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Apushniad!
Das war ein fürchterliches Wort für einen Krozair. Verräter! Verstoßener!
Aus dem Orden ausgeschlossen.
Ein Mann, dem die Freundschaft verwehrt wurde, ein Mann, verachtet von allen, die einmal seine Kameraden gewesen waren.
Ich, Dray Prescot, war zum Apushniad erklärt worden!
Ich stand im Saal des Urteils. Es war nur ein kleiner Raum für etwa zweihundert Krozairs, die in mehreren Bankreihen vor den Mauern saßen, darüber zahlreiche Banner im Lampenschein, eine schimmernde Masse aus Gold und Rot. Klein war der Saal des Urteils, aus dem Gestein Zys herausgehauen. Klein, weil er so selten gebraucht wurde. Vor langer Zeit hatte ich einmal der rituellen Verbannung eines Krozairbruders beigewohnt. Der Mann war eines Verbrechens angeklagt, das kein Krozair begehen konnte, ohne seine Zugehörigkeit zum Orden zu verlieren. Die Zeremonie hatte damals einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Ich wußte also, was mich erwartete.
Man hatte mir einen weißen Mantel umgehängt, und auf meiner Brust schimmerte das große Symbol des Ordens. An meiner Hüfte hing ein Langschwert in seiner Scheide. Es war kein echtes Krozair-Langschwert, sondern meine Waffe, die Naghan die Mücke mit meiner Hilfe in Valka hergestellt hatte. Ich stand vor meinen Richtern und erinnerte mich nicht mehr, wie ich hierhergekommen war, wie man mich angekleidet hatte, was geschehen war, seit ich die schrecklichen Worte zum erstenmal gehört hatte.
Wenn ich sage, daß ich mich nicht erinnere, was in den Tagen und Nächten geschah, so scheint mir das kein Wunder zu sein. Das Entsetzen bannte mich auf geradezu unmögliche Weise, lähmte mich, beherrschte mich. Die Hoffnung, daß die schreckliche Realität von mir weichen würde, bewahrheitete sich nicht. So stand ich nun meinen Richtern gegenüber.
Auf dem Thron in der Mitte saß der Richter, ein Abt, ein Mann, der kein Erbarmen mit den Grodnim kannte und bei dem niemand der Zair nicht voll unterstützte, auf Gnade hoffen durfte.
Abseits saß auf einem Thron mit Baldachin – Omborthron genannt – der Erste Abt.
Ich hatte ihm einen einzigen verzweifelten Blick zugeworfen, in der Erwartung, meinen alten Freund Pur Zenkiren dort zu sehen.
Doch Pur Zenkiren saß nicht auf dem Omborthron.
Ich kannte den Mann, der dort saß.
Er hatte die Mundwinkel bitter herabgezogen, dieser Mann, dieser Erste Abt. Er, der die Arbeit Pur Zazz' fortsetzte, hielt die Geschicke der Krozairs von Zy in seinen Händen. Ich hatte ihn als rücksichtslosen Krozairkapitän in Erinnerung, als einen Mann, der seinen Ruderer kühn in die Schiffe der Oberherren Magdags rammte. Pur Kazz aus Tremzo – aber er hatte sich verändert. Eine fürchterliche Wunde entstellte die ganze linke Seite seines Gesichts; das linke Auge war verloren, die Höhlung schimmerte rötlich. Die Narbe verzerrte den Mund. Er saß vorgebeugt, die roten Roben eng um sich geschlungen, und ich sah, daß seine Hände zitterten.
Ein Krozairbruder hob eine Schriftrolle.
»Tritt vor, Dray Prescot, Lord von Strombor.«
Ein Langschwert richtete sich auf meinen Rücken. Ich trat vor, in einen gut beleuchteten Stand. Mir war schwindlig. Ich zwang mich, den Kopf zu heben, mich aufzurichten und die breiten Schultern zu straffen. Es fiel mir schwer.
»Ich bin hier!« rief ich. »Und ich verstehe das Ganze nicht! Was ist ...?«
Der Bruder mit der Schriftrolle begann zu lesen, meine Worte übertönend.
Ich lauschte und spürte, wie ich innerlich zu zittern begann. Die schreckliche Bedeutung der Worte legte sich wie eine Riesenlast auf mich, so daß ich das Lenkenholzgeländer packen und mich eine Zeitlang festhalten mußte, während ganz Kregen wie ein Ruderer in einem Rashoon-Sturm rings um mich wankte.
Ich hörte seine Worte – die noch heute bruchstückweise in Alpträumen wiederkehren. Ich hatte das Gefühl, daß keines meiner schrecklichsten Abenteuer, weder mein Marsch durch die Klackadrin noch der Marsch in der Krönungsparade von Königin Thyllis in Ruathytu, mich mehr entsetzte als dieses Ereignis. Der Ausstoß aus dem Orden der Krozairs von Zy traf mich schwerer als alles, was ich bis dahin erlebt hatte – obwohl ich rückblickend sagen muß, daß ich damals wohl noch gar nicht recht zu glauben vermochte, was da mit mir geschah.
Der Ruf war ergangen. Der große Ruf war an alle ergangen, der Azhurad, der Ruf zu den Waffen, der jeden Krozair von Zy zum Kampf für seinen Orden rief. Jeder Krozair von Zy hatte reagiert, wie er geschworen hatte, jeder Bruder hatte sich freudig in den Kampf für Zair gegen Grodno gestürzt, jeder Bruder – bis auf einen.
Nur Dray Prescot hatte sich nicht gemeldet.
»Aber ich wußte nichts davon!« rief ich.
Der Richter beugte sich vor.
»Das ist eine Lüge! Du lebst, also mußt du es wissen!«
Ein Bruder stand zu meiner Rechten. Er war ein junger Mann, dem seine Aufgabe wahrlich nicht gefiel. Aber die Krozairs sind gerecht in ihrem Tun, sie strafen nicht ohne Verfahren, ohne sorgfältiges Abwägen. Dieser Mann, Pur Ikraz, war zu meinem Verteidiger bestimmt worden.
»Es ist richtig, daß jeder lebende Krozair den Azhurad hören muß. Aber ist es nicht möglich, daß Pur Dray auf eine Weise, die wir nicht kennen, den Ruf nicht erhielt?«
»Unmöglich«, sagte der Richter.
Durch das Stimmengewirr hörte ich weit zurückliegende Worte – vor langer Zeit hatte ich Pur Zenkiren und Pur Zazz geschworen, daß ich den Azhurad befolgen würde, wo immer ich mich auf Kregen befinden mochte. Man hatte mir den Vorgang erklärt. Zu meiner Einführungszeremonie gehörte ein Gang ins Innere des Felsens von Zy: in einer riesigen Felshöhle hatte man mir das Azhurad-Horn gezeigt. Damals wußte ich nichts von Radiowellen oder Telepathie; mir war lediglich bekannt, daß das Horn erklingen mußte, sobald der Erste Abt den Riesen-Blasebalg in Gang setzte und durch die unzähligen Löcher des Felsens Luft blies. Der Azhurad brachte Kräfte ins Spiel, die einen Ton um die ganze Welt tragen konnten, einen Widerhall im Schädel jedes Krozairs von Zy. Nur durch die mystischen Zy-Disziplinen, die ich hier nicht näher erläutern kann, wird ein Krozairbruder für den Azhurad empfänglich gemacht, nur wer in den Künsten des Ordens unterwiesen ist, versteht das Signal. Sobald der Krzy den Azhurad empfing, legte er freudig seinen weißen Mantel an, gürtete sein Langschwert und stellte sich mit seinen Krozairbrüdern dem Feind.
Ich umklammerte das Geländer des Zeugenstandes und brüllte in den Lärm: »Und wenn ich den Ruf doch gehört hätte – hier bin ich! Habe ich mich nun nicht doch gemeldet? Ich war auf Kregen unterwegs, weit entfernt vom Auge der Welt. Ich mußte viele Monate reisen, um hierher zu gelangen.«
Ich war bereit, alles zu tun, um das Kommende abzuwenden.
Der Richter legte einen Zeigefinger auf die Lippen. »Hast du den Ruf gehört?«
Ich wollte nicht lügen.
»Nein. Ich habe den Azhurad nicht gehört. Aber ich bin hier!«
»Es steht fest, daß ein Bruder, wenn er lebt, den Ruf nicht überhören kann. Du bist schuldig, wie immer man es sieht: hast du den Ruf vernommen, ohne zu reagieren, mußt du verbannt werden. Hast du ihn aber nicht gehört, kann das nur heißen, daß du nie ein richtiger Krozair von Zy warst. Dein Geist war nicht rein genug, dein Ib blieb besudelt vom Schmutz des täglichen Lebens – so bist du ebenfalls verdammt. Apushniad!«
Ein Gedanke, der meiner nicht würdig war, zuckte mir durch den Kopf. »Mein Sohn Drak! Prinz von Vallia! Er wollte den Krozairs von Zy beitreten! Und mein zweiter Sohn Segnik, der sich jetzt Zeg nennt, er wollte ebenfalls in den Orden!«
Ich konnte nicht weitersprechen. Ich konnte meine Söhne nicht als Alibi vorschieben!
Der Richter zischte die Worte heraus: »Deine Söhne haben auf den Ruf reagiert. Sie kämpften freudig und mutig für Zair! Du aber ...«
»Es geht ihnen gut?«
»Sie sind am Leben. Von ihnen haben wir die Informationen, daß du gar nicht tot bist, wie wir angenommen hatten ... Sie wußten nicht, wo du warst. Der Tod wäre besser für dich gewesen.«
Pur Kazz, der Erste Abt, hob seinen goldenen Stab. Die Anwesenden schwiegen und wandten sich dem Omborthron zu.
»Als du dem Ruf nicht folgtest, Cramph, wurdest du in Abwesenheit verurteilt. Jetzt hast du die Frechheit, winselnd vor uns zu kriechen. Das bestehende Urteil wird vollstreckt. Die heutige Verhandlung ist nur angesetzt worden, um dir, der du an sich keine Rücksicht verdienst, zu zeigen, daß die Krozairs von Zy nicht aus Rache oder Bosheit Recht sprechen, sondern auf der Basis von Gesetz und Ordnung und aus ihrer Liebe zu Zair.«
Ich starrte ihn an. Seine Stimme klang undeutlich. Seine Hände zitterten stärker. Ich hatte ihn als arrogant und mutig und lebensfroh in Erinnerung. Die entstellende Narbe schien auch seine geistigen Fähigkeiten zu beeinträchtigen. Außerdem hatte er mich Cramph genannt, was ein ziemlich böses Schimpfwort war. Kein anderer Ordensbruder hatte sich bisher zu Beleidigungen hinreißen lassen. »Und meine Delia?« brüllte ich. »Die Prinzessin Majestrix von Vallia? Sie ist hier. Ich verlange sie zu sehen!«
»Du hast nichts zu verlangen!«
Die hastigen Worte des Richters gingen in dem Wutschrei Pur Kazz' unter. Ich verstand nicht, was er sagte, und glaube, daß auch die anderen nichts mitbekamen, doch spürten wir alle die düstere Leidenschaft des Zorns, die ihn schüttelte.
»Das Urteil soll vollstreckt werden!«
Pur Ikraz, der mich verteidigen sollte, bat um Milde, doch Pur Kazz schwenkte seinen goldenen Stab und ließ ihn auf den Boden knallen. Mein Verteidiger zuckte zusammen und schwieg.
An die Ereignisse der nächsten Zeit erinnere ich mich nicht sehr deutlich. Nur bruchstückhaft sehe ich Männer, die zu mir kamen und rituelle Worte vor mir aufsagten. Andere rissen die leuchtenden Symbole von meinem weißen Mantel. Dumpf wurde mir bewußt, warum man mir die Kleidung eines Krozairs von Zy angelegt hatte – nur um mir in Schande die Zeichen des Standes wieder nehmen zu können!
Mein Langschwert wurde aus der Scheide gezogen. Ich sah vor mir drei Gestalten in hohen Spiegeln, den Spiegeln des Ib, so arrangiert, daß der Angeklagte sich in seiner Schande sehen konnte.
Als das Schwert leise zischend aus der Scheide glitt, fuhr ich zurück. Ich sah Pur Kazz, der sich auf die goldene Armlehne des Omborthrons stützte. Ich sah die Fackeln und Lampen, die Gesichter der Ordensbrüder, ich hörte den Gesang, mit dem sie das Böse vertrieben. Ich hörte und sah dies alles und erinnere mich an nichts weiter, bis ich mich plötzlich vor meiner Angeklagtenbank wiederfand, das Schwert nach Krozairart gepackt und angehoben. Ich hörte mich brüllen, wilde, fremde, verrückte Worte, die mir über die Lippen sprudelten – und sah den Kreis wachsamer Krozairs, die ebenfalls abwartend die Klingen gereckt hatten, bereit, mich zu vernichten.
Ich sah meine Reflexion in den drei Spiegeln des Ib.
Ein Wahnsinniger blickte mich an. Der breite Riß in meinem weißen Mantel. Das Gesicht: eine Teufelsfratze mit gerunzelter Stirn, zornig verzogenem, häßlichem Mund, das Blitzen der Leemaugen, ein verrücktes Licht darin. Ich sah einen Mann, den ich nicht erkannte.
Dennoch wußte ich Bescheid.
Der Verrückte, der hier im Saal des Urteils das Schwert gezogen hatte, der die Verordnung seiner ehemaligen Ordensbrüder nicht hinnehmen wollte, dieser Mann, in dem die alte unbeherrschte Härte wieder aufgebrochen war, die ich so mühsam unterdrückt hatte, dieser wildgewordene Teufel an einem Ort der Weisheit und des Gehorsams – dieser Verrückte war niemand anderer als ich, Dray Prescot.
Ich ließ das Schwert zu Boden poltern.
»Ihr versteht nicht, warum ich dem Ruf nicht folgen konnte! Wenn ich euch sagte, ich befand mich an einem Ort, wo er mich nicht erreichte, würdet ihr mir nicht glauben. Wenn ich betonte, daß ich meine Mitgliedschaft im Orden von Zy über alles andere stelle auf dieser Welt, würdet ihr mich nur verspotten: nach euren Begriffen habe ich versagt! In Wirklichkeit habe ich nicht versagt. Vielmehr seid ihr im Unrecht, die ihr einem Krozairbruder nicht glaubt ...«
Aber nun konnte ich nicht weitersprechen. Sinnlos zu erwarten, daß sie meine verrückte Geschichte über ein Leben auf einer anderen Welt glauben würden. Diese Menschen konnten sich keine Welt vorstellen, die nur eine Sonne und nur einen Mond hatte, eine Welt, auf der nur Apim lebten!
Dann verließ mich der Verstand völlig.
Ich habe nur noch eine vage Erinnerung an die Szene.
Jemand muß mein Schwert hochgehoben haben. Es hing vor mir in der Luft, die Lampen ließen einen Glanzstern an seiner Spitze aufzucken, die Klinge schimmerte wunderbar gerade.
Das Schwert wurde über die beiden Steine der Verstoßung gelegt. Basaltquader, hart und kahl und unbarmherzig, wirkten sie wie Auswüchse des Felsbodens der Höhle. Das Schwert glühte förmlich im Licht. Ich sah, wie der Hammer der Verstoßung angehoben wurde. Er verharrte einen Augenblick in den muskulösen Händen eines Krozairbruders, dessen Titel und Namen ich hier nicht nennen möchte. Ich sah, wie seine Muskeln zuckten und sich anspannten. Ich wollte zur Seite blicken, brachte es aber nicht fertig. Der Hammer der Verstoßung fuhr herab. Mein Langschwert klirrte einmal hoch und schrill auf wie ein nachhallender Gongschlag, sofort abgelöst vom Krachen brechenden Metalls, dann knallte der Hammer gegen die Steine.
In formlosen Bruchstücken lag mein Schwert am Boden.
Was dann geschah, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich nur ungefähr an der alten Ausschlußverhandlung gegen einen anderen Krozairbruder orientieren. Es ist ein schmerzlicher Vorgang. So schmerzlich, daß ich jenen bedrückenden Schauplatz möglichst schnell verlassen wollte. Ich wurde mit hängendem Kopf abgeführt, und man legte mich in Ketten, aber das war eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme.
Deutlich erinnere ich mich an die giftende Stimme Pur Kazz', des Ersten Abtes der Krozairs von Zy.
»Da geht er hin, der einmal Pur Dray war, Krozair von Zy. Apushniad! Kein Krozairbruder darf die Hand erheben, um ihm zu helfen. Er ist verflucht! Verbannt aus unserer Mitte, so wie sein Schwert zerbrochen und sein Banner verbrannt ist und die Güte unserer Herzen sich von ihm abwendet, Apushniad!«
Es war vorbei.