18.

 

„Wenn du wissen willst, wer du wirklich bist, blicke nicht in den Spiegel. Blicke in die Augen deiner Kinder und frage dich, was du getan hast, dass sie eben so wurden, wie sie sind.“

Weisheit der Nola

 

„Meinetwegen kannst du schweigen, bis du grün anläufst, aber glaub mir, es wird dir nicht helfen“, sagte Chyvile gelassen.

Seit neun Tagen waren sie nun schon unterwegs. Jordre war mittlerweile am Ende seiner Kräfte angekommen, Chyvile hatte ihm kaum ein paar Stunden Schlaf und nur wenig Zeit zum Essen zugestanden. Nachdem Bitten und Streitgespräche versagt hatten, versuchte er es nun mit beharrlichem Schweigen. Es ärgerte ihn, dass sich diese verflixte Famár, die ihn schon sein ganzes Leben lang quälte, davon weder stören noch beeindrucken ließ.

Sie schleifte ihn von einer tödlichen Gefahr zur nächsten, durch weglose Wälder, stinkende Moore und vor allem in jede Ansammlung von Wasser, die tiefer als eine Pfütze war. War das nicht ein wirklich guter Grund, wütend zu sein?

„Siehst du da vorne die Höhle? Es ist der Eingang zu einem unterirdischen Flusslauf. Damit können wir wenigstens zwanzig Meilen abkürzen“, erklärte Chyvile.

Jordre stierte stumm geradeaus.

„Kommst du? Oder bist du schon wieder müde?“ Spöttisch sah sie zu ihm auf. Ihre blassblaue Haut leuchtete im letzten Licht des Tages, die drahtigen, mattgrünen Haare standen wild zu allen Seiten ab. Schön waren sie nicht, die Famár, oder zumindest in den Augen der meisten Orn nicht. Für Jordre war Chyvile das erste Lebewesen, an das er sich bewusst erinnerte und damit die wichtigste Person in seinem Leben überhaupt. Er war höchstens zwei Jahre alt gewesen, als sie ihn aus dem Pionfa rettete, eine schwarze, magisch verseuchte Brühe, die vor langer Zeit einmal ein Fluss gewesen war. Chyvile konnte seine Eltern nicht finden, also hatte sie ihn mit in das Dorf genommen, das sie beschützte, und ihn kurzerhand adoptiert.

„Na komm, nur ein paar Schritte, dann kannst du dich schön ausruhen.“ Sie lachte und schob ihn vor sich her wie ein trotziges Kind, obwohl sie ihm kaum bis zur Hüfte reichte.

„Ich kann alleine laufen, und ja, ich bin müde!“, brach es aus ihm heraus. „Ich habe es satt, von dir durch die Wildnis geschleppt zu werden. Der Himmel mag wissen, warum und wohin. Ich habe deine Abkürzungen satt, und ja, ich habe sogar das Wasser satt, obwohl ich nie geglaubt hätte, dass so etwas einmal geschehen könnte!“ Als Adoptivsohn einer Famár hatte er tatsächlich mehr Zeit mit Schwimmen als Laufen verbringen müssen und war damit nach Chyviles Aussage nicht nur der einzige Orn in ganz

Anevy, der überhaupt schwimmen konnte, sondern auch einer der ganz Wenigen, die nicht ihr ganzes Leben in ihren beschützten Dörfern verbracht hatte.

„Wenn du mir wenigstens sagen würdest, was das hier alles soll! Warum diese Eile, warum hast du das Dorf im Stich gelassen? Jinivy sagte, ich komme niemals mehr zurück! Nicht, dass ich ihn oder die anderen vermissen würde, aber bitte, warum? Wohin gehen wir?“ Diese und ähnliche Fragen hatte Jordre nun schon hunderte Male gestellt, und immer hatte Chyvile nur gelächelt, mit den Schultern gezuckt oder ihn auf später vertröstet. Diesmal jedoch blieb sie stehen und sah besorgt zu ihm auf.

„Du vermisst sie nicht? Du weißt, du siehst sie alle niemals wieder, ist dir das wirklich egal? Was ist mit Kian, er ist dein Freund? Oder Dasrel? Ich weiß, dass du sie magst.“

Jordre spürte, wie er errötete. Verlegen senkte er den Blick. Seine langen schwarzen Haare fielen ihm dabei ins Gesicht, was ihm recht war, denn seine Mutter verstand es viel zu gut, jede seiner Regungen zu deuten.

„Kian ist nicht wirklich mein Freund, das weißt du ebenso wie ich. Er ist lediglich der Einzige, der nicht über mich lacht oder Angst vor mir hat oder mich beschimpft, weil ich ein Fremder von irgendwo bin und du mich aufgesammelt hast wie einen lustig geformten Stein. Er schubst mich nicht herum wie die anderen, aber er mag mich auch nicht wirklich. Man könnte sagen, er findet mich interessant, weil ich anders bin. Und Dasrel, ja, natürlich finde ich sie wunderschön. Die Sonne ist auch wunderschön.“ Seine leisen Worte versiegten zu einem unverständlichen Flüstern. Er zuckte zusammen, als er Chyviles Hand auf seinem Arm spürte und folgte der wortlosen Aufforderung, sich zu Boden zu setzen, ohne sie anzusehen.

„Jordre, warum hast du mir das nie gesagt?“

„Du wusstest es doch!“, erwiderte er trotzig.

„Nein, ich wusste es eben nicht. Natürlich, ich konnte sehen, dass du es nie leicht hattest. Du wurdest abgelehnt, weil du nicht aus Eran stammst und keine Familie hast. Aber ich wusste nicht, dass man dich für anders hält. Ich meine, du bist ein Orn wie sie alle!“

Jordre lachte bitter.

„Natürlich haben sie das nicht gesagt, wenn du in Hörweite warst, aber ich bin eben kein Orn wie alle anderen. Ich stamme nicht aus Eran, also bin ich ein Fremder. Böse und verdorben, schlechtes Blut, ein finsteres Omen, ein Unheil, von Osmege geschickt.“

„Ach, ich dachte, sie glauben nicht an Osmege?“ Chyvile lachte bei diesen Worten, doch er hörte den traurigen Ernst in ihrer Stimme.

„Selbstverständlich glauben wir an Osmege, ich meine, er hat alles Böse über uns gebracht und das ganze Land verflucht.“ Unsicher schüttelte er den Kopf.

„Ja, für euch Orn ist Osmege ein böser Fluch, ein dunkler Gott. Ein fernes Wesen im Himmel oder unter der Erde, weit fort jedenfalls.“

„Was sollte er sonst sein?“ Jordre war zu erschöpft, um sich über die Ernsthaftigkeit seiner Mutter zu wundern, die sich sonst immer nur mit gelassener Fröhlichkeit gab.

„Wie oft habe ich es dir denn schon erklärt? Dir und allen anderen? Osmege ist ein lebendiges atmendes Wesen, ein von Magie zerrissener Orn.“

„Alle sagen, das wäre unmöglich, weil kein Orn mehrere hundert Jahre leben kann. Jinivy meint, Osmege muss einfach ein böser Gott sein, der uns dafür verflucht hat, dass wir, oder vielmehr unsere Vorfahren, ihm nicht gehorcht haben.“

Chyvile seufzte. „Ich weiß, und ja, ich weiß auch, dass dies die freundlicheren Dinge sind, die man sich so erzählt. Ich kenne die Geschichten, dass es eigentlich wir Famár waren, die das Land verflucht haben. Das wir euch gar nicht beschützen, sondern gefangen halten in euren Dörfern. Dass nicht ganz Anevy verwüstet ist, sondern nur ein paar Meilen, eben rund um Eran, und mein Volk sich so die Herrschaft über das restliche Land sichert.“

„Ich habe immer allen gesagt, dass das gelogen ist. Schließlich war ich mit dir schon früher weite Strecken gereist“, flüsterte Jordre beschämt.

„Und dafür hast du mehr als einmal Prügel eingesteckt, nicht wahr?“ Chyvile strich ihm sanft durch die wirren Haare. „Osmege lebt, Jordre. Er ist ein Feind aller lebendigen Kreaturen, nicht bloß der Orn. Auch, wenn ihr es in der Abgeschiedenheit eurer magischen Schutzwälle nicht so empfunden habt, Eran ist nicht der Mittelpunkt der Welt, und nichts, wirklich gar nichts von dem, was ihr oder eure Vorfahren getan habt, hat zu dem Fluch beigetragen.“

Er nickte nur. Eigentlich war es ihm völlig gleichgültig, wer schuld an allem war. Er kannte nichts anderes als dieses Leben. Die tödliche Wildnis war so selbstverständlich wie die Luft, die er atmete. Eine Welt, in der man sorglos durch Wälder und Auen wandern konnte, ohne sich bei jedem Schritt vor Fallen und angriffslustigen Monstern schützen zu müssen, das war zu phantastisch, um daran zu glauben.

„Ich verspreche dir, schon bald werde ich dir alles erklären. Jetzt müssen wir uns beeilen, mein Kleiner, uns läuft gefährlich die Zeit davon.“

Jordre lächelte müde über den Kosenamen und wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment spürte er die Gefahr: Lange, grüne Pflanzententakel krochen auf Chyvile zu. Seine Mutter sah den erschrockenen Ausdruck auf seinem Gesicht, riss ihren Kearth, einen breiten, sichelförmig gekrümmten Säbel, aus der Scheide und wirbelte herum. Die Tentakel fielen zerstört zu Boden.

„Komm schnell, hinein in die Höhle. Wir waren zu lange in ungeschützter Stellung! In wenigen Augenblicken wird Osmege seine Späher losschicken!“ Wütend auf sich selbst rannte Jordre hinter ihr her. Warum nur hatte er sich von seinem dummen Stolz überwältigen lassen? Er wusste doch, wie gefährlich es hier draußen war!

„Sorg dich nicht, hier in der Höhle sind wir erst einmal sicher. Komm, ich will dir etwas zeigen.“ Chyvile führte ihn durch einige enge Felsspalten, hinein in kühle, steinige Finsternis.

Obwohl er beinahe doppelt so groß war wie sie, konnte Jordre kaum mit ihr Schritt halten; überall schien es eine Ecke zum Anstoßen, einen Riss im Boden zum Stolpern zu geben. Aber er vertraute ihr, selbst als es so dunkel wurde, dass er blind war, ließ er sich von ihr führen. Endlich erreichten sie einen größeren Gang, der sich in eine zweite Höhle erweiterte. Durch ein Loch in der Decke schimmerte Licht herein, und nachdem sich seine Augen daran gewöhnt hatten, sah Jordre sich staunend um. Alle Wände, der Fußboden und sogar die Decke waren mit Zeichnungen und Steinreliefs bedeckt.

„Erkennst du das?“, fragte Chyvile leise. Ihre Stimme erzeugte ein hallendes Echo. „Wir nennen es die Schlacht der tausend Tränen. Elfen und Famár sind dort Seite an Seite gestorben.“ Jinivy hat ihr nie gestattet, mehr als ein paar Sagen und Märchen zu erzählen, weil er so viel Wissen für schädlich hielt. Jordre wusste mehr als alle anderen, er kannte die Legende von der Flucht der Elfen, die Prophezeiung um die Steintänzerin und wusste auch, wie alt seine Adoptivmutter schon war, gleichgültig, wie jung sie aussehen mochte. Das Prinzip der Wiedergeburt verstand er nicht, nahm es aber hin, dass es das Schicksal der Famár war, niemals endgültig sterben zu dürfen.

„Du bist erwählt, Jordre.“ Ihre sanfte Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Erwählt, um Anevy zu retten. Der Feind kann besiegt werden. Die Elfen können zurückkehren und das Land käme von dem vergifteten, tödlichen Bewusstsein frei, das nichts als Tod und Entartung kennt. Ein Orn könnte in Frieden zwischen den Dörfern wandern, ohne von einer alten, nörgelnden Famár beschützt und durch jedes einzelne Wasserloch getrieben zu werden. Die verlorenen Seelen dieser Schlacht wären nicht umsonst geopfert worden.

Du, Jordre, wirst mit über Anevys Schicksal entscheiden. Du bist der Begleiter der Steintänzerin.“

„Ich? A-Aber – Mutter, ich ...“ Er stolperte zurück, bis er gegen die Höhlenwand stieß, und sank dann langsam zu Boden, unentwegt den Kopf schüttelnd.

„Chyvile, nicht ich. Bitte, nicht ich!“, flehte er schließlich. Er wollte nicht verantwortlich dafür sein, Anevy retten zu müssen. Er wollte Osmege nicht leibhaftig begegnen und ganz gewiss wollte er nicht sterben!

Sie setzte sich neben ihn und zog seinen Kopf zu sich herab, bis er an ihrer Schulter ruhte. Ihre Haare dufteten vertraut nach Wasser und Wiesenpflanzen, nach Wald und lebendiger Erde. Es beruhigte ihn ein wenig.

„Du bist es aber. Es gefällt mir selbst nicht, denn ich weiß um die Gefahren, die dir bevorstehen. Genau das ist allerdings der Grund, warum ich dich von klein auf aus dem magischen Schutz des Dorfes herausgeholt und durch die Wildnis gejagt habe. Warum du viel mehr über unsere Welt, seine Geschichte und andere Dinge weißt als jeder andere Orn. Warum ich dich schwimmen und kämpfen gelehrt habe, und wie man Gefahren hier draußen begegnen muss. Ich konnte dir nicht früher die Wahrheit sagen ... vergib mir.“

Verwirrt blickte er zu ihr auf.

„Vergeben? Was meinst du?“

„Ich liebe dich zu sehr, das sollst du mir verzeihen. Ich wollte nicht, dass du zu früh von deiner Bestimmung erfährst und vielleicht glaubst, ich hätte dich ausschließlich deswegen adoptiert. Du hattest es schwer genug mit mir und den Eranern, und ich dachte, ich hätte noch viel Zeit. Das war ein Fehler. Maondny, das verfluchte Weib, schickte mir Visionen über dich. Die erste, als ich dich gerade gefunden hatte und nicht wusste, was ich mit dem bewusstlosen, halbtoten Ornkind anfangen sollte. Die zweite dann vor wenigen Tagen. Ich hatte so sehr gehofft, es würden mir noch viele Jahre verbleiben, bis ich dich sorgfältig auf dein Schicksal vorbereiten muss. Du bist nicht gut genug ausgebildet und du kannst dich nicht an deine Bestimmung erinnern.“ Von Angst erfüllt starrte Jordre sie an.

Chyvile, die immer so sicher und gelassen war, von Zweifeln und Sorge geplagt zu sehen, das war schlimmer als alles andere.

Sie lächelte und strich beruhigend über seine Wange.

„In Maondnys erster Vision warst du ein weit älterer Mann, erfahren und bereit für dein Schicksal. Ich hätte wissen müssen, dass die Dinge sich jederzeit ändern können, ich hätte nicht ...“ Sie unterbrach sich selbst und seufzte. „Nun, alles hätte und wäre ist sinnlos. Seit die Elfen fortgegangen sind, haben sie nichts anderes getan als zu versuchen, wieder hierher zurückzukehren. Offenbar befindet sich der einzige Zugang nach Anevy aber in einer Stadt, die sie bis heute nicht einnehmen konnten. Jordre, dies ist nicht dein erstes Leben. Du wurdest bereits Dutzende Male geboren, hast ein mehr oder weniger zufriedenes Dasein als Orn geführt, Nachkommen gezeugt oder auch nicht und bist gestorben, ohne jemals etwas von deinem Schicksal zu erfahren. Dasselbe gilt für die Steintänzerin und eure Gefährtin. Ihr werdet immer wieder neu geboren, ohne euch erinnern zu können.“ Sie hob die Hand, als er bei diesen Worten auffuhr. „Geduld. Sieh, ein möglicher Zeitpunkt für die Erfüllung der Prophezeiung war schon so oft da, aber die Elfen waren nie fähig, zu uns zu gelangen, um sie wahrhaftig werden zu lassen. Ich besitze wenig prophetische Begabung. Es ist schwer für mich, euch drei zu finden, wenn ihr wiedergeboren seid! Fin Marlas Sicht ist mächtig, allerdings nicht stark genug, um über die Grenzen der Welten zu blicken. Manchmal konnte sie einen von euch drei erkennen, doch nie, bevor nicht die anderen beiden bereits gestorben waren. Es wäre auch sinnlos gewesen, denn alles hängt davon ab, dass die Rückkehr der Elfen genau mit der Zerstörung des Siegelsteins zusammenfällt. Nur aus diesem Grund wurde P’Maondny

gezeugt und geboren. Sie allein kann jederzeit mit mir sprechen. Ich hatte geglaubt, es würde sich alles so fügen, wie sie es mir gezeigt hatte und dabei vergessen, dass die Zukunft mehr als die Summe aller Entscheidungen und Taten aller Lebewesen und Kreaturen ist.“ Ein dunkler Schatten fiel über Chyviles rundes Gesicht. Wütend spreizte sie die Hände, dass die Schwimmhäute zwischen den Fingern sich spannten – eine drohende Geste, die Jordre erschreckte, obwohl er wusste, sie war nicht gegen ihn gerichtet.

„Erst in zwanzig oder dreißig Jahren, also auf dem Höhepunkt deiner Lebenskraft, hätte sich alles entscheiden sollen. Maondny aber hat die Zukunft ihrer eigenen Welt, in die sie hinein geboren wurde, vorsätzlich verändert. Es ist nicht so, dass ich traurig wäre, wenn wir diesem verzweifelten Sterben womöglich viel früher entkommen könnten, denn in dreißig Jahren gibt es vermutlich nicht mehr allzu viel von Anevy, das sich über eine Rettung erfreuen könnte. Es war schon immer nur eine geringe Hoffnung, dass die Prophezeiung um die Steintänzerin sich erfüllt. Nun, da alles so überhastet losgeschlagen wurde, ist die Hoffnung fast hinfällig. Eitle Dummheit von Narren, die sich an Träume klammern.“

Mit einem Ausdruck von Verzweiflung blickte Jordre zu Boden.

„Es gibt also nichts weiter für uns als den sinnlosen Versuch, für eine Prophezeiung zu sterben, die sich kaum erfüllen kann? Für ein Volk zugrunde zu gehen, das vor mehr Jahrzehnten geflohen ist, als ich Jahre gelebt habe. Ein Volk, das die Orn für ein Märchen halten und das schon damals nicht gegen Osmege bestehen konnte, obwohl er da noch lange nicht so mächtig war wie heute“, fasste er mit tonloser Stimme zusammen.

„Ganz so ist es nicht. Wenn der Siegelstein im rechten Moment zerstört wird und die Elfen zurückkehren, dann wird auch Osmege vernichtet werden. Die Prophezeiung erzwingt dies.“

Sie lächelte über seinen verwirrten, müden Gesichtsausdruck.

„Weißt du, Jordre, ein Seher ist das gefährlichste Wesen, das es überhaupt gibt. Er erblickt unzählige mögliche Verzweigungen, die eventuell geschehen könnten. Sobald er eine dieser Möglichkeiten laut ausspricht und dafür sorgt, dass jemand seine Prophezeiung hört, wird diese Zukunft die wahrscheinlichste von allen. Hm – sagen wir, ich würde Jinivy prophezeien, dass er morgen an Schnupfen erkrankt, was würde daraus folgen?“

„Wie ich Jinivy kenne vermutlich, dass er darüber lacht, aber vorsorglich nicht aus dem Haus geht, wenn es regnet.“

„Sehr richtig.

Statt aus dem Haus zu gehen, lässt er Gilom zu sich kommen, um mit ihm Schnitzsteine zu werfen. Gilom ist erkältet und schon ...“

„... steckt sich Jinivy an und wird krank, was nicht geschehen wäre, hättest du ihm nichts gesagt“, beendete Jordre leicht ungeduldig den Satz. „Ein Prophet beeinflusst also mit jedem seiner Worte die Orn um sich herum.“

„Ja, und auch mit seinem Schweigen, seinen Handlungen ... Und vor allem mit der Magie, die er besitzt. Du bist auserwählt, die Steintänzerin zu finden und zu ihrem Schicksal zu führen. Wenn es euch gelingt, und die

Elfen den Zugang zum Weltenstrudel bis dahin erzwungen haben, wird Osmege vernichtet werden.“

Jordre wollte etwas erwidern, doch sie hob erneut warnend die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ein fernes, raschelndes Geräusch hallte durch die Gänge.

„Osmeges Späher!“, zischte Chyvile. „Komm schnell! Die Skattels dürfen uns nicht erwischen!“

Unwillkürlich erschauderte Jordre, bevor er auf die Füße sprang. Skattels waren gefährliche Biester, eine Mischung aus Chamäleon und Flusskrebs, tödlich zu Land und zu Wasser. Sie tauchten stets in riesigen Horden auf und ihren beinahe faustgroßen Augen entging nichts. Widerstandslos ließ er sich von Chyvile quer durch die Höhle und in weitere finstere Gänge hineinziehen, stetig bergab, bis das leise Rauschen, das Jordre kaum hatte wahrnehmen können, zu einem lauten Strömen geworden war. Direkt vor ihnen befand sich ein unterirdischer Fluss, schmal und recht flach an der Stelle, an der sie hinein wateten, aber die Strömung war stark und wild. Jordre war an eisige Wassertemperaturen gewöhnt: Er ignorierte den Schmerz, der seinen Körper umfing, als er sich ohne jede Vorsicht fallen und mitreißen ließ. Wann immer er konnte, kraulte er, um weiter zu beschleunigen, im vollen Vertrauen darauf, dass seine Mutter ihn vor Felsen und Strudeln schützen würde. Die Dunkelheit machte ihm dennoch mehr Angst, als er sich selbst eingestehen wollte, und so war er froh, als er Chyviles Hände an seinem Rücken spürte, während sie sich über ihn schob. Die Famár war hier in ihrem ureigensten Element. Jordre brauchte sie nicht sehen, um zu wissen, dass sie vor Vergnügen lachte, er spürte es, als sie ihn schützend an sich zog. Sie musste nicht auftauchen, sie konnte willentlich Kiemenklappen an ihrem Hals ausbilden, sobald sie sich im Wasser

befand. An Land würden die Kiemen sie beim Sprechen behindern, doch hier konnte sie mit ihm reden, auch mit dem Kopf unter Wasser.

„Achtung, gleich kommt ein Wasserfall!“, warnte sie ihn. Hektisch schnappte er nach Luft, tauchte unter und umklammerte den Körper seiner Mutter, machte sich dabei so klein wie nur möglich. Nun hörte er auch das Rauschen, spürte, wie der Wassersog immer stärker wurde. Und schon wurden sie über die Felsenkante geschleudert, rasten einen Moment lang schwerelos fallend durch die Luft, prallten dann wieder hart auf die Wasseroberfläche.

„Großartig!“, schrie Chyvile begeistert und lachte wie ein kleines Kind. Trotz aller Angst und der lähmenden Kälte – Jordre lachte innerlich mit ihr. Nie war er seiner so fremdartigen Adoptivmutter näher als in diesen Augenblicken, wenn sie jede Selbstbeherrschung fallen ließ.

Der wilde Ritt durch das Wasser nahm jedoch kein Ende. Er spürte bereits die gefährliche Müdigkeit, die ihn warnte, dass er zu erfrieren drohte – nicht zum ersten Mal.

„Wir kommen gleich ins Freie!“, rief Chyvile ihm aufmunternd zu.

Der Tunnel, durch den sie trieben, verengte sich. Nicht einmal seine Mutter konnte jetzt noch verhindern, dass Jordre sich Schrammen und

Blutergüsse am ganzen Körper holte, als er wieder und wieder gegen die Felswände prallte. Urplötzlich verschwand der Boden, gleißendes Licht blendete sie beide, als sie aus dem Tunnel hinaus ins Freie schossen. Jordre blieb nicht einmal Zeit für einen Schrei, da landete er bereits in einem tiefen Teich. Sofort packten ihn Chyviles starke Hände und zerrten ihn zum Ufer.

„Ah, wie lange bin ich nicht mehr durch diesen Tunnel geschwommen! Ich hatte völlig vergessen, wie viel Spaß das macht!“ Sie lachte glücklich. Ihr Tonfall ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie am liebsten umkehren und das Ganze noch einmal genießen wollte. Jordre lag derweil auf dem Bauch im Gras, am ganzen Leib zitternd vor Kälte, Erschöpfung und Schmerz.

„Natürlich, Spaß ... Lass uns das wiederholen, unbedingt ... Nächstes Jahrtausend vielleicht, oder zehn Tage nach meinem Tod, was meinst du?“ Er stöhnte matt, nur halb bei Bewusstsein.

„Du siehst das alles viel zu verbissen“, spottete sie, zog ihn in ihre Arme und setzte sich mit den Rücken an einen Baumstamm. Er schnaubte bloß, zu müde für Streit oder Gegenwehr.

Einen Augenblick lang blieb Chyvile ganz still, dann spürte er, wie sie magische Energien an sich zog. Sie begann zu singen, in der wunderschönen Sprache der Famár, die er gut verstand, aber niemals würde nachahmen können – für diese vielstimmigen Töne, die Chyvile erzeugte, brauchte es nun einmal Kiemen.

Sie sang vom ewigen Fluss, von all dem, was weder Anbeginn noch Ende kannte und verstärkte damit ihren Zauber, den sie um Jordre und sich selbst zu weben begann. Magie war eine Kraft, die alles umgab und unerschöpflich in der gesamten Schöpfung pulsierte. Wer die Gabe besaß, konnte diese Kraft nutzen. Famár waren nicht fähig, so viel Magie zu binden wie Elfen, und sie nutzten Gesang oder Worte der Macht, um die Wirkung zu erhöhen. So hatte Chyvile es ihm zumindest erklärt.

Wassertropfen sammelten sich aus dem Teich, der Luft und der Erde selbst, stiegen auf und formten rasch eine solide Wand um die beiden. Nichts konnte diesen Schutz durchdringen, kein Feind, kein Sturmwind, nicht einmal Insekten. Es lenkte die Blicke eines jeden Spähers ab und selbst Osmege konnte mit seinen Gedanken, die das ganze Land wie Gift durchzogen, nicht erspüren, wo sie sich befanden. Er hätte direkt vor ihnen stehen können ohne es jemals zu wissen – sie waren nun unsichtbar. Ein Jammer, dass dieser Zauber beinahe eine Stunde Zeit und sehr viel Kraft verlangte, zu viel, um im Kampf wirksam zu werden.

Unter dem magischen Schutz sammelte sich Wärme, und bald hörte Jordre auf zu zittern. Die bleierne Müdigkeit blieb jedoch.

„Schlaf. Wir haben eine große Wegstrecke abgekürzt in diesen Tunneln. Schlaf jetzt, ich wecke dich in einigen Stunden. Du brauchst Ruhe.“ Sanft streichelte Chyvile durch sein nasses Haar.

„Sag“, flüsterte er, fast im Halbschlaf. „Sag mir bitte, wer hat mich erwählt? Du meintest, ich hätte schon so oft gelebt, es wäre meine Bestimmung. Warum? Wer hat das verlangt?“

Er spürte ihr Zögern, blinzelte mühsam, um zu ihr aufzublicken.

„Das ist eine Geschichte, für die du noch nicht bereit bist“, erwiderte sie schließlich langsam. „Nur so viel: Du selbst hast dich erwählt. Du hast dieses Schicksal für dich beschlossen, genauso wie deine Gefährtin und die Steintänzerin selbst. Es war euer freier Wille.“

Ihre Worte begleiteten ihn in bis in seine Träume, hallten unentwegt durch sein Bewusstsein: Du selbst hast dich erwählt …