5.

 

„Vor ungezählten Jahren kamen sie zu uns, das fremde Volk der Ferne. Elfen nennt man sie, und so schön sie von Angesicht sind, so entsetzlich sind ihre Taten. Niemand weiß, warum sie den Krieg gegen uns begannen. Gewiss ist nur, dass wir ihn nicht mit Barmherzigkeit gewinnen können, denn diese seelenlosen Kreaturen töten ohne Gnade, gleich ob Mann, Frau oder Kind. Ti stehe uns bei, gegen ihre Magie gibt es kaum eine Waffe, selbst die mächtigsten Magiekundigen unter den Sonnenpriestern unterliegen viel zu oft der Grausamkeit der Elfen.“

Kuran von Roen Orm, „Über die Elfen“, Zeit unbekannt

 

Schwerter… das Blut spritzt zu allen Seiten … Schreie, furchtbare Schreie der Todgeweihten … Ein Menschenmann in schwarzer Lederrüstung steigt von seinem Pferd, er sieht die Elfe nicht, die verächtlich auf ihn wartet, dort oben im Baum … Schreie seiner sterbenden Gefährten … der Schmerz in ihrem Blick, als sie die Hand hebt, um auch sein Leben auszulöschen …

 

P’Maondny zuckte zusammen, als sie eine Berührung an der Schulter spürte. Unwillig löste sie sich aus dem magischen Zeitenstrom, mit dem sie nahezu ununterbrochen verbunden war und sah auf. Ihr Bruder stand vor ihr, wartete geduldig, bis ihre übliche Verwirrung abklang. Sie hasste es, in dieser wirklichen, wahrhaftigen Welt aufzuwachen. Für sie war dies die Vergangenheit. In ihren magischen Träumen tauchte sie beständig in den Fluss der Zeit ein, verfolgte alle Strömungen, Strudel und Nebenflüsse des Schicksals mehrerer Welten. So kannte sie stets die wahrscheinlichste Zukunft aller Völker. Dazu überfielen sie häufiger Visionen einzelner Lebewesen, die fähig waren, den gesamten Strom umzuleiten. Die Nähe von anderen quälte sie, denn statt friedlich dem Lauf der Jahrhunderte zu folgen musste sie dann Tod und Sterben eines Einzelnen mit ansehen. Seine unendlichen Möglichkeiten des Schicksals, fast alle von Leid und Schmerz geprägt. Die Vernichtung eines ganzen Volkes zu beobachten, das war für sie wie ein Blick auf einen Ameisenhaufen. Es berührte sie nicht weiter. Die Nähe zu einem individuellen Wesen aber traf sie tief. Darum hielt sie sich von ihrer Familie fern, kannte keine Freunde. Aus diesem Grund wollte sie nicht in der wirklichen Welt leben. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie diese Todesvisionen zwar unterdrücken, doch sie hatte bisher keinen Grund gefunden, so viel Mühe auf sich zu nehmen. Es war so viel einfacher, in die Welt ihrer Visionen zu entfliehen …

„Maondny, Vater ruft nach dir. Komm mit.“

„Ich heiße P’Maondny. PE-MA-ONT-NI. Du sollst mich beim vollen Namen nennen“, murmelte sie matt während sie sich schwankend von dem Felsbrocken erhob, auf dem sie mehrere Tage lang regungslos gesessen hatte. Hätte Anovon nicht rasch zugegriffen, wäre sie zu Boden gefallen. Schwer atmend klammerte sie sich an seinen schlanken, hochgewachsenen Leib.

Sanft strich er über ihr schwarzes, wirres Haar, das wie so oft unordentlich um ihr schmales Gesicht hing.

„Du solltest wirklich gelegentlich essen und trinken, Schwesterchen.“ Kopfschüttelnd zwang er Maondny, aus seinem Wasserschlauch zu trinken und zog sie dann entschlossen mit sich. Es fiel ihr schwer, Anovon zu folgen, hinauf zu den gut verborgenen Höhlen in der Felswand der Nihash-Vorgebirge, nicht weit entfernt von Roen Orm.

„Nicht so rasch, Bruder, hier müssen wir einen Moment warten“, flüsterte sie am Höhleneingang, einige hundert Schritt über dem Erdboden. Sie kümmerte sich nicht um seinen wütenden Blick, oder das Gemurmel der Elfen, die sich dort in der Nähe aufhielten und die Szene beobachten konnten.

„Vater, hier ist sie, wahnsinnig und halb verdurstet, wie immer also“, sagte Anovon besorgt, als er Maondny endlich zum König der Elfen geschleift hatte.

„Hat sie gesprochen?“

„Nein, diesmal keine Visionen.“ So rasch wie möglich floh er hinaus ins Freie. Mehr als einmal hatte Maondny ihm mögliche grausame Schicksalsschläge geschildert, die ihn treffen könnten. Sie sah ihm nach, beobachtete, wie er den Höhleneingang im Sturmschritt hinter sich ließ. Ganz gewiss würde sie ihm nicht erzählen, warum sie ihn vorhin hatte warten lassen.

Zwei Herzschläge später, und er hätte Elory gestreift, der Tonkrug in ihrer Hand wäre gefallen und zerbrochen. Niemals wären sie ein Paar geworden, mein Neffe nicht geboren. Zehn Herzschläge früher und er hätte Dashao geschubst, der in Elorys Rücken gefallen wäre. In diesem Fall wäre Elory gestorben und könnte den Angriff auf die Festung nicht mehr leiten. Hunderte Menschen würden nicht sterben …Nun sieh mal an, was aus deren Nachkommen …

 

„Liebes, hörst du mich?“ Zärtlich strich Taón über Maondnys Kopf, bis sie zu zittern begann und wach zu ihm aufblickte.

„Warum quälst du mich, Vater?“

Taón betrachtete seine bebende, bleiche Tochter und seufzte tief. Er hatte ihr das angetan. Er hatte sie dazu verflucht, mit dem magischen Zeitenstrom verbunden zu sein. Seine Schuld. Der Untergang seines Volkes, seine Schuld. Nur noch so wenige lebten, viel zu

lange dauerten die Kämpfe gegen Roen Orm schon an. So viel Leid hatte Taón über Menschen und Elfen gebracht, so viel Blut … Tag und Nacht träumte er von all den Toten. Es gab kein Entrinnen. Einen Sieg zu erringen, daran glaubte niemand mehr. Maondny und ihre Gabe war die letzte verzweifelte Möglichkeit, das Schicksal zu wenden und in Roen Orms Heiligtum vordringen zu können. Wie sehr er wünschte, die Zeit zurückdrehen und alles anders machen zu können!

 

Maondny hasste es, Schuld und Trauer ihres Vaters mitansehen zu müssen. Mühsam riss sie sich zusammen und schirmte sich von seinen Ängsten und Erinnerungen ab.

„Du weißt, warum, Maondny. Versuch es noch einmal. Du weißt, wir brauchen Hoffnung.“

Taón wies auf die Elfen, die in der Höhle kauerten. Viele von ihnen hatten alles verloren, ausgenommen ihr Leben. Die Augen starrten blind in die Leere. Sie hatten Freunde oder Verwandte sterben sehen, waren an Leib und Seele verletzt worden in dem langen sinnlosen Krieg gegen die Menschen und deren Magier.

Noreos Lebensfluss ist versiegt, dachte Maondny interessiert, als sie einen der Männer betrachtete. So etwas hatte sie schon häufiger erlebt, es war als würde er sich weigern, ein Schicksal haben zu wollen. Er lebte, atmete, sein Herz schlug, aber sie sah keine Zukunft mehr für ihn, keinen Lebensweg. Nicht einmal den Tod. Möglich, dass es bald allen Überlebenden ihres einst so großen Volks so ergehen würde, wenn der Schicksalsfluss sich nicht wenden ließ.

Aber was war das? Sie erblickte eine Taube, die einen goldenen Faden im Schnabel trug und ihn in Noreos Hand fallen ließ. Eine mögliche Zukunft … Doch was notwendig war, um eine solche Zukunft zu ermöglichen, ließ Maondny erschaudern.

Eine Berührung erinnerte sie daran, dass sie an der Reihe war, etwas sagen zu müssen. Rasch blickte sie in die Vergangenheit, um die Worte ihres Vaters noch einmal zu hören: „Du weißt, wir brauchen Hoffnung.“

„Hoffnung, Vater? Du sagtest doch, Hoffnung ist die Geißel der Lebenden, der Fluch, der sie hindert, den Frieden im Tod zu suchen?“ Kann er mich nicht in Ruhe lassen? Seit Jahren immer die

gleichen Forderungen nach Antworten, die ich nicht geben kann! Die er niemals hören darf!

Befremdet starrte Taón auf sie nieder. Seine schwarzen Augen entflammten vor Zorn.

„So etwas habe ich nie gesagt, so etwas würde ich niemals wagen auszusprechen!“, grollte er mühsam beherrscht.

„Mein Fehler“, sagte Maondny geistesabwesend. „Du wirst es sagen, in ein paar Jahren, vielleicht. Manchmal verwechsle ich Vergangenheit und Zukunft.“

Eine Elfe mit silberweißem Haar trat zu ihnen und legte begütigend die Hand auf Taóns geballte Fäuste. Es verwirrte P’Maondny, dass sie diese Frau stets erst auf dem zweiten Blick als ihre Mutter erkannte. Fin Marla gehörte zu jenen, die bereits mehrfach wiedergeboren wurden. Während alle anderen Elfen sich allerdings in der Jugend entschieden, ob sie ihrem gegenwärtigen oder einem früheren Schicksalsweg folgen wollten, besaß ihre Mutter die Macht und Kraft, alle begonnenen Leben zu vereinen. Wann immer sie diese Frau ansah, entdeckte sie neben ihrer Mutter noch drei weitere Elfinnen.

„Bedränge sie nicht zu sehr, du weißt, dass sie nicht mehr in unserer Welt lebt!“ P’Maondny wagte einen intensiveren Blick auf Fin Marla. Ihr eigenes schwarzes Haar musste von Taón stammen, aber ansonsten war sie das Spiegelbild ihrer Mutter, ähnlich hochgewachsen und schlank. Auch die Gabe der Sicht war ein Erbe von Fin Marla, die neben ihr die stärkste Seherin ihres Volkes war. Doch während Maondny willentlich jederzeit das Schicksal betrachten konnte, musste Fin Marla auf Visionen warten, die niemals von vergleichbarer Klarheit waren.

„Nun versuch es bitte. Sag mir, was wir tun müssen, um dem Krieg zu entgehen und Frieden zu finden.“

„So eine Frage hast du bis jetzt nicht gestellt.“ Maondny wehrte sich gegen die vielfältigen Visionen, die am Rande ihres Bewusstseins lauerten. Das könnte interessant werden … Oh Götter, ihr verlangt zu viel!

„Deine Mutter meinte, es wäre notwendig, neue Fragen zu stellen.“

Gewiss. Deine ewigen Fragen nach Waffen, Führern und Schwächen der Menschen haben dich nicht zum Sieger gemacht. Bald sind keine Elfen mehr übrig, die einen Sieg durchsetzen könnten.

Eine Flutwelle überrollte ihre geistigen Dämme. Willig ließ P’Maondny sich fortreißen, tauchte ein in den Strom möglicher zukünftiger Geschehen. Etwas Neues hatte sich entwickelt, eine Möglichkeit, die es zuvor nicht gegeben hatte.

Dort! Das ist ein Weg, eine Hoffnung. Doch schwach, so schwach! So vieles könnte sie zerstören.

 

„Sie ist schon zu lange fort, Marla“, sagte Taón leise. Gemeinsam mit seiner Gefährtin hielt er Wache, wartete, dass die Seele seiner Tochter erneut Besitz von ihrem niedergestreckten Körper nahm. Dass diese toten, glanzlosen Augen wieder lebendig wurden.

„Es ist ein gutes Zeichen, meinst du nicht? Seit so vielen Jahren fordern wir Visionen von ihr ein, zu oft hat sie nach wenigen Momenten den Kopf geschüttelt. Wenn es sein muss, können wir sie magisch am Leben erhalten, aber noch ist sie stark genug.“

Traurig streichelte sie über die kalte Stirn ihrer Tochter.

„Als wir nach Enra flohen, hatte ich gehofft, wir würden hier unser Heil finden, Zeit, um uns zu sammeln.

Osmeges Wahnsinn ...“

„Nicht, Liebste“, unterbrach er sie. „Tu dir das nicht an. Grabe nicht in den Erinnerungen! Ja, wir kamen hierher, nahezu vernichtet vom Krieg, und gerieten sofort in den nächsten Wahnsinn! Roen Orm ist uneinnehmbar, diesen Kampf können wir nicht gewinnen. Wir müssen alles auf der anderen Seite verloren geben. Wir können nicht mehr zurück nach Anevy! Ich sehe nur noch Hoffnung für unser Volk, wenn wir endlich die Niederlage eingestehen und uns einen Ort suchen, an dem wir in Frieden leben können. Deine Prophezeiung ist fehlgeschlagen.“

„Sag das nicht! Glaubst du, ich hätte Maondny geopfert, um zu erfahren, dass wir in irgendeinem unzugänglichen Tal in der Wildnis eine Stadt errichten sollen? Das all die Verlorenen tatsächlich für alle Zeiten von uns gerissen sind? Niemals!“

Zornbebend wollte sie aufspringen, doch in diesem Moment stöhnte Maondny auf. Sofort riss Fin Marla das zitternde Mädchen in ihre Arme und presste sie schützend an sich.

„Es gibt Hoffnung für uns, Vater“, sprach sie leise. „Sie ist so irrsinnig wie alles, was bislang geschah. Ich glaube, es fügt sich in den Willen der Götter. Es muss ein Gott sein, der sein Spiel mit uns treibt.“ Maondny lachte, obwohl Tränen über ihr Gesicht rannen.

Warum nur musste ich mein Kind in den magischen Gezeitenstrom werfen? Es war ein Fehler, wir wussten es schon vorher. Vergib mir, all das Leid, das wir dir angetan haben!, dachte Taón, während er Fin Marla half, das nun besinnungslos schluchzende Mädchen zu halten.

„Höre, Vater: Von Norden ist eine neue Dunkelheit erwachsen. Durch den Nebelschleier wird sie hervortreten, in dem sie sich zu lange verbarg. Wir müssen uns mit dieser Dunkelheit verbünden, sie wird uns Einlass gewähren nach Roen Orm. Die ewige Stadt kann nicht mit Gewalt oder List, Magie oder Willensstärke bezwungen werden, also müssen wir bescheiden an ihre Tore klopfen und um Einlass betteln. Die Töchter der Dunkelheit können, so das Schicksal gnädig ist, in einigen Jahren die neuen Hüter des Weltenstrudels bestimmen. Für Anevy, unserer Heimatwelt, wird Rettung kommen, doch nur, wenn wir die rechte Entscheidung treffen.“

„Sie redet irre, Fin Marla! Nun ist sie endgültig dem Wahnsinn verfallen!“ Entsetzt sprang Taón auf, achtete nicht auf die mitleidigen Blicke der anderen Elfen, als er mit bloßen Fäusten auf die Felswände der Höhle einschlug. Eine kühle, zittrige Hand legte sich auf seinen Arm und ließ ihn herumfahren.

„Der Wahnsinn ist mein Freund, seit du mich durch das Tor der Zeit gestoßen hast, Vater, aber ich weiß, wer ich bin und was ich sage.“

Maondnys Augen rollten, so wild hin und her, während sie sprach, dass Taón sich abwenden musste.

„Ich sage dir, was du tun musst, um diesen Krieg zu beenden und Frieden zu finden: Rufe alle Krieger nach Hause. Hör auf, Roen Orm anzugreifen, Menschen zu töten, magische Netze zu spinnen, um Sonnenpriester zu fangen. Wir ziehen uns zurück und warten auf den rechten Moment. Wenden wir uns zu früh an die Hexen, werden sie uns misstrauen und die Steintänzerin wird noch nicht bereit sein. Warten wir zu lange, wird der Augenblick vergehen. Wir müssen nicht untätig bleiben in der Zeit, die wir warten, sondern können uns den Weg des Schicksals ebnen. Der neue König wird schwach sein und den Hexen verfallen. Diese Erwählten der Dunkelheit könnten die Söhne des Lichts niederringen, und uns ziehen lassen, sobald in Anevy alles bereit ist. Doch nur eine falsche Entscheidung, auf unserer oder anderer Seite, und alle Hoffnung ist dahin.“

Mit diesen Worten sank sie in sich zusammen, nahezu ausgebrannt von den Stunden in magischen Strömungen und dem Betrachten der unentwirrbar verflochtenen Lebenswege aller Völker.

„Weißt du, was sie meint?“, fragte Taón unsicher. So lange hatte er gehofft, gekämpft, alles versucht, um sein Volk vor dem Untergang zu bewahren. Ob es wirklich einen Weg gab, einen Weg nach Roen Orm? Wer oder was waren die Hexen? Etwa die Pya-Töchter, deren Existenz von vielen Menschen zwar befürchtet, aber nicht geglaubt wurde?

„Ich fürchte, ich weiß es.“ Fin Marla wiegte Maondny im Arm, als wäre sie ein krankes Kleinkind. „Dieser Weg birgt kaum Hoffnung, er führt beständig auf den Abgrund zu. Wenn es wirklich der einzige Weg ist, nach Roen Orm, nach Hause, zurück zu unserem Volk, dann werden wir ihn gehen müssen. Alles wird von der Willensstärke und dem Geschick unserer Tochter abhängen.“

„Wie lange werden wir warten müssen, Herrin?“ In dem Dämmerlicht der Höhle war nicht zu erkennen, welcher Elf diese bange Frage gestellt hatte. Erst jetzt wurde Taón bewusst, dass sich alle Sippenmitglieder um sie versammelt hatten.

„Ich weiß es nicht, einige Jahrzehnte wohl. Die Steintänzerin muss ihre Gefährten finden. Und es steht noch eine Sternenkatastrophe bevor, die Einfluss auf den Weltenstrudel nimmt. Wir müssen lernen, anderen zu vertrauen. Roen Orm ist der Schlüssel zu allem. Hier werden sich alle Wege und Schicksale kreuzen.“

„Roen Orm ... Wir können sie nicht beherrschen, die Geschicke dieser Stadt.“

„Nein. Das konnten nicht einmal die Götter“, wisperte Maondny, während in ihren Augen bereits wieder der goldene Fluss der Gezeiten schimmerte.