16.
„Wenn du dich verirrt hast, suche die Augen der Eule. Das Zwillingsgestirn weist dir den Weg durch die Dunkelheit.“
Allgemein bekannte Regel zur Orientierung in der Wildnis
Ein wenig verwirrt stand Thamar mitten auf dem Dorfplatz und versuchte, nicht mit offenem Mund um sich zu starren. Seine Elfenführerinnen waren mit der schwarzhaarigen Frau verschwunden und hatten ihn hier zurückgelassen – zusammen mit etwa dreihundert Hexen.
Er hatte stets geglaubt, es gäbe nichts in Enra, das Roen Orm an Vielfältigkeit und staunenswerten Treiben überbieten könnte, doch hier, in der geheimen Welt der Hexen, wusste er, das war ein Irrtum gewesen.
Thamar sah junge Mädchen in langen, fließenden Gewändern, die in tödlicher Präzision und Geschwindigkeit Stockkampf und Bogenschießen trainierten. Unter ihnen waren dunkelhäutige Schönheiten aus Kireon, dem legendären Waldgebirge im Südosten des Kontinents, mandeläugige Vanearer und Mädchen mit Tätowierungen, wie sie an den Ostküsten üblich waren. Aus allen Gebieten Enras stammten sie anscheinend, verbunden nur durch das Schicksal, in ein und derselben Nacht des Jahres geboren worden zu sein. Da waren Frauen, die auf der bloßen Erde saßen, umgeben von blauem Licht, und offen mit magischen Energien arbeiteten. Manchmal gab es fühlbare Erschütterungen, meistens aber blieb verborgen, was das Ziel der Beschwörung war. Er entdeckte eine Greisin, die mehr einem verwitterten Baumstamm als einem menschlichen Wesen glich. Sie rührte energisch in einem mannshohen Kupferkessel und erklärte dabei einer Gruppe von Mädchen etwas in einer für Thamar unverständlichen Sprache. Aus dem offenen Fenster eines nahen Hauses hörte er Musik und Gesang. Thamar beobachtete eine Frau, die mit Kurzschwertern in der Hand einen wilden Schattenkampf vollführte, dabei gefährlich nahe an Gruppen von Hexen vorbei tanzte, ohne dass irgendjemand ihr die geringste Beachtung schenkte. Einige junge Frauen, gekleidet in schweren Brokatkleidern, übten konzentriert die komplizierten Schrittfolgen des Baruja, ein Tanz, der am Ulaunischen Hofe von König Aserdum sehr beliebt war. Thamar nickte anerkennend: Er hatte diesen Tanz nie meistern können. Als etwas sein Bein berührte, fuhr er
zusammen. Nur Momente später versuchte eine tödliche Kraft seinen Brustkorb zu
zerdrücken. Panisch versuchte er sich zu befreien, doch seine Hände glitten an dem schwarzgeschuppten Leib, der ihn gefangen hielt, hilflos ab.
„Entschuldige bitte“, hörte er eine samtige Stimme, und sofort löste sich die stählerne Umklammerung. Schwer atmend starrte Thamar in grüne Augen, die voller Spott und Verachtung lächelnd zu ihm aufsah. Eine zierliche Frau mit weißblondem Haar stand vor ihm, die Würgeschlange war um ihren eigenen Leib gewickelt. Der Kopf des Reptils ruhte auf ihrer nackten Schulter, und erst dieser Anblick ließ Thamar verstehen, dass sie tatsächlich gar nichts am Körper trug, mit Ausnahme der nun friedlich züngelnden Schlange.
„Willkommen, kleiner Prinz“, hauchte die Hexe, küsste Thamar auf beide Wangen und schritt dann gemächlich davon, mit lasziven Bewegungen und einem eisigen Lächeln auf den Lippen, das von Schmerzen und Tod sprach.
Noch bevor er sich von dieser Begegnung erholt hatte, musste er plötzlich ausweichen, als zwei kämpfende Junghexen zu dicht an ihn herankamen. Es war ein ungleiches Gefecht: Das schwarzhaarige Mädchen, das an Thamar vorbei wirbelte, beherrschte den Kampf, ließ der zwar größeren und kräftigeren, doch ungleich langsameren Rothaarigen keine Gelegenheit zum Angriff. Mit dem Blick des Kriegers bewunderte Thamar die Eleganz und ausgefeilte Technik beider Kämpferinnen. Der Rotschopf schlug sich mit verbissener Entschlossenheit, steckte mehrere Treffer scheinbar ungerührt ein. Die deutlich jüngere Gegnerin spielte dennoch nur mit ihr, trieb sie mal hierhin, mal dorthin, schien jede Bewegung vorauszuahnen, bevor das andere Mädchen sie ausführte.
Zehn von diesem Kaliber, und sie könnten eine ganze Wachmannschaft von Roen Orm niedermachen!
Die rothaarige Hexe schrie auf, als sie einen harten Treffer gegen den Unterarm erhielt, ihr Stock flog aus ihrer Hand – genau auf Thamars Gesicht zu. Er hatte die Bewegung gesehen und wich bereits aus, doch dann erhaschte er etwas aus den Augenwinkeln. Sein Gesichtsfeld verengte sich, die Zeit stand einen Moment lang still. Ohne nachzudenken traf er seine Entscheidung und reagierte blitzschnell: Seine Hand stieß vor und fing den Stock in der Luft ab. Die Fliehkraft riss seinen Arm nach vorne.
Es knackte schmerzhaft in seiner Schulter, sofort ließ er die Waffe los, die nun harmlos zu Boden fiel. Thamars Blick irrte zur Seite, da, wo er eine Hexe bemerkt hatte, die ihm den Rücken zuwandte. Die wirbelte herum, kastanienbraune Locken peitschten durch die Luft. Der Stock hätte sie am Kopf getroffen, da war sich Thamar sicher.
„Könnt ihr nicht aufpassen?“, keifte die Hexe verärgert und wollte zu den beiden jungen Kämpferinnen eilen, aber eine erhaben wirkende Frau mit silbernem Haar hielt sie fest.
„Bist du so wenig Kriegerin, dass du dich von einem Prinzen retten lassen musst, Ylanka?“, spottete sie. Diese schnaubte voller Verachtung, beschimpfte die Mädchen in einer fremden Sprache und stampfte wütend davon.
„Verzeiht, hoffentlich habt Ihr Euch nicht verletzt?“ Thamar wandte sich um und blickte in das Gesicht der schwarzhaarigen Siegerin. Erschrocken wich er zurück: Die Augen dieser jungen Hexe funkelten bernsteinfarben, unmenschlich, katzengleich ...
„Inani, du solltest deine Opfer vielleicht nicht unbedingt mitten auf dem Platz erledigen, was denkst du? Ab mit euch zu Balinda!“ Die silberhaarige Hexe hob den Stab auf und überreichte ihn der unterlegenen Kämpferin. Die Gesichter beider Mädchen verdunkelten sich, doch sie nickten schweigend, bevor sie sich umdrehten und verschwanden.
„Mein Name ist Alanée. Wie es scheint, seid Ihr gut ausgebildet?“ Thamar nickte nur, er starrte dem Mädchen verwirrt hinterher. War sie wirklich ein Mensch?
„Kommt mit mir, bevor nach Eurer kleinen Vorführung noch mehr Schwestern versuchen, Eure Grenzen und Fähigkeiten auszutesten. Wir Hexen können bisweilen recht verspielt sein“, sagte Alanée und zog Thamar fort von dem bunten Treiben.
„Kythara schickt mich, sie lässt ausrichten, dass Eure Majestät nun sicherlich genug Zeit für einen ersten erschreckenden Eindruck hatte.“ Ihr Tonfall zeigte deutlich, wie wenig ernst sie ihre höflichen Worte meinte.
Thamar kochte innerlich, ließ den beißenden Spott jedoch unkommentiert und behielt eine gleichmütige Fassade aufrecht.
„Sehr zuvorkommend“, erwiderte er mit einem diplomatischen Lächeln.
„Stehenbleiben!“ Es war P’Maondnys Stimme, die plötzlich in seinen Gedanken auftauchte. Thamar gehorchte und verharrte in der Bewegung. Alanée wartete einen Moment, griff dann
unsicher nach seinem Arm, um ihn weiter zu ziehen, aber er schüttelte den Kopf. Nichts geschah.
„Geh jetzt weiter und du wirst im richtigen Augenblick eintreffen.“ Die Elfe gönnte ihm keine Erklärung für ihren Befehl. Mit heißen Wangen und stoischer Miene stampfte Thamar weiter, innerlich fluchend wie ein Roen Ormscher Fischhändler.
Elfen und Hexen, Priester und Brüder und Diener und all das ganze Pack, zum Finsterling mit euch! All ihr, die ihr es nur gut mit mir meint, ich-bin-kein-Spielzeug!
Alanée ließ ihm den Vortritt, als sie Kytharas Haus erreicht hatten. In dem Moment, als Thamar sich der Tür näherte, prallte er mit voller Wucht gegen ein heranstürmendes Hindernis und ging zu Boden. Als er aufstehen wollte, blickte er in funkelnde Raubtieraugen und sank erschrocken wieder zurück.
„Entschuldigung, ich hatte es wohl zu eilig?“ Ein verlegenes Lächeln erhellte das noch leicht kindlich gerundete Gesicht des Mädchens, das sich über ihn beugte. Im Licht dieses Lächelns wurden die Raubtieraugen sanft, schimmerten eher grün als leuchtend gelb, beinahe menschlich. Trotz der Kraft, mit der Inani ihm aufzustehen half, ließ sich ihre Jugend nicht verleugnen. Sie war mehrere Jahre jünger als er selbst und ein ganzes Stück kleiner.
„Nicht, es war meine Unachtsamkeit“, murmelte Thamar höflich.
„Dann sagen wir, es war unsere gemeinsame Schuld?“ Das Mädchen lachte und enthüllte dabei vollkommen menschlich geformte Zähne. Thamar neigte den Kopf, konnte sich aber von dem Anblick der jungen Hexe noch nicht lösen. Erst, als Alanée hüstelte, wurde ihm klar, dass sie ihn genauso voller unhöflicher Neugier anstarrte wie er sie. Schuldbewusst zuckten sie beide zusammen. Thamar trat rasch zur Seite, Inani verschwand wie ein Wirbelwind. Erst jetzt bemerkte er, dass Kythara, mehrere andere Hexen und die beiden Elfen an einem Tisch zusammen saßen und ihn ebenso spöttisch beobachteten wie Alanée neben ihm. Seufzend verneigte er sich vor der Hexenkönigin und murmelte einige traditionelle Worte der Dankbarkeit gegenüber seiner Gastgeberin.
So viel königliche Macht in einem einzigen Raum, das hat wohl die Welt noch nicht gesehen … Und was würde ich darum geben, es auch nicht sehen zu müssen!
„Nehmt doch Platz, mein Prinz. Ich hoffe, Inani hat Euch nicht erschreckt? Sie ist eine ganz normale Hexe. So normal, wie wir eben sein können.“
Thamar nickte mit eingefrorenem Lächeln. Er war zu erschöpft, um den Spott mit diplomatischer Leichtigkeit zu kontern. Rasch suchte er Maondnys abwesenden Blick und war erleichtert, als sie ihm zublinzelte.
„Es war wichtig, der jungen Hexe auf diese Weise noch einmal zu begegnen, es wird dein Leben sehr erleichtern. Sei unbesorgt, du hast das Schlimmste hinter dir. Die Hexen sind von deiner Anwesenheit irritiert, genauer gesagt, von der Tatsache, dass du noch lebst, deshalb sind sie ein wenig gemein zu dir. Das ist so ihre Art, mit allem umzugehen, was sie fürchten oder nicht verstehen. Wobei sie uns gegenüber erstaunlich zurückhaltend sind.“
„Dies alles, verehrter Prinz, ist nicht ganz einfach für uns“, begann Kythara. An der Art, wie sie ihre Worte mit Bedacht wählte, konnte Thamar spüren, dass Maondny Recht hatte. Gut zu wissen, dass nicht nur er mit dieser Situation überfordert war!
„Es ist natürlich nicht das erste Mal, dass wir Gäste in unser Reich einlassen, aber noch nie zuvor war jemand fähig, aus eigener Kraft zu uns vorzudringen. Die Macht, über die P’Maody … Pi’Ma… – egal! – verfügt, ist mir fremd. Das Volk der Elfen war bislang eine unbekannte Gefahr, der wir aus dem Weg gegangen sind, nichts weiter. Das Bündnis, das Fin Marla mir anbietet, birgt jedoch so viel Vorteile für uns alle, dass ich es auf keinen Fall ablehnen werde.“
„Welche Rolle werde ich in euren Plänen spielen?“, fragte Thamar, weiterhin stoisch lächelnd. Er wusste genau, dass man ihm keine Wahl lassen würde, nachdem er nicht einmal von Anfang an bei den Verhandlungen hatte anwesend sein dürfen.
Nein, ich sollte erschreckende erste Eindrücke sammeln gehen!
„Nun, Ihr könntet irgendwann den Thron von Roen Orm einnehmen. Euer Vater ist zwar seit langem ein kranker Mann, die junge Elfe hat allerdings verkündet, dass er erst im Laufe der nächsten sechs Jahre sterben wird.“
„Sechs bis neun Jahre, Kythara, abhängig von mehreren Faktoren, die zu unterschiedlichen Zukunftsentwicklungen führen“, murmelte Maondny geistesabwesend.
„Wie auch immer. Ihr seht, es bleibt Euch, und damit auch uns, noch genügend Zeit, um alle weiteren Schritte zu planen und Euch vorzubereiten.“
„Auf meine Rolle als königliche Marionette?“ Offen erwiderte er den Blick aus kalten schwarzen Augen, mit dem Kythara ihn maß.
„Keineswegs. Ein schwacher König überlebt in Roen Orm nicht einmal seine eigene Krönungsfeier. Ich muss mich um mein
eigenes Reich kümmern, sowie um unzählige Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die ich Euch nicht zu erklären brauche. Es ist nicht meine Absicht, die heimliche Herrscherin Roen Orms zu werden, genauso wenig, wie ich Euch zerbrechen und zu meinem Sklaven machen will. Ein willenloser Befehlsempfänger auf dem wichtigsten Thron dieser Welt wäre Gift für das Gleichgewicht der Kräfte, das wir Hexen anstreben. Übrigens verdankt Ihr es uns, dass die Suche Eures Bruders wenig Erfolg hatte. Nachdem Ihr befreit wurdet, hatten wir vorsorglich entschieden, dass es nichts schaden könnte, die Sonnenpriester ein wenig zu verwirren. Allerdings dachten wir, Ihr wäret auf der Flucht umgekommen.“
„Was also wollt ihr von mir, als Gegenleistung für mein Leben, meine Rache und meinen Herrschaftsanspruch?“
Fin Marla regte sich und sprach laut: „Wir Elfen verlangen freien Zutritt zum Weltenstrudel, wann immer wir es für den rechten Augenblick halten, dorthin zu gehen. Ich habe Euch nicht alles erzählen können, Thamar, aber warum wir gehen müssen, habt Ihr verstanden.“ Er nickte, ermutigt von dem Tonfall und der Wortwahl der Elfe. Sie vertraute ihm, stellte ihn nicht in Frage – vielleicht sah sie sogar mehr in ihm als eine Kriegswaffe?
„Wir Hexen erwarten Unterstützung in unserem Kampf gegen die Sonnenpriester“, begann Kythara, doch als sie Thamars entsetztes Gesicht bemerkte, brach sie ab.
„Verzeiht, das kann ich Euch nicht garantieren! Niemand, nicht einmal der König selbst, kann die Sonnenpriesterschaft aus Roen Orm verbannen!“, stammelte er.
„Das wollte ich damit auch nicht ausdrücken. Im Gegenteil, es wäre der Anfang von Roen Orms Untergang, so etwas zu versuchen. Die Sonnenpriester sind wichtig für die Menschheit. Alles, was lebt, ist abhängig vom Licht der Sonne, wir leben durch die Kraft von Ti genauso wie von Pya. Menschen können die Hoffnung, die der feurige Gott ihnen schenkt, niemals entbehren. Die Priester verrichten sein Werk auf Enra, handeln – meistens zumindest – in seinem Namen. Aber die Menschen benötigen auch die Dunkelheit der Nacht, um ruhen zu können. Sie brauchen Regen, sie brauchen Wasser, reinigende Gewitter. Sie können ohne Verzweiflung, Hass und Tod, Geheimnisse und Widersprüche, Krankheit und Verderben nicht leben. – Ich weiß, das klingt widersinnig für Euch. Dies alles bekämpfen die Sonnenpriester mit zu viel Erfolg, Thamar. Sie lassen kein Gleichgewicht zu. Diese Möglichkeit erwarten wir von Euch, nicht mehr und nicht weniger. Ihr sollt Hexen, die in Roen Orm ihr Werk verrichten, nicht verfolgen, sondern ignorieren. Lasst sie im Schutz der Dunkelheit arbeiten, sorgt nur dafür, dass man es ihnen nicht allzu schwer macht. Ihr werdet als König das Recht haben, die Wahl des Erzpriesters zu treffen. Nutzt diese Macht, wenn sie Euch zufällt, und gebt Eure Stimme gemäßigten Kandidaten. Die Fanatiker der vergangenen Jahrzehnte haben zu vielen unschuldigen Frauen, deren einziges Verbrechen darin lag, als Frau geboren zu sein, den Tod gebracht.“
Nachdenklich legte Thamar den Kopf zur Seite. Obwohl seine letzten Jahre in Roen Orm fast ausschließlich auf den Kampf ums Überleben ausgerichtet gewesen waren, hatte er durchaus miterlebt, wie oft Scheiterhaufen auf den Marktplätzen errichtet worden waren, wie viele Menschen man von den Klippen ins Meer gestoßen hatte. Die Sonnenpriester waren allgegenwärtig auf den Straßen und im Palast. Was sie predigten, klang oft genug gefährlich und menschenverachtend. Seine Mutter hatte ihn gewarnt, den Glaubenseiferern nicht so fraglos zu folgen wie Ilat …
Hastig verdrängte er alle Gedanken und Erinnerungen an seinen Bruder wie auch Ti-Priester. Er konnte es sich nicht leisten, jetzt zusammenzubrechen!
„Ihr habt meine Tochter gesehen, Prinz Thamar“, meldete sich eine blonde Frau zu Wort, die bis dahin schweigend neben Kythara gesessen hatte. Sie sah zu jung aus, um Mutter von mehr als einem Kleinkind sein zu können, doch aus ihrem traurigen Blick sprachen Alter, Weisheit und Schmerz, den nur die Last vieler Jahre bringen konnte.
„Inani wäre beinahe das Opfer eines solchen fanatischen Priesters geworden. Wenn sie diese Begegnung überwunden hat, wird sie der Welt nicht mehr mit ausgefahrenen Krallen und Raubtieraugen begegnen müssen. Doch bedenkt, es liegt in Eurer Hand, die Kinder und Frauen von Roen Orm zu beschützen, falls Ihr König werdet. Es wird nicht leicht sein, die Priesterschaft zu beeinflussen, die besonnenen Denker nach vorne zu bringen und die Fanatiker auszumerzen. Wir erwarten kein Wunder von Euch in Dingen, an denen wir selbst seit hunderten von Jahren gescheitert sind. Was immer aber Ihr tun könnt, damit zwölfjährige Mädchen nicht von übereifrigen Gotteskriegern mit dem Tod bedroht werden, ich bitte Euch: Tut es!“
Thamar senkte den Blick vor dem offensichtlichen Schmerz, den die Hexe offenbarte. Sie war die Erste, die ihn bat statt zu
fordern, die ihn nicht verspottete, oder einfach voraussetzte, dass er gehorchen würde. Als er wieder aufsah, begegneten ihm nur ernste Gesichter.
„Wenn ich mich weigere, was geschieht dann?“, fragte er leise.
„Das hängt davon ab, was Ihr wollt.“ Kythara lächelte, zum ersten Mal ohne jeden Spott. „Wollt Ihr den Preis nach oben treiben? Ihr könnt vieles verlangen, die versammelte magische und politische Macht in diesem Raum kann Euch unzählige Wünsche erfüllen. Reichtum, langjährige Gesundheit, Sieg über befeindete Königreiche, besondere Waffen ... Doch seid nicht zu habgierig, Ihr kennt die Legenden von Träumen, die sich besser nie erfüllt hätten, so gut wie jeder andere.“ Thamar schüttelte stumm den Kopf, und Kythara fuhr fort: „Wollt Ihr rascher an die Macht kommen? Wir können Euren Bruder frühzeitig ausschalten und Eure Rückkehr nach Roen Orm auf diese Weise garantieren. Auch den Tod Eures Vaters können wir beschleunigen, auf jede Weise, die Ihr Euch wünscht – je nachdem, ob Ihr vom Volk als bedauernswerter Halbwaise, rachsüchtiger Usurpator oder eiskalter Meuchelmörder betrachtet werden wollt. Bedenkt, dass diese Todesfälle Unruhen, sehr wahrscheinlich sogar Bürgerkrieg zur Folge haben könnten. Die Priester würden wissen, ob Gift oder sogar Magie im Spiel war.“
Thamar schnaufte, unfähig, seine Gedanken auszusprechen. Nun meldete sich Maondny zu Wort.
„Was er meint ist, ob er einfach verzichten kann. Was geschieht, wenn er die Möglichkeit zurückweist, Roen Orms Thron zu besteigen.“ Ihre Augen rollten nach hinten, einen Moment lang schien es, als würde sie in Ohnmacht fallen. Dann regte sie sich wieder, ein tiefgoldener Schimmer legte sich über ihr Gesicht. „Ilat wird zur Marionette der Priesterschaft werden, Fanatismus wird regieren. Thamars Flucht hat Ilat verändert, er wird sich der Trunksucht zuwenden. In den kommenden zwanzig Jahren wird er so stark verfallen sein, dass er den Ti-Priestern nichts mehr entgegensetzen kann. Die abergläubische Angst der Bevölkerung vor allem, was finster und fremdartig ist, wird bis an den Rand des Untergangs geschürt. Ich sehe Erzpriester, die ihre Magie missbrauchen werden, um Krankheiten, Seuchen und Missernten über das Land zu bringen, nur, um die Töchter der Pya zu vernichten. Wir Elfen werden den richtigen Zeitpunkt verpassen, um in den Strudel zu gehen, und die Prophezeiung um die Steintänzerin geht zugrunde. Wenn Ilat getötet wird, du aber nicht sein Nachfolger bist, kommt es zum Bürgerkrieg in Roen Orm. Viele werden sterben, bis ein neuer König feststeht.“ Sie schwieg einen Augenblick, in Gedanken weit fort in einer Zukunft, die sich beständig veränderte. „Mehrere Sieger sind möglich, sie alle wären fähig, Roen Orm und damit Enra eine Zeit des Friedens zu schenken. Für das Gleichgewicht, das die Hexen anstreben, wären sie alle geeignet. Für uns Elfen nicht.“
Kythara griff nach Thamars Hand und drückte sie fest. Es gab ihm Halt, was ihn selbst verwunderte.
„Wir werden Euch nicht zwingen. Wenn Ihr zu tief verletzt wurdet von der Folter, die man Euch angetan hat, wenn Ihr ein Leben in friedlichem Exil sucht, dann sagt es, und wir werden es Euch bieten. Wir können andere Männer unterstützen, den Thron zu übernehmen, die Zukunft lässt sich beeinflussen. Doch ich müsste mich sehr in Euch irren, falls Ihr tatsächlich lieber ein Dasein als Bauer oder Fischer wünscht statt Eure Rache zu suchen! Ihr müsst auch nicht jetzt und hier entscheiden, es ist noch Zeit.“
Eine wilde, leidenschaftliche Kraft offenbarte sich hinter der kühlen Fassade. Mit klopfendem Herzen löste sich Thamar aus dem Griff der
Königin. In seinem Kopf drehte sich alles. Von Elfen gewaltsam gefangen genommen, mit Visionen überladen, von anderen Elfen entführt, in eine fremde Welt geworfen, mit zu vielen Erwartungen überschüttet – er war zu Tode erschöpft, verwirrt, überfordert. Hätte man ihm in diesem Moment drei magische Wünsche geboten, er hätte nach einem Becher Wasser, einer heißen Suppe und einem Bett verlangt. Was sollte er tun? Welche Erwartung sollte er füllen? Welcher Weg war der richtige?
„Kythara, meine Tochter und ich haben dem Prinzen eine Reihe von magischen Visionen aufgedrängt. Ich denke, wir haben unterschätzt, wie fordernd dies für den menschlichen Geist ist. Lasst ihn ruhen, wie Ihr selbst sagt, es gibt nichts, was nicht auch morgen entschieden werden könnte.“ Fin Marla stand plötzlich neben ihm und hielt seinen Arm, als wäre er zu krank oder zu schwach, um allein stehen zu können.
Thamars Blick suchte nach Maondny. Wie zwei Sterne funkelten ihre goldenen Augen, sie lächelte verträumt, als sie sich ihm wieder geistig zuwandte.
„Wusstest du, dass Visionen wie kleine Flammen sind, die ein unendlich verschlungenes Labyrinth erhellen? Blind stolpern unmagisch Geborene durch das Labyrinth des Lebens, wissen nie: Sind wir am Anfang unseres Weges? Oder ganz nah dem Ende? Ist die rechte Abzweigung besser als die linke? Vielleicht wäre es besser, ein Stück zurückzulaufen und es von vorne zu versuchen? Für diejenigen, die sehen können, entflammen Visionen die Nacht, zeigen, wohin ein Weg führt … Du bist nicht weniger blind und verloren als alle anderen Sterblichen, doch du bist auch ein Licht in der Dunkelheit. Ob du es nun willst oder nicht. Egal, wofür du dich entscheidest, du wirst anderen den Weg weisen. Dies ist dein Schicksal, Prinz von Roen Orm. Dies hat mich zu dir geführt.“
Er stöhnte innerlich auf. „Ich will nichts lieber sein als einfach nur Thamar, der arme Blinde, wenn du aufhörst, von Schicksal zu reden, Maondny!“, dachte er. Das warme Leuchten ihrer Augen, die Aufmerksamkeit in ihrem sonst so entrückten Gesicht schenkte seinem aufgewühlten Verstand Ruhe. Solange er sie auf seiner Seite wusste, würde er überall hingehen.
Ich bin ein Narr, genauso
gut könnte ich nach den Sternen greifen!
Sanft löste er sich aus Fin Marlas Griff und nickte den
erwartungsvollen Frauen zu.
„Ich will mich heute nicht endgültig festlegen. Doch Kythara, Ihr habt Euch nicht getäuscht: Meine Rache suche ich auf jeden Fall. Ob ich danach die Königswürde anstrebe, weiß ich noch nicht. Ilat soll allerdings durch meine Hand sterben, nicht durch ein Attentat der dunklen Seite.“
„Nun, Maondny, habe ich einen neuen Weg beschritten? Nähere ich mich dem Ende oder dem Anfang des Labyrinths?“, dachte er so intensiv wie möglich, während er sich von Kythara Richtung Tür schieben ließ.
„Das hängt davon ab, ob du die folgende Nacht überleben wirst.
Vielleicht hättest du dich lieber von meiner Mutter abführen lassen sollen wie ein krankes Kind, statt dich den Klauen dieses Raben auszuliefern?“
Thamar erstarrte kurz, doch Kythara führte ihn unerbittlich weiter, während Maondny in seinem Kopf voller Übermut lachte.