4.

 

Die Lebensaufgabe, gesetzt von der Göttin, ist das höchste Gebot einer jeden Hexe. Um sie zu erfüllen, darf sie ein jedes Gesetz brechen, jegliches Mittel ergreifen. Verantworten muss sie sich vor der Göttin selbst und ihrem Gewissen allein und die Strafen ertragen, die daraus folgen können. Darum ist das dritte Gesetz der Schwesternschaft der Göttin gewidmet, denn die 3 ist die heilige Zahl der Göttlichkeit.

Yosi von Rannam, „Töchter der Dunkelheit“

 

Unbeweglich saß Inani auf dem Felsen und versuchte, gehorsam zu sein. Im Licht des vollen Mondes sollte sie meditieren, ihren Verstand leeren, ihre Seele weit öffnen. Keine Ängste, Sorgen oder Wünsche sollten ihre Sinne ablenken, keine kleinlichen Gedanken an die Dinge des Lebens ihre Aura überschatten.

„Sei ein Teil des Gesteins, sei ein Wirbeln im Wind, ein Blätterrascheln der Bäume. Wenn du es schaffst, mit der Welt zu verschmelzen, eins zu werden mit den Kraftmustern, die alles Lebendige durchziehen, wird sich dir dein Seelengefährte offenbaren. Es ist jenes Geschöpf, das deinem inneren Wesen am Ähnlichsten ist und dir in deinen Träumen schon so oft nahe war.“ Kytharas Erklärungen hatte Inani durchaus verstanden, es schien so leicht zu sein. Doch nun, da sie hier auf dieser dämmrigen Waldlichtung saß, erkannte sie, dass sie heute wohl keine Offenbarung erhalten würde.

Corin wird triumphieren. Na ja, sie hat selten genug Grund dafür, es wäre ihr fast zu gönnen. Aber eine Taube als Seelengefährte ... Inani kicherte bei der Erinnerung daran, wie Corin schreiend aus dem Wald gezerrt worden war, nachdem sie sich vor Scham fast eine Woche dort versteckt hatte. Ein Seelengefährte begleitete eine Hexe sein Leben lang, seine Artgenossen dienten der Dunklen Schwester bedingungslos, und sie konnte lernen, seine Gestalt anzunehmen, wenn sie sich in höchster Not verteidigen oder fliehen musste. Schlangen, Katzen, verschiedene kleine Raubtiere und Vogelarten, das waren die häufigsten Gefährten innerhalb der Schwesternschaft. Nur selten waren Beutetiere unter ihnen zu finden.

 Corin ist wirklich ein Täubchen, brav und dumm. Aber auch sie hat ihren Platz. Erstaunlich, dass sie eine Woche im Wald überleben konnte. Ob ihr das jemand zugetraut hat?

Seufzend rückte Inani auf dem harten Stein herum.

Ihre Beine schliefen langsam ein, ihr restlicher Körper war ebenfalls müde. Seit mehreren Monden lebte sie bereits in dieser Welt hinter dem Nebel.

In dieser Zeit hatte sie so hart arbeiten müssen wie nie zuvor. Vormittags wurde sie zusammen mit den anderen Novizinnen an

verschiedenen Waffen ausgebildet: Bogenschießen, Messer werfen, Stockkampf und eine waffenlose Technik namens Ti‘qua, die wie ein Tanz aussah. Zumindest solange Melliare, ihre Ausbilderin aus Kireon, es vorführte. Die Mädchen hingegen lagen die meiste Zeit auf dem Boden und jammerten über ihre aufgeschlagenen Knie und gezerrten Schenkelmuskeln, denn sie mussten einbeinig auf den Zehenspitzen balancieren, auf Seilen tanzen und Spagat erlernen.

„Sollen wir wie die Gaukler auf Marktplätzen auftreten?“, hatte Corin am ersten Tag ausgesprochen, was auch Inani dachte.

„Nein, obwohl du es könntest, sobald ich mit dir fertig bin. Du sollst schnell wie eine Katze sein, jeden einzelnen Muskel in deinem Körper beherrschen und jeden Gegner mit bloßen Händen und Füßen angreifen können. Frauen dürfen in vielen Provinzen Enras keine Schwerter oder Bögen tragen, und oft genug wird es zu gefährlich sein, Magie offen anzuwenden. Wenn ihr allein reist und von Strauchdieben, hungrigen Raubtieren oder Sonnenpriestern angegriffen werdet, müsst ihr euch verteidigen können! Ein Stock ist eine gute, tödliche Waffe, doch jede Waffe kann euch fortgenommen oder zerbrochen werden. Die meisten Sonnenpriester, Gardisten und königlichen Soldaten beherrschen den waffenlosen Kampf nicht, abgesehen von Raufen und Ringen. Sie verlassen sich auf ihre Schwerter und die Kraft ihrer Fäuste. Wir Frauen besitzen nicht die Muskeln des Mannes, also müssen wir Geschick und Schnelligkeit trainieren.“

Wenn es nach meinen Fortschritten in Ti’qua geht, wird mein Seelengefährte wohl eine Schnecke sein, dachte Inani erschöpft und unterdrückte ein Gähnen. Göttin, hat Kythara sich geirrt? Ist dies vielleicht einfach nur die falsche Nacht für mich, um meinem Gefährten zu begegnen? Ihr Rücken schmerzte, sie streckte sich stöhnend, wandte dann ihr Gesicht zum Himmel. Pyas Auge blickte auf sie nieder, ihr Licht malte zauberhaften Glanz auf Blätter und Gras.

Soyisha, die Kräuterkundige, ließ die Mädchen unerbittlich durch Dornengestrüpp kriechen und in faulendem Wurzelwerk wühlen, solange Bodenfrost und Schnee noch nicht so hart regierten, dass solche Mühen nutzlos waren.

„Es gibt keine wertlose Pflanze auf dieser Welt, eine jede hat ihre Aufgabe. Es gibt heilende, giftige und nährende Pflanzen, solche, die uns Seifenschaum oder Duftöl schenken, bestimmte Tiere anziehen oder abschrecken. Natürlich lieben wir die giftigen und heilenden Pflanzen ganz besonders, doch achtet auch die scheinbar so unwichtigen, wenig nützlichen Gewächse!“ Soyisha lehrte sie, Heiltränke, Gifte, Salben und Pasten zu unterscheiden und anzufertigen. Gemeinsam mit einigen anderen Hexen unterwies sie die Mädchen in den Künsten des Heilens und Tötens, wofür ein umfassendes Verständnis von den Körpern der Menschen, Fremdvölkern Elfen oder Loy sowie Tiere notwendig war. Gesetze mussten sie im Laufe der Jahre erlernen, von allen menschlichen Provinzen und Herrschaftsgebieten; dazu die wichtigsten der verschiedenen Sprachen Enras und Tis religiöse Riten.

„Man weiß nie, wohin die Göttin einen führen kann. Euer Leben kann davon abhängen, dass ihr den Dialekt der Sustharer beherrscht oder vorgeben könnt, in Lynthis aufgewachsen zu sein!“

Kythara lehrte sie in Mathematik, Schrift und Geschichte. Außerdem durften sie unter ihrer Anleitung einfache magische Erdzauber wirken, wie das Heilen kleiner Wunden, oder den Wachstum einer Pflanze beschleunigen. Aber auch Weben, Sticken und höfische Tänze mussten sie meistern können, falls sie einmal an dem königlichen Hof von Roen Orm oder im Schloss eines Provinzfürsten zu Gast sein wollten – kurzum, der Tag besaß nicht genug Stunden für all das, was sie zu erlernen hatten. Körperliche und geistige Anstrengungen wechselten einander ab, es gab kaum freie Zeit, in denen die Mädchen müßig sein durften.

Göttin, ich muss wach bleiben! Erschrocken fuhr Inani hoch, für einen Augenblick völlig orientierungslos. Sie war eingeschlafen, nach dem Stand des Mondes zu urteilen für mindestens eine halbe Stunde. Sofort spürte sie die Nähe einer fremden Kreatur. Freund oder Feind? Ihr Vertrauter vielleicht? Inani versuchte, die Dunkelheit der Schatten zu durchdringen. Waren dort verstohlene Bewegungen?

Ob es doch kein Schauermärchen war, Arinas Geschwätz von Junghexen, die auf ihren Vertrauten warteten und dabei von Saduj gefressen wurden?

Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt, ihre Augen durchsuchten die Finsternis der Lichtung. Das Gesicht der Göttin verbarg sich hinter Wolken, während Inani langsam vom Felsen herabglitt. Ein Fauchen, ein knackender Zweig verriet die

Richtung, in der sie suchen musste. Zu groß für eine Wildkatze … Was ist das?

Inani war sicher, dass dort im Schatten eine Großkatze lauerte, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Dann müsste es mein Seelengefährte sein. Warum kommt er nicht zu mir, statt mir aufzulauern? Sie hatte nicht gewagt zuzugeben, dass sie zwar häufig von Tieren träumte, aber keines davon je als vertraut empfunden hatte. Möglicherweise gab es für sie keinen Gefährten?

Inani atmete tief durch, versuchte, die Angst zu beherrschen und ihre Seele weit zu öffnen.

Bist du mein Freund?, dachte sie so intensiv wie möglich. Ein großer Schatten näherte sich, lautlos und geschmeidig. Fasziniert und gleichzeitig von eiskalter Angst geschüttelt wollte Inani sich der Raubkatze nähern, die nun auf der Mitte der Lichtung stand, als sie plötzlich eine weitere Präsenz spürte. Irgendwo hinter ihr lauerte noch eine Kreatur! Die Raubkatze grollte leise, offenbar hatte sie ebenfalls Witterung

aufgenommen. Mit wild klopfendem Herzen stand Inani still. Sie konnte nicht mehr denken, zitterte am ganzen Körper. Schwindel erfasste sie, überrollte ihr Bewusstsein. Das letzte, was sie wahrnahm, bevor sie in gestaltloser Schwärze ertrank, war eine Berührung tief in ihrem Inneren. Fremde Gedankenbilder, zögerliches Tasten; fauchendes Grollen und scharfkrallige Tatzen auf ihrem Körper. Dann stürzte sie in Dunkelheit, überwältigt von etwas, das sie nicht benennen konnte.

 

 

~*~

 

„Alanée, ich spüre, ich muss zu ihr!“ Shora wiederholte diesen Satz trotzig, nun schon zum dritten Mal, und schüttelte grob die Hände der Freundin ab, die sie zurückzuhalten versuchte. Sie hatte ihre Hütte bereits verlassen, die sie gemeinsam mit Inani bewohnte. Um sie herum versammelten sich neugierige Hexen, die von dem Lärm der beiden streitenden Frauen angelockt wurden.

„Es ist verboten, du darfst dich nicht einmischen!“, rief nun auch Kythara streng.

„Ich will mich nicht einmischen, aber Inani ruft nach mir!“

„Wenn sie nicht ihren Seelengefährten, sondern einen Feind gefunden hat, ist sie bereits verloren, sie ist ohne Waffen dort

draußen im Wald, Shora. Nichts und niemand darf die Bindung mit einem Seelengefährten stören!“

Shora holte aus und schlug Alanée die Faust ins Gesicht. Überrascht stürzte diese gegen Kythara, was Shora die Zeit gab, in den Wald hineinzurennen.

„Komm zurück!“, rief die Königin empört, doch Alanée lachte bitter auf. „Die ist weg, ohne Magie holst du sie nicht mehr ein.“ Sie strich sich über die schmerzenden Wangenknochen, verwirrt den Kopf schüttelnd. „Was denkt sie sich nur?“

„Lass uns ihr trotzdem folgen, Alanée. Irgendetwas ist im Gange.“ Kythara zerrte die sonst so würdige Hexe auf die Füße und schleifte sie dann entschlossen mit sich an den Rand des nachtdunklen,

winterkahlen Waldes. „Pya hat sich verhüllt, das ist außergewöhnlich für eine Offenbarungsnacht. Shora hat Recht, wir müssen nach Inani sehen.“ Es war nicht weit bis zur Lichtung, dennoch schien es ein ganzes Zeitalter zu dauern, bis sie sich durch das Unterholz gekämpft hatten. Erst, als sie gegen ihren Körper stießen, bemerkten sie Shora, die am Rande der Lichtung stand.

„Was ist?“, begann Alanée. In diesem Moment zerriss der Wolkenschleier, das Licht des Mondes fiel auf die Lichtung und enthüllte einen Anblick, auf den keine von ihnen vorbereitet gewesen war: Inani lag still auf dem Boden, eine riesige schwarze Raubkatze hatte sich neben ihr eingerollt, der Kopf ruhte auf den Schultern des Mädchens. Eine beängstigend große Schlange glitt derweil über ihre Beine. Am furchterregendsten jedoch war die dritte Kreatur: Ein schwarz geschuppter Drache ragte über Inani auf. Sie erkannten dieses legendäre Geschöpf sofort, obwohl sie es nur aus Zeichnungen und Geschichten kannten. Goldene Augen beobachteten misstrauisch und feindselig jede ihrer Regung.

„Wir müssen fort!“, wisperte Kythara magisch in Alanées und Shoras Gedanken.

„Sie ist tot, ich muss zu ihr!“ Shora bewegte sich auf Inani zu. Alanée griff nach ihr, um sie zurückzuhalten, aber da erfüllte eine Stimme ihre Köpfe, mit solcher Macht, dass sie stöhnend in die Knie sanken. Zu stark, zu fremdartig war die Magie, die ihnen hier begegnete. Bilder und

Empfindungen ließen sie verstehen, was der Drache zu sagen hatte: „Inani lebt, bleibt zurück! Ich komme aus einer anderen Welt, die sie womöglich in fernen Zeiten betreten wird. Dort, und nur dort, werde ich ihr Seelengefährte sein, nicht, um ihr zu dienen, sondern um sie zu schützen vor Mächten, die sie nicht versteht. Ich folgte Pyas Ruf, nicht Inanis, denn sie weiß nichts von ihrer Bestimmung. In dieser Welt sind der Panther und die Kyphra ihre Seelengefährten. Stört nicht die Bindung. Geht, geht fort!“

Ein Blitz zuckte, sie wurden fortgerissen. Nur einen Herzschlag später fanden sie sich in der Versammlungshalle wieder, verstört, doch unverletzt.

„Was, im Namen der großen Göttin Pya, hatte das zu bedeuten?“, flüsterte Alanée.

„Wundersame Dinge geschehen in dieser Welt. Es ist nicht nötig, sie alle zu verstehen, es reicht, sie zu bewundern“, erwiderte Kythara atemlos. Sie erhob sich langsam und starrte auf Shora nieder, die mit leerem Blick am Boden lag.

„Du hast uns angegriffen. Dich mir widersetzt. Wann wirst du endlich beginnen, mich zu respektieren?“

„Wann wirst du endlich begreifen, dass ich dir nicht folgen kann, solange es um Inani geht?“, wisperte Shora tonlos. „Sie ist meine Lebensaufgabe, für sie werde ich alles tun, was notwendig ist. Ich hätte dich getötet, genauso Alanée, wenn du mich nicht hättest gehen lassen, und diese Tat allein mit meinem Gewissen und der Göttin ausgemacht.“

„Lass sie in Ruhe, Kythara. Wir waren Zeugen eines göttlichen Wunders, das möchte ich genießen. Denkt nur, Inani hat gleich drei Seelengefährten!“ Alanée ergriff die Hände ihrer Hexenschwestern. „Wir müssen das geheim halten. Das Mädchen hat bereits jetzt so viele Neider, sie darf nicht noch weiter auffallen. Lasst uns schwören, dass die Geschehnisse dieser Nacht unter uns bleiben!“

Shora richtete sich auf, musterte schweigend das vertraute Gesicht ihrer Freundin. Dann schüttelte sie langsam den Kopf.

„Ich weiß, was du beabsichtigst. Ich werde es zu verhindern wissen!“ Mit diesen Worten entschwand sie, hinaus in die Nacht.

„Hat sie Recht?“, fragte Kythara leise.

„Natürlich nicht. Ich werde meiner Lebensaufgabe genauso folgen wie sie es versucht. Egal, was es mich kosten wird. Das weiß sie auch.“

„Geh nicht zu weit, sonst wird es dich mehr kosten, als du geben kannst.“

„Noch habe ich zu wenig geleistet. Meine Zeit kommt, ich muss meinen Dienst an der Göttin erfüllen. Ich würde es vorziehen, dabei nicht gegen Shora kämpfen zu müssen, aber das liegt nicht allein in meiner Hand.“

Kythara blickte ihr nach, als Alanée die große Halle verließ. Nachdenklich setzte sie sich auf ihren Thron.

„Ich frage mich, was du planst, oh Göttin. Was auch immer es ist, Inani scheint ein aufregendes Leben zu erwarten.“