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Einundzwanzig Jahre!

Einundzwanzig Erdenjahre waren seit meinem letzten Augenblick auf Kregen vergangen. Was war in dieser langen Zeit nicht alles geschehen! Ich muß zugeben, daß ein leises Zittern mich erfüllte, als ich nun aufstand und mich umsah, im Bewußtsein der herrlichen rotgrünen Strahlen Zims und Genodras', ein wunderbares Fanal für meine Zukunft. Ich fühlte mich schwach wie ein neugeborener Ponsho. Mir war, als ob ich schwebte. Das Herz schlug mir bis in den Hals. Ich stampfte den nackten Fuß auf den Boden, in das kurze Gras und atmete mit vollen Zügen die unbeschreiblich erfrischende kregische Luft, Luft wie Champagner, Luft, wie sie sich kein Erdenmensch vorstellen kann. Ich war wieder zu Hause!

Dabei war Kregen eine Welt mit einer größeren Landmasse als die Erde. Mein Zuhause war Valka oder Zenicce oder Djanduin. Wo ich mich in diesem Augenblick befand, wußte ich nicht. Jeder Ort war möglich. Aber das war mir gleichgültig. Solange meine Füße nur wieder dieselbe Welt berührten wie die Delias, solange ich nur nach Hause fliegen oder segeln oder reiten oder wandern oder kriechen konnte, sobald ich die vor mir liegende unbekannte Aufgabe gemeistert hatte – solange ich darauf hoffen durfte, war ich wunschlos glücklich. Ich wollte zu meiner Delia zurückkehren, meiner Delia aus den Blauen Bergen, meiner Delia aus Delphond.

Schon oft war ich nach Kregen zurückgekehrt, doch nur selten war ich so glücklich und dankbar gewesen wie in diesem Augenblick. Ich hatte mich vergessen und ausgestoßen gewähnt. Jetzt war ich wieder hier.

Diese Gedanken zuckten mir mit der Geschwindigkeit eines verschossenen Bogenpfeils durch den Kopf. Als ich aufstand, offenbarten sich mir der Grund für meine Anwesenheit und das Problem, das ich lösen mußte – wie immer, handelte es sich um etwas höchst Unerfreuliches.

Ich war nackt und mußte mich auf die Fähigkeiten des alten wagemutigen Dray Prescot zurückbesinnen.

Ein Stein zischte dicht an meinem Ohr vorbei.

Der Mann mit der Schleuder, ein kleiner, wendiger Bursche, der fast ebenso nackt war wie ich, war aus dem dichten Gebüsch gesprungen. Kampflärm hinter ihm verriet mir, wo etwas los war – ein lautes Klirren und Ächzen, das sich mit dem Geschrei verängstigter Menschen und dem Gebrüll rücksichtsloser Mörder vermengte. Ich näherte mich dem Kerl mit der Steinschleuder.

Es war ein Apim. Sein nächster Stein ging ebenfalls fehl, doch nur weil ich mich geduckt hatte. Der Bursche mochte zu den Leuten gehören, denen ich helfen sollte; vielleicht zählte er aber auch zu meinen Gegnern. Ich wußte es nicht. Aber das Problem kannte ich schon – mit dem einzigen Unterschied, daß ich in diesem Augenblick keinerlei Anhaltspunkt hatte. Ein zweiter Mann tauchte hinter dem ersten auf und schwang dabei eine Schleuder um den Kopf. Sein Stein verfehlte den ersten Angreifer nur knapp; der wandte sich um, lud seine Schleuder und zielte. Als ich ihn erreichte, hatte er seinen Verfolger ins Gesicht getroffen. Der Mann ging schreiend zu Boden. Der Stein hatte ihm ein Auge ausgeschlagen.

Ich packte den gefährlichen kleinen Kämpfer. Ich war lautlos vorgeprescht, so daß er über meinen plötzlichen Zugriff sehr erschrocken war.

»Hör mal zu, Dom«, sagte ich. »Du erzählst mir jetzt alles.«

»Die Sklavenhändler!« rief er und wand sich in meinem Griff. Er versuchte mich zu treten, versuchte zu beißen, versuchte an sein Messer zu kommen. Er trug einen Lendenschurz aus braunem Stoff, dazu einen Beutel für seine Steingeschosse, einen Ledergürtel, ein Messer und an den Füßen staubige Sandalen.

»Sklavenhändler«, sagte ich.

»Sie entführen die Mädchen! Ich muß sie retten, den ...« An diesem Punkt gab er die Gegenwehr auf. Er war noch sehr jung. Seine Stimme sank zu einem Schluchzen herab. »Ich bin geflohen.«

»Dann müssen wir zurücklaufen und sehen, was wir tun können.«

Wenn sich die Herren der Sterne diese Komödie ansahen und nicht mochten, was sie da sahen, konnte ich im Nu für weitere einundzwanzig Jahre auf der Erde landen. Während ich den Jungen am Arm nahm und mit ihm zu den Büschen lief, ging mir der Gedanke durch den Kopf, daß aus meinen Erlebnissen auf der Erde nicht ohne weiteres zu schließen war, die Herren der Sterne hätten mich nun nach Kregen zurückgeholt. Vielleicht hatten diesmal die Savanti ihre Hände im Spiel.

Wir erreichten das Dickicht.

Am Horizont erhob sich eine Gebirgskette; vor uns erstreckte sich eine staubige Ebene. Nirgends eine Spur menschlicher Besiedlung. Hinter den Büschen stießen wir auf einen ausgetretenen Pfad. Weitere Büsche, dann einige vereinzelte Felder. Ein Haus brannte. Ach, diese Szene hatte ich bei meiner Rückkehr nach Kregen schon oft erlebt!

Auf dem Weg waren Mädchen zusammengetrieben und in Ketten gelegt worden. Sie weinten und schluchzten. Ich hatte Mühe festzustellen, wer die Mädchen entführen wollte und wem es darum ging, sie zu retten. Auf den ersten Blick schien zwischen den beiden Gruppen kaum ein Unterschied zu bestehen. Beide trugen braune Lendenschurze, beide setzten Steinschleudern und Messer ein. Es handelte sich um Apim, die blondes bis dunkelbraunes Haar hatten. Hier war also auch kein Unterscheidungsmerkmal zu finden. In diesem Augenblick wäre ich fast von einem Stein getroffen worden. Ich zuckte zur Seite und merkte mir den Mann, der auf mich gezielt hatte.

»Der da«, sagte ich zu meinem Gefangenen. »Ist der Freund oder Feind?«

»Das ist Noki, der war schon immer ein Onker! Der trifft nicht mal auf zwanzig Schritt!«

Offenbar war ich hier in eine private Auseinandersetzung geraten. Noki starrte zu uns herüber und versuchte es noch einmal, was der Junge mit dem Ruf beantwortete: »Halt, du Onker! Der Mann will uns helfen!«

»Ich dachte, du wärst tot, Mako!« rief Noki. »Beeil dich. Sie schleppen die Mädchen zu ihrem Schiff.«

Das ließ mich aufhorchen. Bis jetzt erschien mir die Szene wie eine Parodie auf meine früheren Einsätze für die Herren der Sterne. Die Zeit wurde knapp, denn schon war der größte Teil der Mädchen um eine Wegbiegung verschwunden. Sie waren aneinandergekettet worden und stolperten hilflos vorwärts. Während ich feststellen konnte, welche Männer sie zu befreien suchten, blieb verborgen, wer die Einheimischen niederstreckte.

Ich faßte einen Entschluß.

»Folgt mir!« rief ich.

Ich rannte den Weg entlang und wich dabei etlichen Steingeschossen aus, bis ich an den Mädchen vorbei die Spitze der Kolonne erreichte. Hinter der Wegbiegung schimmerte das Meer, bewegt von einer leichten Brise, wie in Flammen getaucht durch die Zwillingssonne Antares. Ein großes offenes Ruderboot lag am Ufer. Jetzt war ein Irrtum ausgeschlossen.

Ich stürzte mich geradewegs auf die drei Kerle, die an der Spitze der Prozession an den Fesseln zerrten und so die Mädchen in Bewegung hielten. Sie ließen die Ketten los und schleuderten Steine in meine Richtung. Ich duckte mich und schaltete die Männer mit drei kurzen Hieben aus. Wenn man nichts Besseres hat, sind selbst Fäuste gegen eine Klinge ganz nützlich, zumal wenn man bei den Krozairs von Zy den waffenlosen Kampf studiert hat. Was die Größe der Steine anging, so konnten sie einem durchaus den Schädel spalten oder Arme und Beine brechen. Zwei weitere Sklaventreiber, die über mich herfallen wollten, gingen mit blutigen Nasen zu Boden; und die ganze Zeit hüpfte ich herum wie ein tanzender Derwisch und versuchte, mich den Steinschleudern als möglichst unsicheres Ziel darzubieten.

Das Ganze kam mir bemerkenswert albern vor – irreal, als spiele sich hier in Zeitlupe die Wiederholung einer Szene ab, die ich auf viel blutigere Weise schon vor langer Zeit erlebt hatte. Dabei war dies die Wirklichkeit – ich war umgeben von Blut und Geschrei und Leid. Der fehlende Faktor lag einundzwanzig Jahre entfernt von dieser Szene – und in mir selbst.

Was ich vor wenigen Sekunden erst verlassen hatte, kam mir noch immer realer vor als die Ereignisse ringsum. Das Pariser Lazarett, die Kanonen der Deutschen, der Ballon, das viele Blut. Und schon hatte ich wieder Blut an den Händen.

»Sie flüchten ins Boot!« rief Mako.

»Schrei nicht herum!« brüllte ich ihn an und lief an den Strand. »Halte sie auf!«

Ein alter Mann rannte herbei. Ein Messer hatte ihn an der Hüfte verletzt. Er atmete schwer. »Laßt sie doch ziehen!« sagte er keuchend. »Sie bringen nur noch mehr von uns um.«

Ich kümmerte mich nicht um ihn. Dabei war das, was er sagte, ganz vernünftig, denn die Mädchen waren gerettet, und die überlebenden Sklavenhändler hatten offenbar nichts anderes im Sinn, als schleunigst abzulegen und zu verschwinden. Mein Handeln entsprang dem Wahn, daß ich das Boot brauchte. Ich wußte nicht, wo ich war, doch auf jeden Fall mußte ich mich in einer ziemlich entlegenen Gegend befinden.

Die jüngeren Leute waren offenbar gewillt, meinem Vorstoß zu folgen. In einer letzten Auseinandersetzung in der Brandung, die ich zugegebenermaßen nicht bis zum Ende mitmachte – ich zog mich schließlich zurück und überließ meinen Mitstreitern die Szene –, wurden die letzten Sklaventreiber erschlagen. Am Strand waren die Einheimischen inzwischen damit beschäftigt, allen überlebenden Gegnern die Kehle durchzuschneiden, wobei sich die befreiten Mädchen mit besonderer Begeisterung hervortaten. Es war ein widerliches Blutbad. War ich dafür nach Kregen geholt worden?

Schließlich konnte ich zu dem alten Mann zurückkehren, der gerade versorgt wurde; ein Verband aus Blättern lag auf seiner Wunde. Niemand zog eine Sammlung Akupunkturnadeln hervor – ich mußte tatsächlich in der abgelegensten Wildnis gelandet sein. Eine Besonderheit des Lichts ließ mich schließlich aufmerken. Ja. Ja, da oben war nur die große rote Sonne zu sehen. Sie bedeckte die kleinere grüne. In ihrem vierzigjährigen Zyklus hatten sich die Sonnen getroffen, und die eine hatte die andere bedeckt. Ich dachte an Magdag. Was geschah an jenem Tag, da die kleine grüne Sonne vor der roten vorbeizog? War die kleinere Sonne vor dem mächtigen dunkelroten Lichtpunkt überhaupt noch zu sehen?

»Wir schulden dir Dank«, sagte der alte Mann, der sich als Mogo der Weise vorstellte.

Offenbar hatte ich doch das Richtige getan – bis jetzt hatte mich niemand wieder von Kregen abberufen.

Ich blickte mich im Kreise um – die Mädchen waren hysterisch vor Erleichterung, die Männer trösteten sie, und eine Schar alter Männer und Frauen mit Kindern kam aus dem Gebüsch. Ich fragte mich, welchen dieser Menschen die Herren der Sterne vor dem Tod bewahren wollten. Von denen schien wahrhaftig keinem eine entscheidende Rolle auf Kregen vorherbestimmt zu sein. Aber das war nicht meine Sorge. Höfliche Begrüßungsworte mit dem Häuptling zu tauschen, lag mir ebenfalls nicht. Ich schlang mir ein Wildledertuch um die Hüften und bewaffnete mich mit einem Messer, einem primitiven Ding mit Knochengriff und Bronzeklinge, lieblos gemacht. Diese Menschen waren arm.

»Sagt mir, wo diese Insel liegt«, bat ich sie und fügte hinzu: »Ich bin mit meinem Schiff gestrandet und habe die Orientierung verloren.«

Das Kopfschütteln und Lippenschürzen, das nun einsetzte, brachte mich auf die Frage, was diese Menschen wohl sonst mit Schiffbrüchigen anfingen. Waren es gar Kannibalen?

»Nun«, sagte Mogo der Weise und kniff die Augen zusammen. »Dies ist Inama. Das weiß doch jeder.«

In meinem Streben nach Informationen, die mich zu Delia zurückführen sollten, fragte ich mich, welcher Dummkopf diesen Mann nur weise genannt haben mochte.

»Und wo liegt Inama? Wie heißt die Nachbarinsel? Das nächste Festland?«

»Von der nächsten Insel kommen die teuflischen Yanimas. Und andere Inseln von der Größe Inamas oder Yanimas gibt es nicht, nur kleinere. Und was du Festland nennst ...« Er wandte sich zu seinen Leuten um und hob die Hände an die Schläfen, was mit allgemeinem Gelächter quittiert wurde. Es gelang mir mit Mühe, die Beherrschung nicht zu verlieren.

»Kommen hier Schiffe vorbei?«

»Natürlich. Aber nur, um uns zu töten oder uns zu fangen. Sie kommen von den Eisgletschern Sicces. Wenn sie kommen, fliehen wir und verstecken uns. Manchmal lassen sie Dinge hier.« Er hielt mir sein Messer hin. Es war eine Stahlklinge und hatte einen Elfenbeingriff. »Dies ist ein großartiges Messer, es wurde von einem Fremden zurückgelassen.«

Ein Umstand erleichterte mich in meiner gefährlichen Ungeduld: auch hier sprach man von den Eisgletschern Sicces – diese besondere Abart der kregischen Hölle war nicht die einzige, aber wohl die bekannteste.

»Ich nehme das Boot«, sagte ich.

Der Häuptling sah mich zweifelnd an und saugte an seiner Unterlippe. Etliche junge Burschen betasteten ihre Messer. »Ich habe eure Mädchen gerettet«, fuhr ich fort. »Ich möchte euch bitten, mir Wasser und Nahrung ins Boot zu stellen.« Wieder wurden Köpfe gekratzt und Blicke zum Himmel gerichtet. »Bei Vox!« sagte ich. »Sollen die Yanimas eines ihrer Boote hier finden, wenn sie das nächste Mal vorbeikommen?«

Das war eine zweischneidige Äußerung, aber Mogo der Weise verstand sie richtig.

»Das würde sie sehr zornig machen.«

»Und viele von euch müßten sterben. Gebt mir zu essen und zu trinken, dann nehme ich das Boot mit.«

Und so geschah es dann.

Die schreckliche Erkenntnis über die üble Situation, in der ich steckte, ließ mich allerdings nicht los, ging mir immer stärker im Kopf herum, bis ich den Verstand zu verlieren glaubte. Ich war nach Kregen zurückgekehrt, wußte aber nicht, wo ich mich befand. Ich hatte mich verirrt. Zum Transport stand mir nur ein einfaches Ruderboot zur Verfügung. Die Herren der Sterne – wenn sie mich hierhergeführt hatten – wußten ihre Rache wahrlich zu genießen!

Aber ziellos oder nicht, Ruderboot oder nicht – ich wollte losziehen, um Valka und meine Delia zu suchen. Zu den Eisgletschern von Sicce mit den Everoinye!