8.

 

Die Wahrheit ist ein zerbrechliches Ding, teuer zu handeln, wenig begehrt, das scharf in den Finger zu schneiden vermag.

Sinnspruch aus Lynthis, Handelsstadt am Südmeer

 

Dutzende Hexen hatten sich vor Shoras Hütte versammelt. Inani blickte in zornige, hasserfüllte Augen, ein Meer von anklagenden Gesichtern. Corin stand unmittelbar vor ihr, in ihren Händen lagen blutige Federn.

Taubenfedern ...

„Du warst es! Du hast deine Bestie auf meinen Seelenvertrauten gehetzt!“, schrie das Mädchen zornbebend. Tränen flossen über ihr rundes, bleiches Gesicht. Verständnislos starrte Inani auf die blutigen Federn, auf die zornigen Frauen, auf die Hände, die ihr eine Kyphra entgegenstreckten.

Ihre eigene Schlange. Ihr Seelenvertrauter.

Noch verwirrter nahm sie die Kyphra an sich und streichelte langsam über den Kopf des höchst aufgeregten Reptils. Sie spürte Wut und Angst, als sie sich den Gedanken ihres Vertrauten öffnete. Die Kyphra wand sich ruhelos, zischte die Hexen warnend an.

Eine Hand legte sich auf Inanis Schulter, hilfesuchend blickte sie zu ihrer Mutter auf.

„Was werft ihr meiner Tochter vor?“, fragte Shora. Ihre Stimme war beherrscht, kühl, doch Inani spürte das leise Zittern von Shoras Händen. Auch sie war wütend und angespannt, und ebenso bereit, für Inani zu kämpfen, sie zu beschützen, wie die Kyphra es war.

„Verflucht, sie hat ihre Schlange auf meine Taube gehetzt!“, kreischte Corin. Inani sah den Schlag kommen, aber statt auszuweichen, drehte sie sich lediglich so, dass ihr Vertrauter nicht in Corins Hand beißen konnte. Die schallende Ohrfeige hörte sie zwar, der Schmerz wollte allerdings nicht durch den Nebel dringen, der ihr Bewusstsein einhüllte. Betäubt sah sie zu, wie die Hexen um sie zu streiten begannen, Anschuldigungen, Schläge prasselten auf sie nieder, während Shora und Alanée versuchten, sie mit ihren eigenen Körpern zu schützen.

Irgendwann fand sie sich auf dem Boden kauernd wieder, die Schlange nach wie vor an sich gepresst. Ihre Mutter und Alanée standen vor ihr, beide von blauen Magiefunken umgeben. Atemlos richtete das Mädchen sich auf, starrte in die fassungslosen Gesichter der Hexen, die von Shoras und Alanées Magie zurückgeworfen worden waren. Erst jetzt erinnerte sie sich daran, den Ausläufer der Energiewelle gespürt zu haben.

„Es ist verboten, die eigenen Schwestern anzugreifen!“, brüllte jemand.

„Ganz Recht. Ihr habt angefangen. Diese beiden haben sich und Inani verteidigt. Seid zufrieden, dass Shora nicht zu anderen Mitteln gegriffen hat, ich hätte sie gebilligt!“

Kytharas Stimme flammte vor Zorn, ihr schwarzer Mantel flatterte hinter ihr, als sie mit raumgreifenden Schritten auf die versammelten Hexen

zueilte. Hinter ihr folgten verwirrte Frauen und Mädchen, angelockt von dem Geschrei.

„Bist du verletzt?“ Inani blickte zu ihrer Mutter auf, die besorgt nach ihr griff. Kühle Finger streichelten über ihr Gesicht, und erst jetzt kam der Schmerz, brennend, dumpf, glühend, je nachdem, ob gespitzte Fingernägel oder Fäuste ihren Körper getroffen hatten. Trotzdem schüttelte Inani den Kopf.

„Corin, Ylanka, Shora und Inani, ihr kommt mit in das Versammlungshaus. Das will ich sofort geklärt wissen! Bring deine Schlange mit, Inani.“ Kythara stürmte voran, die Menge teilte sich vor ihr und ihrer gnadenlosen Wut.

Das Mädchen betrachtete noch einmal die Gesichter der Hexen, als sie an ihnen vorüberschritt. Mit seltsamer Klarheit nahm sie wahr, welche von ihnen eine Feindin war und wer nur von allgemeiner Empörung mitgerissen wurde. Arina zum Beispiel, die alle Junghexen über die Gesetze, Sitten und Legenden verschiedener Herrschaftsbereiche und Völker unterrichtete, schien eher erschrocken als wütend zu sein. Ylanka und deren Freundinnen Naliama und Kyelle hingegen zeigten Hass und Verachtung ganz offen. Noch gefährlicher aber schien Inani der Triumph zu sein, den sie wie einen fremdartigen Duft wahrnahm. Irgendjemand war hochzufrieden über das, was geschehen war, doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht herausfinden, wer diejenige sein mochte.

„Hast du deinen Vertrauten auf Corins Taube angesetzt?“, fragte Kythara ohne Umschweife, kaum, dass sie auf ihrem Thron Platz genommen hatte.

„Nein, Herrin.“ Inani schüttelte den Kopf, sie hielt dem prüfenden Blick der Königin mühelos stand. Der Schleier, der zuvor jeden Gedanken verhüllt, jede Bewegung verzögert hatte, war endlich gewichen, stattdessen schien nun alles in doppelter

Geschwindigkeit zu geschehen. Ihr Verstand raste, ihre Wahrnehmung war von glasklarer Brillanz. Sie konnte ihre wild umherspringenden Gedanken kaum einfangen.

„Du lügst!“, kreischte Corin sofort, doch ihre eigene Mutter brachte sie mit einem Schlag ins Gesicht zum Schweigen.

Entsetzt bemerkte Inani, dass Corin weder zusammenzuckte noch überrascht zu sein schien.

„Tritt näher, Inani.“

Gehorsam kniete sie vor Kytharas Thron nieder. Die Würgeschlange blieb wachsam, züngelte unruhig, der Kopf ruhte auf Inanis rechter Schulter, der schwere, dunkelgrüne Leib war um Oberkörper und Hüfte geschlungen. Das Gewicht des Tieres setzte ihr zu, doch sie ließ sich nichts anmerken, sondern blickte so gleichmütig wie nur möglich in Kytharas finsteres Gesicht.

„Öffne deinen Geist, wehre dich nicht!“, befahl die Königin streng.

Kytharas harte Finger strichen über Inanis Gesicht, ihre rabendunklen Augen durchdrangen Körper und Seele. Es schmerzte, als sie durch Inanis geistige Sperren brach, in die Gedanken, Erinnerungen und Gefühle eindrang, die sie zu verstecken versuchte. Erst nach einem angsterfüllten Moment wurde ihr klar, dass Kythara sie benutzte, um die Erinnerungen der Kyphra erforschen zu können.

Inani versuchte, die Bilder zu begreifen, die sie nun sah, doch sie erkannte dort nur ein offenes Fenster und den Duft eines wehrlosen Beutetieres.

Unbehaglich wand sie sich in Kytharas Griff, deren Fingernägel sich scharf in Kinn und Wange bohrten. Was für ein Spiel war hier bloß im Gange?

„Ich bin nicht deine Freundin, Inani“, hörte sie Kythara in ihrem Bewusstsein. Wenn ich es für richtig halte, werde ich dich jederzeit töten. Solange dies nicht notwendig ist, werde ich dich wie jede andere Hexe in meinem Reich beschützen. Sei vorsichtig, du hast Feinde. Wie ich sehe, hast du den größten Teil von ihnen bereits erkannt. Nutze das Wissen der Kyphra, dann wirst du verstehen, was hier geschehen ist.“

Kythara gab sie frei und richtete sich auf.

„Inani hat ihren Vertrauten nicht mit Absicht gegen Corins Taube geschickt. Es war ein Unfall, die Schlange hat sich aus ihrem Korb befreit und ist durch ein Fenster geschlüpft. Ob es Nachlässigkeit war, konnte ich nicht erkennen, Vorsatz war es gewiss nicht.“

„Das ist alles? Sie hat nicht auf ihre dämliche Echse aufgepasst, die meine Taube getötet hat, und jetzt habe ich Pech gehabt?“ Corin schluchzte auf. Ihre weinerliche, schrille Stimme schmerzte in Inanis Ohren, dennoch hatte sie Mitleid mit ihr.

„Es tut mir sehr, sehr leid, Corin. Ich möchte gerne etwas tun, um Ersatz zu leisten“, sagte sie leise.

„Kannst du die Toten wieder lebendig machen? Nein? Dann kannst du auch nichts wieder gut machen. Es gibt keinen Ersatz für einen toten Vertrauten!“ Ylankas Stimme klang zornig, doch in ihren kalten Augen glitzerte Triumph.

„Kythara, ich verlange, dass Inanis Schlange getötet wird. Sie soll den gleichen Schmerz leiden wie meine Tochter.“

„Nein, Ylanka. Blut wird nur mit Blut beglichen, wenn es vorsätzlicher Mord war.“

„Was bestimmst du also, Herrin?“

Kythara setzte sich nachdenklich auf ihren Thron zurück. Sie reagierte nicht auf Ylankas wütenden Spott. Inani spürte die Hand ihrer Mutter auf der Schulter, die sie beruhigend streichelte und das Gewicht ihrer Schlange, die nervös Kopf umherbewegte.

Niemand nimmt dich mir weg!, dachte sie und schickte dieses Bild in den verängstigten Geist der Kyphra.

Gefahr?, erwiderte die Schlange und wurde augenblicklich noch unruhiger. Ihre Zunge flatterte über Inanis Hals. Inani gab es auf, ihren Seelenvertrauten erreichen zu wollen.

„Nachlässigkeit darf nicht ermuntert werden“, sagte Kythara mit harter Stimme. „Unser aller Überleben hängt davon ab, dass wir uns aufeinander verlassen können. Deshalb urteile ich wie folgt: Inani soll einen Monat in die Wälder geschickt werden, nur mit ihrem Vertrauten. Wenn sie wiederkommt, soll alles vergeben sein. Niemand darf nach ihr suchen, ihr Essen, Kleidung oder Geschenke bereitstellen. Zuvor darf sie allerdings an den Festlichkeiten teilnehmen, denn ohne den Segen der Göttin soll sie nicht fortgeschickt werden. Morgen früh, bei Sonnenaufgang, beginnt ihre Verbannung und endet dreißig Tage darauf, zur selben Stunde.“

„Nein!“ Shora umklammerte Inanis Arm so fest, dass sie ein schmerzliches Stöhnen unterdrücken musste.

„Das ist einem Todesurteil gleich! Du weißt, wie gefährlich die Wälder zu dieser Zeit sind, wenn die Raubtiere aus dem Winterschlaf erwachen, aber noch nicht viel Beute zu holen ist! Dazu sind die Nächte noch empfindlich kalt!“

„Meine Tochter hat eine Woche in den Wäldern überlebt, als der Winter schon auf der Schwelle stand, da müsste dein ach so begabtes Liebchen doch die Zeit mit einem Lächeln auf den Lippen absitzen können!“ Ylankas Stimme war blanker Hohn. Tiefe Zufriedenheit strahlte aus ihren harten, dunkelbraunen Augen.

„Corin war halb verhungert und verdurstet und hatte keine zwei Stunden Schlaf gefunden in dieser Zeit. Es ist ein Wunder, dass sie überlebt hat, eine hohe Leistung zudem. Das Vierfache von dem ...“

„Lass gut sein, Mutter“, murmelte Inani. „Ich nehme die Strafe an, in der Hoffnung, dass diese Geschichte damit ein Ende findet.“ Sie drehte sich zu Kythara um, ergriff deren Hand und schickte der Königin ihre Gedanken, ganz so, wie sie es immer mit ihrer Schlange hielt:

„Wird meine Feindin sich erschrecken, wenn sie von dieser Strafe hört, oder triumphieren?“

„Inani? Du kannst selbst Gedanken teilen, in solcher Deutlichkeit?“

„Ja, warum? Was ist nun, was wird meine Feindin empfinden?“

„Sie wird erschrecken, ich entferne dich für vier Wochen aus ihrer Kontrolle. Tatsächlich glaube ich aber, dass du in den Wäldern im Moment sicherer bist als hier bei uns. Hast du Angst?“

Darüber dachte Inani einen Augenblick lang nach.

„Nein. Ich freue mich auf den Wald. Meine Kyphra wird bei mir sein, und vielleicht kehrt auch mein Panther an meine Seite zurück, wenn ich ihn rufe.“

Sie hatte ihren zweiten Vertrauten nicht mehr gesehen, seit er sie erwählt hatte. Er lebte nicht in diesen Wäldern, sondern weit entfernt, auf der anderen Seite des Nebels. Das Weibchen scheute vor den anderen Hexen zurück, es war kein Rudeltier, das beständige Nähe brauchte.

Inani ging zurück nach Hause. Einiges wusste sie jetzt zumindest mit Sicherheit: Kythara war auf ihrer Seite, Ylanka war ein bösartiges Geschöpf, das jede Gelegenheit nutzte, Unheil zu stiften und ihre Mutter würde alles tun, um sie zu beschützen.

 Alles Dinge, die ich vorher schon wusste. Was hier passiert ist, und warum, verstehe ich deshalb trotzdem nicht!

 

Das Siuta-Fest, auf das sie sich so gefreut hatte, nahm Inani kaum wahr. Wie alle anderen warf sie ihr Körbchen ins Feuer, versuchte, die Ängste und Sorgen zu verbrennen, so wie es der Sinn dieses Rituals war. Die Plagen des Winters sollten vergehen, das neue Jahr mit Hoffnung, gereinigt von Stillstand und alten Kümmernissen, begonnen werden. Doch sie spürte keine Befreiung, Pyas Segen schien fern. Auch die anderen Hexen wirkten weniger ausgelassen. Ihr Lachen klang weniger fröhlich, die Lieder trauriger, als es hätte sein können. Die Gespräche versanken häufig zu einem Flüstern, unzählige Blicke stahlen sich zu Inani, die abseits auf einem Findling hockte und stumm in das Feuer starrte. Ihr Vertrauter wand sich derweil um ihre Hüfte, durch die Wärme munterer als gewöhnlich.

„Sie ist eine Schönheit“, wisperte eine Stimme hinter ihr. Alanée setzte sich neben sie und strich über den dunkelgrün geschuppten Leib. Es waren die größten Schlangen, die es in ganz Enra gab. Kyphras galten als Würgeschlangen, obwohl sie ein starkes, tödliches Gift besaßen.

„Es ist, soweit ich weiß, noch nie geschehen, dass solche Schlangen zum Vertrauten wurden. Eine solche prachtvolle Belliasma ist mir noch nicht untergekommen.“

Aufmerksam musterte Inani die ältere Frau. Wenn Alanée ein Kosewort aus ihrer Muttersprache verwendete, zeigte das gewöhnlich, wie angespannt sie war.

„Deine Mutter hat sich bereits zurückgezogen, willst du nicht zu ihr gehen?“

„Gleich. Ich will noch ein wenig hier am Feuer bleiben. Meine Feindinnen sollen nicht denken, dass ich mich vor ihnen fürchte.“

„Tapfer gesprochen, doch wenn du hier einsam vor dich hinbrütest, beeindruckt das niemanden.“

„Soll ich etwa tanzen?“, murrte Inani gereizt.

„Natürlich nicht. Geh zu deiner Mutter, sie wartet auf dich. In ein paar Stunden werdet ihr getrennt werden.“

„Was willst du von mir?“

„Mich von dir verabschieden.“ Alanée seufzte tief. „Auch, wenn sich zwischen uns etwas zu ändern scheint, ich werde mich um dich sorgen und an dich denken. Meine guten Wünsche werden dich begleiten.“ Sie beugte sich vor und küsste Inani links und rechts auf die Wangen. „Kehre gesund zurück.“

Inani nickte nur stumm und blickte der schlanken Gestalt nach, als sie sich unter die Feiernden mischte.

„Lügen“, dachte ihr Vertrauter, zischelte dabei drohend.

„Ja. Aber ist alles eine Lüge? Ist die Wahrheit nicht viel gefährlicher? Ist sie meine Feindin?“

Nachdenklich streichelte sie die kühlen Schuppen des geschmeidigen Tieres, stand dann auf. Zeit, zu ihrer Mutter zu gehen und Trost zu suchen.

Und Trost zu geben.