gibt es nur eine angemessene Strafe, und das ist der Tod.
Yosi von Rannam, „Töchter der Dunkelheit“
Roen Orm
29. Nachim, im Jahre 9012 nach Gründung der Stadt
In der Nacht vor der Siuta
Vollbracht.
Es ist vollbracht“, flüsterte die alte Frau heiser. Die Spindel fiel aus ihren knorrigen Händen. Nur mit Mühe schaffte sie es, das Weidenkörbchen auf den Boden zu stellen, ohne den Inhalt zu verschütten – das Symbol ihres Lebenswerks.
„Neunhundertsechzehn. Ich habe dich geschlagen, Yosi, wer hätte das gedacht?“
Leise sang sie vor sich hin und wartete.
Wer würde ihrem Ruf folgen? Würde überhaupt jemand kommen?
Schließlich war sie eine Verstoßene, und zu wenige Schwestern waren verblieben in dieser Welt des Wandels. Immer weniger Töchter der Dunkelheit wurden geboren. Mädchen mit der Gabe zu hören, was in der Finsternis verborgen war, zu sehen, was im Schatten lauerte, zu beherrschen, was die Sonne fürchtete. Die das Gleichgewicht der Kräfte mehr liebten als alles andere.
„Vielleicht ruht sie nur, die Gabe. Die Zeit der Göttin wird bald anbrechen“, murmelte sie. „Ah, Loéys wird es sein! Sie hat den Mut, eine solche Aufgabe zu übernehmen. Das allein bedeutet fast ein Lebenswerk.“
Sie seufzte unterdrückt, als eine neue Welle des Schmerzes durch ihren Körper brandete. Schwer atmend lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück.
„Lauf schneller“, wisperte sie und ließ ihre Worte davontragen.
Nicht mehr lange, dann war es Mitternacht und die Siuta würde beginnen.
Wenn weder Unfall noch Mord eine Dunkle Schwester töteten, konnte sie zu jeder Siuta, dem Jahresbeginn und Frühlingsanfang, beschließen, dass ihr Lebenswerk vollbracht sei und ihre Seele in die Hände der Göttin legen – es sei denn etwas geschah, was sie bereits vorher dazu trieb.
Etwa vier Wegstunden entfernt hob Loéys den Kopf, lauschte im Wind, beschleunigte dann hastig ihre Schritte. Sie wusste, sie durfte nicht den kurzen Pfad nehmen, der sie binnen weniger Herzschläge herführen würde. Nur, wenn die Sterbende sonst ohne Segen gehen müsste, war dies erlaubt.
Die Alte lächelte. Noch musste sie warten, es war gut so. Noch blieb ihr Zeit.
Zeit ...
All die Jahre ...
So vieles war geschehen ...