19
»Majister?« Brannomar senkte das Schwert nicht. »Was soll der Unsinn?«
»Eines solltest du unbedingt wissen, Kov«, sagte Elten Larghos mit stählerner Stimme. »Falls du den Versuch unternehmen solltest, diesen Ehrenmann zu verletzen, werde ich dich töten, und zwar sofort und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.«
Brannomar sah ihn an, und es war ziemlich offensichtlich, daß er Larghos noch nie in diesem bedrohlichen Tonfall hatte sprechen hören.
»Immer mit der Ruhe«, sagte ich. »Lahal, Larghos. Für Freunde gibt es keinen Grund, gegeneinander zu kämpfen.«
»Majister!« stotterte Brannomar. »Was zum Teufel geht hier vor?«
»Hyr Kov Brannomar«, sagte Elten Larghos in seinem normalen diplomatischen Tonfall, »du hast die Ehre, dich in Gegenwart von Dray Prescot aufzuhalten.«
Brannomar öffnete den Mund, schloß ihn wieder, ging mit dem Schwert zu seinem Sessel und setzte sich. Nun ja, eigentlich ließ er sich hineinfallen. »Dray Prescot! Herrscher von Vallia!« Und dann wurde ihm natürlich plötzlich das Ausmaß des Desasters bewußt, das seine Pläne zunichte gemacht hatte, wie er nun glaubte. »Du hast alles gehört!«
Larghos ignorierte den Kov und fragte: »Alles in Ordnung, Majister?« Er musterte meine staubige Kleidung und die Spinnweben in meinem Haar. Da es auf Paz unzählige Bücher, Bühnenaufführungen und Puppenspiele über Dray Prescot gibt, in denen er ununterbrochen mit rotem Lendenschurz und Krozairschwert in der Faust in ganz Kregen unterwegs ist, überrascht es kaum jemanden, wenn ich unvermutet an den entlegensten Orten auftauche – so wie in diesem Augenblick. Nach dem ersten Schreck wunderte sich Larghos überhaupt nicht mehr über meine Anwesenheit; ihn interessierte angesichts meines beklagenswerten Zustands nur die Frage, ob mit mir alles in Ordnung war.
»Alles bestens, danke, Larghos. Ich glaube, wir sind dem guten Kov hier ein paar Erklärungen schuldig.«
Betrachtete man die ganze Situation einmal von einem objektiven Standpunkt aus – was natürlich unmöglich war –, erschien sie natürlich völlig unwirklich. Hier war ein großer und mächtiger Adeliger, der nichts Böses ahnend in seinem Gemach in seinem Palast saß und plötzlich mit einer staubigen und mit Spinnweben behangenen Gestalt konfrontiert wird, die sich aus der Wand auf ihn stürzt. Dann entpuppt sich dieser Wahnsinnige als der frühere Herrscher des Landes, mit dem der gute Kov so verzweifelt ein Bündnis schließen will. Kein Wunder, daß Brannomar plötzlich so verhärmt aussah.
Der vallianische Konsul in Tolindrin sah mich mit einem schiefen Lächeln an. »Aye, Majister. Ich bin nur gekommen, um ein paar lose Enden zu verknüpfen, die es noch in dem Abkommen gibt. Doch jetzt werde ich wohl noch eine ganze Menge mehr wissen müssen, bevor ich im Namen von Herrscher Drak und Herrscherin Silda und Vallia unterzeichne.«
»Allerdings, und das gilt auch für mich. In Oxonium werden Intrigen geschmiedet. Über einiges weiß ich Bescheid, und vieles kann ich mir denken. Das meiste ist ziemlich offensichtlich. Doch es gibt noch ein oder zwei Dinge von außerordentlichem Interesse.« Ich wandte mich direkt an die Gestalt, die zusammengesunken am Tisch hockte. »Brannomar! Reiß dich zusammen, Mann!«
»Dray Prescot!« flüsterte er wieder, halb im Selbstgespräch. Natürlich hatte er die Bücher über diesen wilden Teufelskerl Dray Prescot gelesen!
Larghos verhielt sich in seiner Funktion als Konsul recht diplomatisch und goß dem Kov ein Glas Parclear ein. Brannomar nahm es, trank und stellte das Glas direkt vor sich hin. Er sah auf. Man konnte zusehen, wie er zu seiner Selbstbeherrschung zurückfand. Ein Teil jener harten Entschlossenheit kehrte zurück.
»Ich glaube dir, daß du Dray Prescot bist. Du weißt nun, wie wichtig das Abkommen für uns ist. Ich stehe im Dienste Tolindrins. Ich könnte die Wachen herbeirufen, und man würde weder von dir noch von dem vallianischen Konsul jemals wieder etwas hören ...«
Elten Larghos machte sich nicht die Mühe, Rapier oder Main-Gauche zu ziehen. »Aber du würdest der erste Tote sein, Kov«, sagte er beiläufig.
»Was soll diese Prahlerei, Elten? Glaubst du etwa, ich würde, anders als du, vorher überlegen, welchen Preis ich für meinen Dienst an König und Vaterland zu bezahlen habe?«
Ich seufzte. »Ich könnte jetzt etwas zu trinken gebrauchen, Brannomar. Außerdem ist dein König tot.«
Sein Kopf fuhr in die Höhe. Dann bleckte er die Zähne. »Du hast uns zugehört. Es war nicht schwer zu verstehen, was da eigentlich vor sich ging.«
»Das stimmt. Es wird erwartet, daß sich der greise König beim Fest von Beng T'Tolin dem Volk zeigt, also mußt du bis dahin einen neuen König haben.«
»Und ausgerechnet du mußtest derjenige sein, der uns das Testament des Königs bringt!« Er schüttelte den weißhaarigen Kopf. »Nun, du weißt ja, daß sich das Testament nicht in Strom Kordens Schwert befand. Der Thronfolger ist nicht bekannt. Der König hat Cymbaros Priestern vertraut, und sie haben ihn verraten.«
»Hätten sich die vielen Thronbewerber dem Willen des Königs unterworfen?«
»Ja.«
»Und du hast nicht die geringste Idee, wen er ausgesucht haben könnte, Kov?«
»Nein.«
»Was für ein Durcheinander! Ich vermute, Lady Vita hat die Seiten gewechselt?«
Er war weit über den Punkt hinaus, an dem ihn neue Enthüllungen darüber, was von den Intrigen, die Oxonium vergifteten, bekannt war, hätten überraschen können. »Lady Vita ist eine temperamentvolle Dame, vielleicht zu temperamentvoll. Ich habe sie abgewiesen und diese Entscheidung nie bereut. Der arme Jazipur hat einen schlechten Handel gemacht. Ihr Verrat wurde von Naghan dem Ordsetter entdeckt. Welche Ironie, daß Jazipurs Meisterspion die Frau seines Auftraggebers überführt. Ihre Pläne waren meisterhaft, das muß man ihr lassen.«
Mir kam die Idee, den Eindruck, den er von Dray Prescot hatte, mit Hilfe einer durchtriebenen Prahlerei noch zu verstärken. Zu meiner Verteidigung muß ich sagen, daß das nicht aus pompösem Stolz geschah, sondern aus reinem Kalkül.
»Ich habe Lady Vita in Khonstantons Palast gesehen.«
Ihn schien nichts mehr erschüttern zu können. »Sie hat eine Enkelin. Sie hat Khonstanton von dem im Schwert verborgenen Testament erzählt. Dafür hat sie ihm das Versprechen abgenommen, daß sein Sohn ihre Enkelin heiratet. Vita hat absolute Macht über ihre Kinder und Enkel.«
»Daher hat dieser Teufel es also gewußt. Nach dem zu urteilen, was ich von Khon Mak gesehen habe, war sie eine Närrin, seinem Wort zu vertrauen.«
»Der Ehrgeiz hat sie verblendet.« Er machte eine müde Geste. »Ihr Enkel sollte Prinz Ortygs Tochter heiraten, die noch im Kindesalter ist ...«
»Bei Krun!« rief ich. »So hat sie den einen gegen den anderen ausgespielt! Egal, wer schlußendlich der Erbe gewesen wäre, sie glaubte, im Hintergrund die Macht ausüben zu können.«
»Ortyg hat diesen Fristle, Fonnell den Reizbaren, und seine olivgrün gekleidete Mörderbande bezahlt. Er hat geglaubt, niemand könnte ihn damit in Verbindung bringen, weil ...«
»Er hat einen Bravo-Kämpfer aus Zenicce als Mittelsmann benutzt.«
O ja, alles fügte sich nun zusammen. Welche Chancen Nandisha inmitten dieses Durcheinanders hatte, konnte ich nicht sagen. Sie schienen jeden Moment mehr dahinzuschwinden. Dann fügte Brannomar ein weiteres Puzzlestück hinzu.
»Prinz Tomendishto hat Pläne, die den Schrein von Cymbaro betreffen. Er interessiert sich nicht für den Thron. Ich glaube ihm.«
»Und falls der König Prinz Tom die Krone hinterlassen hat?«
»Ich weiß auch nicht. Es war Tom, der den König für Cymbaro interessiert hat. Als der Sohn des Königs gestorben war, wollten sie aus Gründen der Sicherheit und der Geheimhaltung, daß die Priester das neue Testament nehmen und in Farinsee bewachen.«
Aus dem, was ich aus der Entfernung hatte erkennen können, schien es sich bei Farinsee um eine wichtige Festung zu handeln, die man auf dem seltsamen Berg errichtet hatte, der so sehr an den Ayer's Rock erinnerte. Selbst wenn die Priester und ihre Wachen nur mäßig geübte Kämpfer waren, hätte man ein paar gute Regimenter und Pioniere gebraucht, um diesen Ort einzunehmen.
»Man vertraute Strom Korden das neue Testament an, in dem der Thronerbe benannt wurde. Dann starb der König plötzlich, und das Testament mußte vollstreckt werden. Es mußte sofort nach Oxonium gebracht werden.« Er breitete hilflos die Hände aus. »Du selbst bist Zeuge geworden, was Lady Vitas schlimmer Verrat als erstes angerichtet hat, Dray Prescot.«
»Ja«, sagte ich in einem häßlichen Tonfall. »Gute Männer und junge Mädchen, die sterben mußten.«
»Und kein Testament«, sagte Larghos, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte.
»Kein Testament, kein Erbe, also Bürgerkrieg«, sagte Brannomar teilnahmslos.
In das bequeme Arbeitsgemach im Herzen des mächtigen Palastes kehrte Schweigen ein. Die Unvermeidbarkeit dessen, was der Hyr Kov prophezeit hatte, lastete auf uns allen. Larghos räusperte sich und sagte: »Dann wird das Abkommen zwischen Vallia und Tolindrin nicht Zustandekommen.«
Brannomar schaute müde auf; die Narbe war fast unsichtbar. »So scheint es. Doch ich bitte dich inständig, dir das noch einmal zu überlegen ...«
»Das ist nicht meine Entscheidung«, sagte ich. »Vallia wird dank Opaz nun von meinem Sohn Drak und seiner Gemahlin Silda geführt. Aber sie sind vernünftige Menschen.«
Larghos nickte ernst. »Sollte in Tolindrin ein Bürgerkrieg ausbrechen, kann Vallia nicht davon ausgehen, viel Baltrixe, Seide oder Schweber geliefert zu bekommen.«
»Und wir brauchen neben anderen Handelsgütern dringend gute vallianische Waffen.« Der Hyr Kov breitete wieder die Hände aus.
»Und da gibt es noch einen anderen häßlichen Aspekt bei der ganzen Angelegenheit«, sagte ich scharf, da ich bei dem Thema in Wut geriet. »Zusätzlich zu dem Diebstahl von Kordens Schwert hat es Anschläge auf Prinzessin Nandisha und ihre Kinder und auf Prinz Tomendishto gegeben. Opaz allein weiß, wie sie es bis jetzt geschafft haben, dem Tod zu entkommen.«
Diese Information schien Brannomar aufzurütteln. Er stand auf. »Ich versichere dir, Majister, daß die Dinge in Tolindrin gewöhnlich nicht auf diese Weise geregelt werden. Zumindest nicht in den Tagen des greisen Königs.«
»Doch nun ist es an der Tagesordnung.« Unter Larghos' diplomatischer Art kam jetzt der vallianische Kämpfer zum Vorschein. »Das Vertrauen ist dahin.«
Ich erinnerte mich an die Schwierigkeiten, die die arme Nandisha und ihre Kinder hatten durchmachen müssen. Soweit es die Herren der Sterne anging, hatte meine unmittelbare Sorge nicht ihnen zu gelten. Trotzdem ... »Ich habe keinen Zweifel, daß es Khon der Mak oder Ortyg wieder versuchen werden. Mir würde es gefallen, wenn ihre Pläne durch die Bemühungen dem Reich treu ergebener Tolindriner zunichte gemacht würden. Was nun die Thronfolge angeht, wäre es nicht schlecht, wenn Nandishas Zwillinge – also der Junge – zum Thronfolger benannt würde und du bis zu seiner Volljährigkeit die Regentschaft übernähmest, Brannomar.«
»Allein der König darf den Nachfolger bestimmen.«
»Ja, aber ...«
»So ist das nun einmal, Majister. Wenn wir das Testament nicht finden, wird der Thronerbe durch einen Krieg bestimmt werden.«
Bei den verlausten Haaren und wurmzerfressenen Eingeweiden Makki-Grodnos! Am liebsten hätte ich mich meiner Verpflichtung den Numim-Zwillingen gegenüber, mit deren Schutz Fweygo und ich beauftragt worden waren, entledigt und wäre dann schnurstracks nach Esser Rarioch geeilt, in die Heimat. Diese ganzen Ränke ließen meinen Kopf dröhnen.
Die Erwähnung des Testaments ließ Brannomar nicht zur Ruhe kommen. Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wenn wir bloß das Testament finden könnten! Strom Korden muß es gut versteckt haben. Es befand sich nicht im Schwert. Also, wo in Tolaars Namen ist es dann?«
Elten Larghos trat vor. Er war Angehöriger der vallianischen Befreiungsarmee gewesen, ein Freiheitskämpfer in der Zeit der Unruhen. Jetzt war er Diplomat. Seine Gedanken bewegten sich nun in anderen Bahnen. »Majister«, sagte er leise. »Du warst dabei. Was hat Strom Korden zu dir gesagt? Ich möchte den genauen Wortlaut wissen.«
Ich rief mir den schrecklichen Anblick auf der Landstraße nach Amintin zurück ins Gedächtnis. Die erschlagenen Männer, die Mädchenleichen, das Blut und der Gestank. Und die junge Tiri, die sich zitternd hinter der Kutsche verbarg. Was hatte der Sterbende gesagt?
»Es war nur schwer zu verstehen. Sein Mund war voller Blut. Er sagte: ›Strom Korden. Lahal. Nimm das Schwert und übergib es Hyr Kov Brannomar. Schwöre es im Namen Cymbaros des Gerechten.‹«
»Das war alles, Majister?« hakte Larghos nach.
»Aye, Larghos. Das war alles. Einige der Worte hat er in dem verzweifelten Drang wiederholt, seinen Auftrag doch noch zu erledigen.«
»Nimm das Schwert und übergib es Hyr Kov Brannomar.«
»Das waren seine Worte. Und genau das habe ich nach ein paar Umwegen getan.«
»Und er lag die ganze Zeit über im Sterben? Konnte immer nur ein paar Worte sagen?«
»Genau.«
Und da begriff ich auf einmal. O ja, im nachhinein ist es immer ganz leicht. Im nachhinein versteht man immer mit erstaunlicher Klarheit, was einem die ganze Zeit über verborgen geblieben war. Zweifellos ringen Sie, die Sie sich meine Erzählung angehört haben, während sich die Spulen der Tonbandkassetten langsam drehen, schon die ganze Zeit über wegen meiner Blindheit verzweifelt die Hände. Nun, zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, daß ich die ganze Zeit über damit beschäftigt gewesen war, mich zu ducken und zur Seite zu springen, um den vielen Schwerthieben zu entgehen und den Kopf nicht von den Schultern zu verlieren – von den Köpfen anderer ganz zu schweigen, bei Krun! Jetzt war alles so offensichtlich. Der arme Strom Korden, der in dem schrecklichen Bewußtsein sterben mußte, bei seiner Mission für den König versagt zu haben, hatte es sich nicht leisten können, kostbare Worte zu verschwenden. Und so hatte er mit dem letzten Atemzug noch versucht, dem fremden Kämpfer, der sich über ihn beugte, die ungeheure Wichtigkeit einzuhämmern, die diese Mission für ganz Tolindrin hatte.
»Nimm das Schwert und übergib ...«, hatte er noch hervorstoßen können. »Nimm das Schwert, und zwar mitsamt ...«
Weiter war er nicht gekommen. Ich wußte, was er noch hatte sagen wollen. Jetzt wußte ich es.
Sollte das Testament Khon dem Mak oder Ortyg in die Hände fallen, würden sie es ohne zu zögern vernichten, falls ihr Name dort nicht verzeichnet war. Oder sie würden das Testament, was noch wahrscheinlicher war, zu ihren Gunsten fälschen. Die nötigen Leute, für die so etwas ein Kinderspiel war, standen zu ihrer Verfügung. Für Gold zu fälschen ist nicht nur auf der Erde weit verbreitet. Wie dem auch sei, falls das Testament verschollen blieb und man seinen Inhalt nicht öffentlich verkündete, würden die beiden Rivalen ihre Intrigen fortsetzen, und zwar bis zu dem Augenblick, in dem der Krieg ausbrach. Das durfte man nicht zulassen – nicht nur um Vallias, sondern auch um Tolindrins willen.
Mein Gesicht fühlte sich maskenhaft starr an, als hätte man es in hart werdenden Gips getaucht. Keiner dieser turbulenten Gedanken zeigte sich in meinem Ausdruck. Larghos sah mich noch immer stirnrunzelnd an. Und was Kov Brannomar anging, so war dieser noch immer in seinem eigenen inneren Aufruhr gefangen und quälte sich mit dem Gedanken, wo das Testament abgeblieben war, während ihn die Aussicht, was mit seiner Heimat passieren würde, mit Entsetzen erfüllte. In seiner Konzentration hatte er unser Gespräch gar nicht bewußt wahrgenommen, und nun sprach er einen Punkt an, den er im Moment für den wichtigsten hielt. Ich war da anderer Meinung, doch ich widersprach ihm vorerst nicht.
»Majister. Ich verstehe, daß das Testament sowohl für die vallianischen als auch für die tolindrinischen Interessen von entscheidender Bedeutung ist. Tolaar weiß, es muß gefunden werden. Doch du, du agierst hier unter dem Namen Drajak der Schnelle, und ich habe genug über Dray Prescot gelesen, um das verstehen zu können. Wirst du dich nun als Herrscher zu erkennen geben und Tolindrin das Abkommen verweigern?«
»Mein Sohn Drak ist jetzt Herrscher von Vallia. Wie du weißt, nennt man mich den Herrscher aller Herrscher, den Herrscher von Paz. Nun, darüber werden wir uns später unterhalten. Im Augenblick möchte ich Drajak der Schnelle bleiben. Ich möchte, daß du das nicht vergißt, Brannomar.« Die letzten Worte hatte ich mit aller Schärfe gesagt.
»Drajak der Schnelle. Natürlich, Majister.«
Larghos, der mich noch immer anstarrte, sagte: »Sehr gut, Majister.« Er rückte die Schwertgürtel zurecht. »Gehen wir und holen dieses verflixte Testament, damit dieses ganze Durcheinander endlich zu Ende ist, bei Vox!«
»Elten?« fragte Brannomar, der plötzlich gar nichts mehr verstand.
»Oh«, sagte ich, und meine Lippen verzogen sich zu einer Art Lächeln. »Ich möchte nicht, daß Larghos jetzt vor Stolz kaum laufen kann. Doch man hätte ihn kaum zum Mitglied des Diplomatischen Dienstes von Vallia gemacht, wäre er schwer von Begriff.« Ich hatte sowieso nicht vorgehabt, mich weiter darüber auszulassen, doch jedes weitere Wort wurde von dem Dröhnen abgeschnitten, mit dem die heftig aufgestoßene Tür gegen die Wand prallte. Eine seltsame, zusammengekrümmte Gestalt trat ein, die scheinbar in einen Haufen Lumpen gekleidet war und wild mit einem Morntarch herumfuchtelte.
»Schwester«, sagte Brannomar ungerührt. »Du triffst uns in einem unpassenden Moment an. Ist es wichtig?«
Unter der hoch aufgetürmten und zerzausten Haarpracht war ein weibliches Gesicht zu erkennen. Die strahlenden Augen schienen nach innen zu blicken, die spitze Nase schnupperte ununterbrochen, und die Lippen – deren Schwung große Ähnlichkeit mit Brannomars Mund hatte – waren fest aufeinandergepreßt. Sie beachtete uns nicht weiter. Sie schlich durch das Gemach und schüttelte dabei den Morntarch. Der Stab war mit Bändern umwickelt, und an seiner Spitze hingen nur drei kleine Totenschädel an Seidenfäden. Sie verursachten dieses unheimliche, klappernde Geräusch, dem vermutlich nur die Zauberer etwas entnehmen können, die einen Morntarch für ihre Thaumaturgie benutzen. Sie roch nach Lavendelwasser, das sie allerdings etwas zu großzügig benutzt hatte.
Sie ging einmal in dem Gemach herum. Larghos und ich blieben reglos stehen. Die meisten Kreger sind überaus vorsichtig, wenn sie es mit einem Vertreter der arkanen Künste zu tun haben. Brannomars Narbe hob sich pulsierend von der gebräunten Haut ab. »Besti!« sagte er scharf. »Schwester!«
Die Zauberin ignorierte den Hyr Kov einfach und sah in jede Ecke. Ich fand die Atmosphäre in dem Gemach plötzlich unglaublich bedrückend. Brannomar biß sich in die Wange; er enthielt sich jeder weiteren Bemerkung. Als die seltsame weibliche Erscheinung anscheinend mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen zufrieden war, widmete sie Brannomar einen langen, berechnenden Blick.
»Du bist schon immer ein leichtgläubiger Fambly gewesen, Bran.« Sie fuchtelte ihm mit dem Morntarch vor dem Gesicht herum, eine zugleich ärgerliche und resignierte Geste. »Doch deine Leichtgläubigkeit erstreckt sich leider nicht auf die Gebiete, auf denen sich deine geliebte Zwillingsschwester betätigt ...«
»In Tolindrin sind die Ansichten des Königs maßgebend, Besti. Du und deinesgleichen werden nur so lange geduldet, wie ihr euch benehmt. Kein Zauberer darf ...«
»Nun, Bruder, ich tue es aber! Ich weiß, daß der König tot ist. Und andere wissen es auch. Du schwafelst hier herum, und dieser rückgratlose, feige Zauberer Wocut, den man nach Sicce schicken sollte, hört die ganze Zeit über mit. Er hat eindeutige Spuren hinterlassen.«
»Drajak, Wocut ist ein Zauberer in Diensten von Khon dem Mak«, sagte Larghos sofort. »Er soll über große Macht verfügen ...«
»Ha!« spie diese bemerkenswerte Hexe Besti aus. Wider Erwarten war ihre Stimme nicht schrill. Sie erinnerte eher an das Wassergeplätscher an Stromschnellen. »Macht, die er dem leichtgläubigen San Nath dem Weitsehenden geraubt hat.«
Dieser Wocut mußte der Zauberer sein, den ich zusammen mit Khonstanton und dem dicken Seneschall gesehen hatte. Falls er zugehört hatte – welchen Schaden konnte er schlimmstenfalls anrichten? Larghos sagte: »Sie haben nicht die Macht eines Zauberers aus Loh – nun, wer hat die schon? –, doch man sollte sich vor ihnen in acht nehmen, Drajak.«
»Schön, dich kennengelernt zu haben, Sana Besti«, stieß ich hervor. »Los, komm schon! Zur Wachstube, Larghos! Brannomar – sag deinen Wachen Bescheid, daß wir unterwegs sind.«
Der Hyr Kov sprang von seinem Sessel auf und lief uns zur Tür nach. »Verdammt, wartet auf mich!« rief er.
So ist's schon besser, sagte ich mir. Er weiß wieder, daß er ein Kov ist.
Die ersten Wachen, die sich unserem Lauf in den Weg stellen wollten, stießen wir einfach zur Seite. Doch da rief Brannomar auch schon stimmgewaltig seine Befehle, und ein Hikdar schloß sich uns an. Nun gab es keine Unterbrechungen mehr.
Wir erreichten die Wachstube der Palastwache. Ich stürmte hinein und hielt sofort auf die Stelle zu, an der ich die Mahlzeit zu mir genommen hatte. Ein gemütlich aussehender Apim, dessen Fettleibigkeit die Eisenbänder seiner Rüstung einer ganz schönen Belastungsprobe unterzog und der sich gerade Palines in den breiten Mund stopfte, stotterte protestierend, als ich ihn kurzerhand von der Bank zerrte. Meine Hand schoß in die Spalte zwischen Sitz und Rückenlehne. Da hatte ich das verdammte Ding hineingestopft. Meine Finger ertasteten Staub, Brotkrümel, ein Stück schimmeligen, grünen Käse, etwas widerlich Klebriges – und sonst nichts. Verzweifelt zwängte ich die Hand tiefer und fing an, das Holz wegzureißen. Meine Bewegungen wurden immer hektischer, bis ich schließlich die Bank in ihre Einzelteile zerlegt hatte. Nichts!
Ich hatte es in der Nacht, in der ich mich in die Gräben gewagt hatte, genau an dieser Stelle zurückgelassen. Bei den behaarten, pendelnden Brüsten der Heiligen Dame von Belschutz! Warum mußte ich mich immer in diese teuflischen Machtkämpfe verstricken lassen? Man hat mich im Verlauf meiner unbeständigen Karriere auf Kregen oft genug als Onker beschimpft, und tatsächlich war ich der Onker aller Onker. Ich schaute mich wild um, obwohl ich genau wußte, daß das verdammte Ding nicht da war. Hikdar Tygnam ti Fralen hatte die Wachstube betreten und sprach mit Kov Brannomar. Brannomar nickte und sagte: »Drajak. Strom Kordens Besitztümer wurden alle in seine Villa gebracht.«
Als ich diese Information verdaute, traf mich eine neue und schreckliche Erkenntnis wie ein Blitzschlag.
»Diese beiden verschlagenen Schurken! Wenn wir darauf kommen, können sie es auch. Und ich habe zu lang dafür gebraucht.« Mittlerweile war ich so tief in diese Angelegenheit verstrickt, daß ich den verzweifelten Wunsch hatte, sie endlich hinter mich zu bringen. Falls die Herren der Sterne zu dem Schluß gelangten, daß ich meine Verpflichtungen ihnen gegenüber vernachlässigte, konnte es passieren, daß ich im nächsten Augenblick haltlos durchs Nichts zurück zur Erde taumelte. »Wo ist Kordens Villa? Ich muß sofort dahin, bevor sie da sind.«
Brannomars Schwester, die Hexe Besti, legte eine Hand auf meinem Arm. »Ja, sie wissen genug, um zur Villa des Stroms zu gehen. Du wirst zu spät kommen ...«
»Ich muß es versuchen!« Ich schrie sie fast an.
»Es gibt einen Weg. Ich kann ...«
Brannomar zuckte gewaltig zusammen. Seine Narbe leuchtete, als wäre sie ihm eben erst in die Haut gebrannt worden. »Besti! Du kennst den Erlaß des Königs. Und es wird dich sämtlicher Kräfte berauben ...«
»Der König wird nicht einschreiten können, Bruder. Der Preis ist das Ergebnis wert. Dieser – Drajak – ist der Mann.«
Durch meine Erfahrungen mit den zauberischen Künsten Deb-Lu-Quienyins und dem Kolleg der Magier konnte ich mir denken, wovon Besti sprach. Ich starrte sie an und versuchte den Eindruck ernster Entschlossenheit zu verbreiten. Dabei muß ein Hauch des alten Dray Prescot-Teufelsblick in meinem Gesichtszügen aufgeblitzt sein, denn sie hob unwillkürlich den Morntarch und schüttelte ihn einmal. Die Totenschädel stießen aneinander.
»Ich verstehe, meine Dame. Bitte beeil dich.«
»Ja. Du bist tatsächlich der richtige Mann dafür. Aber kennst du auch die Gefahren?«
»Ja. Ich habe schon mit den Zauberern aus Loh zu tun gehabt.«
Ihre Augen weiteten sich, als sie das hörte. Ich hätte sie am liebsten vor Ungeduld gepackt und heftig geschüttelt.
Sie leckte sich die Lippen. »Du wirst verwirrt sein ...«
»Um deines Bruders willen, um Tolindrins willen. Sana Besti – tu es!«
Sie schloß die Augen und hob die Arme. Die Totenschädel des Morntarchs klapperten wie wild – und die Welt um mich herum versank.