9.

 

„Der Feind meines Feindes ist nicht immer mein Freund.“

Motto der Königsfamilie von Roen Orm

 

Maondny schreckte hoch. Ein Gefühl von Gefahr hatte sie aus ihren ewig währenden Träumen gerissen. Orientierungslos starrte sie um sich.

Wo bin ich? Himmelhohe Bäume ragten über ihr auf, sie war völlig allein. Mühsam erinnerte sie sich, einen Spaziergang in der Nähe der Siedlung begonnen zu haben, um die Umgebung kennen zu lernen. Das musste schon lange her sein. Erschöpfung und vernichtender Durst quälten sie. Ob es die Gefahr, an Schlaf- und Wassermangel zu sterben gewesen war, die sie hochgetrieben hatte? Es wäre keineswegs das erste Mal. Schwankend raffte sie sich auf, zwang ihren ausgezehrten Körper, sich zu bewegen. Probeweise griff sie nach ihrer Magie und versuchte, mit ihren Kräften nach Wasser zu suchen. Aber selbst dafür war sie zu schwach. Panik ergriff sie, als ihr klar wurde: Sie war innerlich blind, abgeschnitten von ihrer visionären Zeitenwelt. Gestrandet in der Wirklichkeit. So weit war es doch noch nie mit ihr gekommen!

Mutter, wimmerte sie geistig. Zitternd stolperte Maondny zwischen den dichten Stämmen dahin, taumelte immer wieder zu Boden. Warum hatte niemand nach ihr gesucht? Die Sippe hatte bislang jedes Mal jemanden geschickt, der sie rechtzeitig zurückholte, wenn sie sich in ihrer Trance zu verlieren drohte.

Plötzlich trat sie ins Leere und stürzte einen Abhang hinab. Schreiend suchte sie Halt, stieß schmerzhaft gegen Bäume, rutschte durch Gestrüpp und Farne. Dann Kälte, Dunkelheit, ein harter Aufprall. Sie war in einen Fluss gefallen. Eisiges Wasser schlug über ihr zusammen.

Mutter, hilf …

 

~*~

 

 

Thamar trieb verzweifelt sein Pferd an. Das Tier war nass vor Schweiß, Schaumflocken lösten sich von seinem Maul. Die Rufe seiner Verfolger hallten hinter ihm, viel zu nahe. Vor einigen Wochen hatten Freunde und Palastbedienstete ihn aus dem Gefängnis befreit und so vor dem sicheren Tod gerettet.

Über mehrere Tage hinweg hatte man seinen gefolterten Körper von einem Versteck zum nächsten getragen, auf der Flucht vor dem Zorn des Thronprinzen. Ilat hatte Dutzende Sonnenpriester dazu getrieben, mit ihrer Magie nach Thamar zu suchen, wie man ihm später berichtete; warum er dennoch nicht gefunden wurde, wusste niemand. Vielleicht hatten die Sonnenpriester ihre eigenen Gründe, die Suche halbherzig zu führen, vielleicht waren die falschen Fährten und Listen, die Thamars Helfer nutzten, zu schwer durchschaubar. Tatsache blieb, ihm gelang die Flucht. Nur mühsam gewann er dabei den Kampf gegen den Tod. Die wochenlange Folter hatte ihn an Körper und Geist nahezu vernichtet. Sobald er stark genug war, schmuggelten seine Verbündeten ihn aus Roen Orm heraus und verbargen ihn in Schlupflöchern. Mal war es eine Bauernkate, mal der Keller eines Bürgerhauses in einer kleinen Stadt, wo er ein oder zwei Tage verbringen durfte, um weiter zu Kräften zu kommen. Wichtig war, in Bewegung zu bleiben, denn Ilat zeigte mehr Ehrgeiz bei der Verfolgung seines jüngeren Bruders als ihm jemals jemand zugetraut hatte. Trotz aller Vorsicht war Thamar schließlich doch entdeckt oder verraten worden. Um seine Verbündeten zu schützen, war Thamar auf das nächstbeste Pferd gesprungen und allein geflohen, hinein in die Wälder. Angst und Zorn hatten ihn vorangetragen und einen guten Vorsprung gesichert. Aber jetzt war er am Ende seiner Kraft angelangt, sein Pferd, keineswegs ein starkes Kriegsross, lahmte, und seine Feinde kamen immer näher.

Nun gilt es! Thamar ließ sich vom Rücken des Hengstes fallen, als er sicher war, von einer Wegbiegung vor allen Blicken geschützt zu sein und rollte so schnell wie möglich unter dichte Sträucher. Das Pferd verhielt im Schritt, suchte verwirrt nach seinem Reiter.

„Lauf!“, zischte er und schlug mit einem Ast nach den Fesseln des Tieres. Erschrocken wieherte es auf und preschte davon, schneller nun, nachdem es seine Last endlich verloren hatte. Nur wenige Momente später jagten die Verfolger an Thamars Versteck vorbei.

„Die wäre ich vorerst los“, murmelte er. Ein Blick in den Himmel zeigte allerdings, dass er keineswegs in Sicherheit war: Die Nacht brach herein, es sah nach Regen aus, und er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er sich gerade befand. Eine Weile kämpfte er mit sich. Er wünschte sich sehnlichst, einfach liegen zu bleiben, zu ruhen, zu vergessen. Schließlich gewann jedoch sein Verstand. Er würde in diesem Gestrüpp sterben, wenn er hier seiner Schwäche nachgab.

Erschöpft folgte Thamar dem schmalen Pfad, der sich als Wildwechsel zu einem Fluss heraus stellte. Gierig stillte er seinen Durst und torkelte dann am Ufer entlang, auf der Suche nach einem

Unterschlupf für die Nacht. Ob es hier vielleicht Fischer gab? Köhler? Irgendjemanden?

Als er nicht mehr weiter konnte, kalter Nieselregen seinen Mantel durchweichte, suchte er sich eine trockene Stelle unter einer alten Tanne. Thamar hatte nicht einmal mehr die Kraft, ein Feuer zu entzünden. Bevor er zusammenbrach, schaffte er es lediglich, ein Stoßgebet in die Finsternis zu schicken:

Pya, Göttin der Nacht, verschone mich noch dieses eine Mal. So sinnlos, aus dem Gefängnis zu entkommen, nur um in der Wildnis zu erfrieren! Lass mich nicht im Schlaf sterben, wachen kann ich nicht mehr.

 

Ob nun Ti, Pya oder eine andere Gottheit gnädig waren, als Thamar erwachte, war die Sonne bereits aufgegangen. Nebel verhüllte die Welt. Er fror erbärmlich, sein noch immer ausgemergelter, kaum geheilter Körper schmerzte von oben bis unten. Doch er lebte und war allen Feinden entkommen. Erfüllt von neuer Zuversicht dankte er jedem höheren Wesen, das ihm in den Sinn kam und kehrte zurück zum

Flussufer. Wenn er das Wasser als Richtungsweiser nahm, würde er gewiss früher oder später wieder auf eine Siedlung stoßen.

Vielleicht muss ich meinen Dolch verkaufen, er ist wertvoll genug für ein Maultier. Wenn es sein muss, reite ich auch auf einem Ochsen! Mit etwas Glück konnten Danar und Kýl entkommen und warten auf Nachricht von mir, statt blind zu suchen.

In Gedanken versunken hätte er beinahe das Bündel übersehen, welches dort in Ufernähe im Wasser trieb. Schwarzer Stoff hatte sich in Wurzeln verfangen. Thamar kletterte die Böschung hinab, um einen Blick darauf zu werfen. Vielleicht war es ein Sack oder ein Umhang, den ein Wanderer oder Fischer an den Fluss verloren hatte? Irgendetwas von Nutzen?

Der Stoff bot ungewöhnlich viel Widerstand, als er daran zog. Erschrocken schrie er auf: Ein bleiches Gesicht kam zum Vorschein, sowie schwarzglänzendes Haar. Spitze Ohren zeigten, es war ein Elf. Zuerst fuhr Thamar zurück, aus Angst, eine Leiche berührt zu haben. Hass, uralter Hass, von Kindesbeinen an geschürt, kochte in ihm hoch. Elfen! Ti sollte sie alle verbrennen! Elfen, sie hatten unendliches Leid über Roen Orm gebracht, so viele Tote, in einem Krieg, den niemand verstand.

Hoffentlich ist er tot!

Thamar zögerte, plötzlich von zwei widerstreitenden Impulsen getrieben. Hass wollte ihn zwingen, den Feind zurück ins Wasser zu stoßen. Mitgefühl und die Erinnerung an sein eigenes Leid hieß ihn innezuhalten. Wenn dieses Geschöpf noch lebte, durfte er es einfach hier ertrinken oder erfrieren lassen? Etwas in ihm weigerte sich, ein Lebewesen, das so hilflos war, vorsätzlich zu töten. Sein Instinkt schrie ihm zu, wegzulaufen, so schnell und so weit wie nur möglich. Dann ließ ein leises Stöhnen ihn zusammenzucken.

Er lebt! Flieh! Lass ihn hier, lass ihn sterben! Elfen sind Bestien!

Doch schließlich sprang Thamar in das flache Wasser und zerrte an dem ausgekühlten Körper – ein weiblicher Körper, wie er dabei bemerkte. Es kostete den größten Teil seiner geringen Kräfte, aber er schaffte es. Eine Elfe lag im Gras vor ihm, still, bleich und wunderschön. Sie atmete nur schwach, rührte sich nicht, als er ihr die nassen Kleider auszog und sie in seinen eigenen Mantel hüllte. Noch immer quälte ihn der Streit in seinem Inneren. Seine Hände wussten nicht recht, ob sie dieser feindlichen Kreatur nicht den Dolch in die Brust rammen oder aber prüfen sollten, ob diese Frau sich etwas gebrochen hatte.

Ich könnte sie einfach hier liegen lassen. Sicher suchen ihre Leute sie schon und werden sie retten. Hm – und wenn nicht?

Der mitfühlende Teil seiner Persönlichkeit gewann erneut. Mit viel Mühe gelang es Thamar diesmal, ein Feuer zu entzünden.

Vielleicht eine Prüfung von Ti? Er hat mich entkommen lassen, zweimal. Möglicherweise muss ich jetzt zeigen, dass ich so viel Gnade wert war … Warum legt er mir ausgerechnet eine Elfe in den Weg? Nun gut, bei so ziemlich jedem anderen Geschöpf, vielleicht mit Ausnahme noch eines Saduj, hätte ich keinen Moment gezögert. Wo wohl ihre Sippe ist? Normalerweise sorgen die doch füreinander? Ob es auch bei den Elfen Ausgestoßene gibt?

Erst jetzt wurde ihm klar, wie wenig er über dieses Volk wusste, das er sein ganzes Leben lang gehasst und bekämpft hatte. Ein merkwürdiger Gedanke!

Die Wärme des Feuers, Schmerzen und Hunger überwältigten ihn schließlich, und Thamar schlief Seite an Seite mit einem Geschöpf ein, das er unter jedem anderen Umstand sofort erschlagen hätte.

 

P’Maondny erwachte. Schwach, so schwach war sie nie zuvor in ihrem ganzen Leben gewesen! Über hundert Menschenjahre zählte sie bereits, doch für ihr Volk war sie damit sehr jung, beinahe noch ein Kind. Elfen wuchsen langsamer heran, sie war äußerlich wie auch seelisch nicht älter als eine etwa zwanzig bis dreißig Jahre alte Menschenfrau. Verwirrt versuchte sie, den dichten Schleier zu durchdringen, der ihr Bewusstsein und ihre Sinne überschattete. Kein einziger Muskel gehorchte ihrem Befehl. Sie fühlte sich abgeschnitten von ihrer Magie wie vom Schicksalsstrom.

Sterbe ich? Der Gedanke versetzte sie in Panik. Sie hatte eine Aufgabe, eine Pflicht, die erfüllt werden musste, sie durfte jetzt nicht diese Welt verlassen!

Aber dann spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter, eine ferne Stimme, die zu ihr sprach, und Maondny wusste, sie war lebendig und ganz und gar in dieser Wirklichkeit.

„Mutter?“, flüsterte sie. Mit aller Kraft konzentrierte sie sich, öffnete die schweren Lider – und blickte in feindselig funkelnde Augen. Hass, Wut und Angst kämpften in diesem fremden Gesicht miteinander. Dennoch war sie sicher, dass ihr keinerlei Gefahr drohte. Verwirrt regte sie sich; sofort überwältigte sie beißender Schmerz und raubte ihr fast erneut die Sinne.

„Lieg still, Elfe, dein Fieber ist hoch!“, zischte eine männliche Stimme auf Roensha, die Sprache der Menschen von Roen Orm. Maondny dachte kurz darüber nach, fand jedoch nichts in ihrer Erinnerung, was diese Worte erklären könnte. Also ließ sie sich zurück in die Dunkelheit fallen, bereit, dort zu sterben, sollte dies ihr Schicksal sein, und die Verantwortung für dieses Versagen vor den Göttern zu übernehmen.

 

Thamar sah, wie die Züge der jungen Elfe sich entspannten, und atmete erleichtert auf. Er war selbst noch nicht stark genug, auf keinen Fall bereit für eine Auseinandersetzung mit seiner Feindin. Ob sie ihn töten würde, sobald sie wieder bei Kräften war? Nicht auszuschließen, Elfen waren zu allem fähig, wie jeder wusste. Gnade mit Verletzten oder Hilflosen war ihnen ebenso fremd wie jedes andere Gesetz der Menschlichkeit. Unendlich viele Jahre erbitterter Gefechte hatten dies immer wieder bestätigt. Es wäre sinnvoll, sie einfach im Schlaf zu töten. Ein Stich ins Herz, ein Schnitt durch die Kehle, und es wäre vorbei. Eigentlich bräuchte Thamar sie auch nur hier liegen zu lassen, erschöpft und hilflos, wie das Elfenweib im Augenblick war.

Warum kann ich es nicht? All die Jahre Erziehung unter Vater und Ilat, die Kriegerausbildung, der Kampf gegen die Elfen, hat mich das nichts gelehrt?

Geistesabwesend musterte er das wunderschöne Gesicht. Fast wie eine Statue schien es, so vollkommen geformt und fremdartig. Sie erinnerte ihn etwas, was er nicht greifen oder benennen konnte.

Es war vor allem ihre Wehrlosigkeit, die ihn zurückhielt. Erst wenige Wochen war es her, dass er selbst hilflos und zerschlagen an einer Kerkerwand gehangen hatte, abhängig von Gnade und Mut einiger weniger Getreuen. Hätten sich seine letzten Anhänger nicht zusammengetan, um ihn zu retten, wäre er jetzt tot. So, wie man es von ihm erwartet hatte, so, wie es das Gesetz von Roen Orm verlangte.

Wieder zuckte die Elfe in ihrer tiefen Ohnmacht, murmelte Worte in ihrer eigenen Sprache, die grausam kalt und zugleich schön in Thamars Ohren klang. Er konnte es nicht. Niemals könnte er sie erschlagen. Widerstrebend wischte er mit einem Tuch über das fieberheiße Gesicht, dann hob er behutsam ihren Kopf in seine Arme und flößte ihr Wasser ein. Sie stöhnte qualvoll, versuchte seine Hände abzuwehren.

„Still, bleib ruhig, alles ist gut. Ich bin nicht dein Feind, nicht jetzt und nicht hier.“

Seltsam berührt beobachtete er, wie sich der schlanke Leib unter dem Umhang regte, von schmerzlichen Krämpfen geschüttelt.

Ti, verschone ihr Leben! Ich will nicht, dass dies umsonst ist. Es mag ein Fehler sein, ihr zu helfen, ich werde es sicherlich bereuen, wahrscheinlich daran sterben. Dennoch, verschone sie, allmächtiger Herrscher des Himmels. Es gab so viel Tod und Gewalt, es muss doch auch Hoffnung geben!

Er lächelte grimmig über seine rührseligen Gedanken. Wenn Ilat davon wüsste, wie würde er lachen! Ilat …

Thamar wollte Wache halten, auf der Hut vor Raubtieren und seinen Feinden, und aus Angst vor der Elfe. Wenn sie erwachte und ihn schlafend fand, was würde sie ihm wohl antun? Falls sie seine Sprache nicht verstehen sollte, wie sollte er ihr erklären, warum sie nackt und voller Schmerzen an seinem Feuer lag?

Wahrscheinlich gibt sie mir gar keine Gelegenheit für Erklärungen, sondern tötet mich sofort. Was soll sie auch sonst denken, außer, dass ich ihr Gewalt angetan habe?

Er kämpfte hart, um wach bleiben zu können. Doch sein Körper betrog ihn ein weiteres Mal, und er fiel in tiefen Schlaf.

 

~*~

 

„Du musst aufwachen, Thamar von Roen Orm!“ Eine melodische Stimme hauchte die Worte in sein Ohr; es weckte eine Erinnerung. Ein Traum von einer Frau, die in sein Gefängnis kam, ihn tröstete, als er den Kampf gegen den Tod bereits fast verloren hatte ...

Thamar schreckte hoch. Eine schmale Hand presste sich auf seinen Mund, leuchtende Elfenaugen sahen auf ihn herab. Er wollte sich wehren, aber in dem lieblichen Gesicht der Elfe stand eine Warnung, die ihn still sein ließ. Es dämmerte, das Feuer war erloschen. Die Hand gab ihn frei. Rasch stand er auf, lauschte aufmerksam auf alles, was Gefahr bedeuten könnte.

„Ich höre nichts, was ...“ Verblüfft erstarrte er, als er den Kopf wandte: Die Elfe hatte ohne jede Scham den Mantel abgeworfen und streifte sich ihr langes schwarzes Kleid über den Kopf. Der Anblick ihres makellosen schlanken Körpers berührte ihn nun, da sie wach war, viel stärker als zuvor, wo er nur darauf bedacht gewesen war, ihr Leben zu retten. Verblüfft erkannte er, dass sie jegliche Schwäche und Fieber abgeschüttelt hatte.

„Wir müssen fort. Diejenigen, die dich töten wollen, werden noch vor der Dunkelheit hierher kommen.“ Sie schloss ihren schwarzen Umhang, erwiderte dabei seinen verlegenen Blick mit völliger Ausdruckslosigkeit.

„Ich danke dir, du hast mein Leben gerettet.“ Ihre blauen Augen schienen einen Moment lang golden aufzuglühen. Wachsam trat er zurück – wollte sie ihn verhexen? Töten?

„Fürchte mich nicht. Wenn du möchtest, werde ich dich nun verlassen. Ich denke aber, dass du meine Magie heute Nacht brauchen wirst, um zu überleben.“

Tausend Fragen schossen durch Thamars Bewusstsein, er öffnete den Mund, konnte sich nicht entscheiden, welche die Wichtigste war, und schloss ihn wieder. Völlig verwirrt nickte er ihr zu.

„Wie weit sind meine Feinde entfernt?“, murmelte er schließlich.

„Weniger als eine Meile, und sie haben Spürwölfe an ihrer Seite.“

Die Elfe hielt ihm seinen Mantel hin.

„Ich bin noch zu schwach, um die Wölfe zu verwirren. Wir sollten hier den Fluss überqueren und auf der anderen Seite unser Glück suchen. Das Unterholz ist dort weniger dicht. Wenn deine Feinde die Dunkelheit fürchten und die Wölfe nicht frei laufen lassen, können wir ihnen entkommen.“

„Können wir denn in der Nacht durch den Wald wandern?“, wagte Thamar zu fragen, wissend, dass er sich damit als nutzloser Stadtmensch offenbarte. Ein sanftes Lächeln erhellte die ernsten Züge der Elfe, es zauberte weiche Schönheit in das schmale Gesicht.

„Mein Name ist P’Maondny. PE-MA-ONT-NI. Vertraue mir und ich werde dich sicher zu deinen Freunden bringen.“

Sie ergriff seine Hand und führte ihn ohne zu zögern in den Fluss hinein. Thamar hatte damit gerechnet, hier nur schwimmend auf die andere Seite gelangen zu können, doch die Elfe folgte einem Zickzackkurs, der sie beide über Untiefen und Felsen zum gegenüberliegenden Ufer führte, ohne dabei mehr als ihre Stiefelsohlen zu benässen. Neugierig und besorgt zugleich ließ er sich mitziehen. Er wagte sich nicht zu fragen, welches Schicksal ihn wohl erwarten mochte.

 

~*~

 

„Können wir einen Moment anhalten?“ Es war tiefe Nacht. Thamar schwankte, glühende Schmerzen durchzuckten seinen gesamten Körper. Einige seiner alten Folterwunden schienen sich wieder geöffnet zu haben. Erinnerungen lauerten am Rande seines Bewusstseins, qualvolle Ängste, die ihn vernichten wollten. Für seine Augen war es so dunkel, dass er weder die Baumstämme um sich herum, noch die Elfe sehen konnte, die ihn fest an der Hand hielt und mit traumwandlerischer Sicherheit durch den Wald führte. Obwohl sie seit etlichen Stunden wanderten, war er kein einziges Mal über eine Wurzel gestolpert oder an ein Dornengestrüpp gestoßen.

„Auch ich bin erschöpft, und wünsche nichts mehr als zu schlafen. Die Wölfe sind allerdings dicht auf unserer Fährte. Ich konnte sie eine Zeitlang verwirren, da meine Magie aber zu schwach war, haben sie uns wieder aufgespürt.“

„Sind es nur die Wölfe? Oder auch Menschen?“

„Die Krieger sind zurückgeblieben, allerdings ist ein Sonnenpriester bei den Wölfen. Seine Magie mag lächerlich sein, es genügt ihm dennoch, uns zu folgen. Sollte er uns finden, werde ich zwar die Wölfe besänftigen können, gegen ihn kann ich im Augenblick nicht bestehen.“ Ihre Stimme klang völlig ruhig, beinahe unbeteiligt.

„Pi…mandy ...“ Ihr komplizierter elfischer Name wollte nicht so recht über seine Lippen.

„P’Maondny. Pe-Ma-Ont-Ni. Kurzes e, kurzes o. Das bedeutet Die Träumende in deiner Sprache. Die meisten wollen mich Maondny nennen, aber das würde nur Träumerin bedeuteten.

Der Unterschied ist immens, es ist eine Beleidigung für mich. Verstehst du? Ich habe mich mittlerweile leidlich daran gewöhnt, du kannst mich also Maondny nennen, wenn es sein muss.“

Verwirrt dachte Thamar darüber nach, entschied jedoch, dass es die Kopfschmerzen nicht wert war.

„P’Maondny, ich wollte fragen ... ich weiß nicht recht ...“ Sie muss mich für einen völligen Dummkopf halten, dachte er müde.

„Du erinnerst dich an mich?“ Sie blieb stehen, und war ihm nun so nahe, dass er ihre Augen unmittelbar vor seinem Gesicht schimmern sehen konnte. Wie groß sie war! Thamar galt als ungewöhnlich hochgewachsen, doch die Elfe überragte ihn sogar um einen Fingerbreit.

„Es war ein Traum. Deine Stimme, und die Art, wie du mich ansiehst, ich bin nicht sicher – was meinst du mit erinnern?“

„Ich war bei dir, Thamar, in deiner Gefängniszelle. Ich war es, die dafür sorgte, dass deine Freunde sich zu deiner Rettung entschlossen haben.“

„Aber – warum?“ Fassungslos schüttelte er den Kopf. „Du hattest in meinem Traum gesagt, ich hätte dich gestört, oder?“

„Nicht jede Störung ist unwillkommen, mein Freund. Sieh, mein Leben ist einzig der prophetischen Vision gewidmet, ich lebe mehr in der Zukunft als der Gegenwart. Es war interessant, von der körperlichen Welt gerufen und gestört zu werden. Dass ich in den Fluss fiel, um dir zu begegnen, scheint ein Scherz der Götter gewesen zu sein, sonst hätte ich es voraussehen müssen.“

Thamar dachte auch über diese Worte einen Moment lang nach, ohne sie zu begreifen. Währenddessen zog Maondny ihn sanft weiter durch die Dunkelheit.

„Würde der Sonnenpriester dir etwas antun?“, fragte er dann. „Ich meine, er ist hinter mir her. Vielleicht sollte ich mich ihm stellen? Er würde mich nicht töten, sondern zurück nach Roen Orm bringen. Meine Freunde könnten unterwegs versuchen, mich zu befreien, und du hättest Gelegenheit zu entkommen.“

Innerlich krampfte er sich bei seinen eigenen Worten zusammen. Zurück nach Roen Orm zu gehen, sich seinem Bruder zu stellen, seinen Eltern – das war undenkbar. Noch einmal würde er die Folter nicht überleben!

Aber wenn dies Maondny retten könnte, wäre sein Tod nicht sinnlos, es würde ihm jahrelange Flucht und Exil ersparen, die tiefe Sehnsucht nach Roen Orm, seiner Heimat ...

Maondny blieb wieder stehen, versehentlich stieß er gegen sie.

Er spürte, wie sie zitterte, sie war wohl ebenso erschöpft wie er selbst. Erschrocken wich er vor ihr zurück, nicht, dass sie ihn für diese Unverschämtheit angriff! Doch Maondnys Stimme war unverändert ruhig, als sie sprach.

„Nein. Der Priester ist nicht mein Freund, er würde versuchen mich zu töten. Die Feindschaft zwischen unseren Völkern reicht zu tief, selbst, wenn ich ihm wehrlos zu Füßen läge, würde er mich vernichten wollen. Im Gegensatz zu dir.“ Sie hob die Stimme nicht an bei diesen Worten, doch es lag nun eine ganze Welt von Gefühlen darin verborgen: Dankbarkeit, Erstaunen, Wärme.

„Woher ... Warum greifen die Elfen uns seit so langer Zeit an?“

Maondny lachte leise, ein freundlicher, silberheller Laut, der ihm einen wohligen Schauer über den Rücken jagte.

„Der Tag mag kommen, an dem ich dir den Grund für diesen Krieg erklären kann. Ich fürchte, niemand versteht ihn so deutlich wie ich, obwohl Elfen und vor allem mein Vater nicht dazu neigen, wichtige Dinge zu vergessen. Komm, müssen wir weiter. Es dauert nicht mehr lange, schon bald ...“

Etwas stieß in Thamars Rücken, er stürzte hart zu Boden. Hände drückten sein Gesicht unnachgiebig in die feuchte Walderde, eine kalte Stimme zischte: „Eine Bewegung, und es wird deine letzte gewesen sein!“

Dann explodierte etwas in seinem Kopf, und Dunkelheit verschlang alle Gedanken und Ängste.