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18Talaith zog die Zügel ihres Pferdes an und brachte das riesige Tier zum Stehen. Sie konnte nichts anderes tun als zu starren.
»Was ist los?«, fragte Izzy, die sich um ihre Mutter herumlehnte, um zu sehen, warum sie angehalten hatten. Sie hatten nicht genug Pferde für alle, daher saßen einige zu zweit auf einem. Talaith machte es nichts aus. Seit fünf Tagen hatte sie ihre Tochter nun genau da, wo sie sie immer haben wollte … an ihrer Seite.
»Schau. Die Burg der Insel Garbhán.«
»Oh.« Ihre Tochter sah hin. »Sieht ganz nett aus.«
Talaith lächelte. »Du hast viele Burgen gesehen, was?«
»Ein paar.« Izzy zuckte die Achseln. »Ziegel und Steine beeindrucken mich nicht – eher die Leute darin.«
»Du bist schrecklich … nachdenklich für ein Mädchen, das gerade einmal zehn und sechs ist.«
»Ich hatte in den letzten Jahren nicht viel mehr zu tun als zu denken und zu lesen.«
»Tja, es gibt schlimmere Arten, wie du deine Zeit hättest verbringen können.« Vor allem für jemanden, der kaum Luft holte, ohne zu sprechen. »Wir sind nur dank Annwyls Gunst hier.«
»Anders ausgedrückt: Lüg und sag ihr, dass ihr Schloss phantastisch aussieht.«
»Genau.«
Damit ritten sie weiter, und Talaith schloss sich dem Rest der Elitegarde an. Sie sahen alle erschöpft und müde von ihrer Reise aus, und Talaith wusste, dass sie sich danach sehnten, nach Hause zu kommen.
Es waren fünf harte Tage gewesen, die sie pausenlos geritten waren, und Nächte, die sie auf dem kalten, harten Boden geschlafen hatten. Annwyl ließ sich ihr Zelt gar nicht mehr aufstellen. Stattdessen ritten sie schon bei Sonnenaufgang weiter.
Jetzt, wo es nicht mehr weit war, hob sich aber die allgemeine Stimmung. Zwei Stunden später ritten sie in die Stadt, und sobald die Bewohner Annwyl und ihre Männer entdeckten, erhob sich Jubel, und die Leute liefen herbei, um sie zu begrüßen.
Mit hochrotem Kopf nahm Annwyl die Blumen entgegen, die ihr überreicht wurden, schüttelte ein paar Hände und lächelte Babys an. Doch sie hielt nicht an. Bald arbeiteten sie sich durch die Menschenmenge hindurch und erreichten die massiven Tore der Burg von Garbhán.
Während der Regierungszeit von Annwyls Bruder war die Insel Garbhán ein Ort des Schreckens gewesen. Von denen, die hierhergebracht wurden und die nicht von königlichem Blut waren, hörte man nie wieder etwas.
So war es jetzt nicht mehr. Die Burg selbst war strahlend weiß und mit Silber abgesetzt. Die Burganlagen waren sauber, und an den äußeren Mauern des Hofes waren überall Blumen und Bäume gepflanzt.
Annwyl hielt ihr Pferd im Hof an. Stirnrunzelnd sah sie sich um. Talaith wusste nicht, ob sie etwas sah, das ihr Missfallen erregte, oder ob sie etwas suchte.
Kopfschüttelnd und seufzend stieg Annwyl ab. »Talaith, ich habe gestern meinen Boten vorausgeschickt und Gemächer für dich, Izzy und ihre Beschützer herrichten lassen.«
Überrascht sahen Talaith und die Männer einander an. Achaius sprach wie immer für alle drei Männer: »Köni…« Auf Morfyds rasches Kopfschütteln hin korrigierte er sich: »M’lady, für unsereins genügen Ställe vollkommen.«
Annwyl schnaubte. Das schien ihre Version eines Lachens zu sein. »Das ist inakzeptabel, Gentlemen. Ihr werdet alle eure eigenen Zimmer und frische Kleidung bekommen.« Sie wandte sich zu Achaius und den anderen um: »Ihr habt eure Pflicht getan, Männer. Und ihr habt sie gut getan. Ihr verdient jetzt Ruhe und Frieden.«
Sie zog die Satteltaschen von ihrem Pferd. »Abgesehen davon könnte ich loyale Männer wie euch an meiner Seite gebrauchen, falls ihr interessiert seid.« Stammelnd versuchte Achaius zu antworten, aber Annwyl schnitt ihm mit einer erhobenen Hand das Wort ab. »Ihr müsst mir nicht sofort antworten. Ich weiß nicht, was ihr Männer zurückgelassen habt. Aber wenn ihr bleiben wollt, gibt es hier einen Platz für euch. Falls nicht, werdet ihr nicht mit leeren Händen gehen.«
Zu verblüfft, um noch etwas zu sagen, stiegen die Beschützer von ihren Pferden und begannen, das Gepäck abzuladen.
Annwyl sah Talaith an. »Und was euch beide angeht …«
»Annwyl, ich …«
»Entschuldige bitte. Hatte ich schon zu Ende gesprochen?«
Talaith seufzte in gespielter Verzweiflung auf, Morfyd kicherte.
»Nein, meine Lehnsherrin. Bitte. Sprich weiter.«
Annwyl gab sich keine Mühe, ihr Lächeln zu verbergen und fuhr fort: »Ich will, dass ihr beide hierbleibt, unter meinem Schutz, bis ihr wisst, was ihr tun wollt.«
»Ich habe mir überlegt«, schaltete sich Izzy ein, »dass ich vielleicht …«
Annwyl legte ihr eine Hand über den Mund und sprach mit Talaith weiter: »Es besteht kein Grund zur Eile, Talaith. Lasst euch so viel Zeit, wie ihr braucht.«
»Danke, Annwyl. Das weiß ich wirklich zu schätzen.« Das tat sie schon deshalb, weil sie wirklich keine Ahnung hatte, was sie tun wollte. Sie und Izzy hatten ihr ganzes Leben vor sich. Ausnahmsweise einmal verspürte Talaith Hoffnung statt Verzweiflung. Es war ein neues und berauschendes Gefühl, das sie einfach nicht gewöhnt war.
»Und nun zu dir, Iseabail die Gefährliche« – Annwyl nahm ihre Hand von Izzys Mund – »was wolltest du sagen?«
Doch Izzy sah Annwyl gar nicht mehr an und hatte ausnahmsweise nichts zu sagen.
»Izzy?«
Das laute Klatschen einer großen Hand auf Annwyls kettenpanzerbedeckten Hintern lenkte beide Frauen von Izzys gefesseltem Gesichtsausdruck ab.
»Und wo zum Teufel warst du so lange?«
Annwyl drehte sich um, und ihr Blick wanderte hinauf, hinauf und noch weiter hinauf zu dem hübschen Gesicht eines absoluten Bären von einem Mann. »Wo ich war?«, blaffte sie zurück. Talaith fragte sich, ob Annwyl den Verstand verloren hatte, diesen Mann so herauszufordern. Dann fiel ihr ein, dass Annwyl ihren Verstand schon vor langer Zeit verloren hatte. »Ich habe unser Land geschützt. Dort war ich.«
Eine sehr dunkle Augenbraue hob sich über noch dunkleren Augen, und ein Grinsen erschien auf dem Gesicht des gutaussehenden Mannes. »Du solltest schon vor Wochen zurück sein.«
»Tut mir leid, wenn sich der Krieg nicht nach deinen Plänen richtet, Lord.«
»Verstehe«, sagte er, und eine Locke kohlschwarzen Haares glitt unter der Kapuze seines Umhangs hervor und über seine Augen. »Da bittet mich wohl jemand …«
»Also schön«, unterbrach Morfyd, nahm Izzy mit fester Hand an den Schultern und schob sie zu ihren Beschützern hinüber. Das Mädchen ging, doch ihr Blick blieb an demjenigen kleben, von dem Talaith nur annehmen konnte, dass er Annwyls Ehemann war.
Morfyd sah wieder den riesigen Mann an und schüttelte den Kopf. »Hallo Fearghus.«
Ohne seine Augen von Annwyls Gesicht abzuwenden, machte der Mann eine Handbewegung zu der Hexe hinüber. »Morfyd.«
Morfyd forderte Talaith mit gekrümmtem Finger auf, mit ihr zu kommen. »Komm, Schwester. Ich zeige dir deinen Schlafplatz. Ich fürchte, du und ich sind viel zu jung für so ein Schauspiel.«
Das Paar hatte sich nicht weiter aufeinander zubewegt, doch das mussten sie auch nicht. Die Art, wie sie einander ansahen, genügte, dass sich alle anderen wie Eindringlinge fühlten.
»Nicht nötig. Wir gehen.«
Annwyl grinste über Fearghus’ Worte. »Ach ja?«
»Aye.« Fest ergriff er Annwyls Hand. »Ab in die Finstere Schlucht mit dir, Weib!«
Morfyd drehte sich um. »Fearghus, warte. Wir haben viel zu besprechen.«
»Später, Schwester.«
»Viel später«, fügte Annwyl mit einem äußerst mädchenhaften Kichern hinzu, während Fearghus sie hinter sich herzog.
Morfyd seufzte und ging auf die Treppe der Burg zu, um Achaius, Izzy und die anderen Männer in das Gebäude und zu ihren Zimmern zu führen.
Doch Talaith folgte ihr nicht; sie war zu beschäftigt damit, der sich entfernenden Gestalt von Annwyls Mann nachzustarren. Extrem vertraut. Sie sah ihm nach, bis das Paar um die Ecke der Burg verschwand.
»Nein. Nein«, murmelte sie vor sich hin. Wenn sie so weitermachte, würde sie Briec überall sehen. In jedem Mann, der ihr begegnete, bis ans Ende ihrer Tage. So konnte sie nicht leben.
Nein. Fearghus war lediglich ein sehr großer Mann. Vielleicht ein wenig unnatürlich groß, aber mit den richtigen Zaubern und Opfern konnte eine Mutter das schon zustandebringen. Abgesehen davon war dieser Koloss das, was jemand wie Annwyl brauchte.
Genau das, was jemand wie Annwyl brauchte.
Überzeugt davon, dass sie recht hatte, seufzte Talaith tief und erleichtert auf und verschluckte sich an ihrem eigenen Seufzer. Ein schwarzer, gehörnter Kopf tauchte an der Ecke auf, hinter der Annwyl und Fearghus nur Augenblicke zuvor verschwunden waren. Sein sehr langes schwarzes Haar fegte über den Boden. Um die umstehenden Gebäude nicht zu beschädigen, hielt er seine schwarzen Flügel eng an den Körper gepresst. An seinen Drachenkörper. Und auf dem Drachen saß die extrem glückliche und zufriedene Annwyl.
Talaiths Lungen blähten sich vor Panik und Aufregung und sie sah schweigend zu, wie Fearghus – und sie wusste, dass es Fearghus war – in die Luft stieg. Ihre Blicke folgten dem Paar – und sie waren ein Paar –, bis es an einem weiteren Drachen vorüberflog.
»Nein, nein, nein. Das kann nicht sein.« Talaith entfernte sich ein paar Schritte von ihrem Pferd und starrte zum Himmel hinauf. Es waren so viele! Drachen aller Farben flogen über sie hinweg. Manche saßen auch geduldig auf den silberbeschlagenen Spitzen der Burg und plauderten mit anderen Drachen, die um sie herumflogen.
Von Weitem hatte sie die Drachen wohl nicht gesehen, weil sie nicht gesehen werden wollten. Höchstwahrscheinlich zur Verteidigung von Garbhán.
Als sie eine Hand an ihre Brust legte, merkte sie, dass ihr tatsächlich das Herz stehengeblieben war. Musste es nicht eigentlich schlagen? »Das kann nicht sein!«
Talaith brauchte Antworten. Und sie brauchte sie sofort. Sie sprintete in die Burg, schob sich an Soldaten und Wachen vorbei, durch den Rittersaal, wo man bereits Vorbereitungen für das Festmahl des Abends traf, und rannte die Steinstufen hinauf. Sie fand Morfyd und die anderen im ersten Stock.
»Oh, Talaith. Gut. Das hier wird dein Zimmer.«
»Gut.« Talaith ergriff Morfyds Arm und schob sie ins Schlafzimmer. »Lass uns bitte einen Moment allein, Iseabail«, sagte sie zu ihrer überraschten Tochter, bevor sie die Tür zuknallte.
»Was ist los mit …«
»Fearghus ist gerade weggeflogen!«
»Oh.« Und sie sah, wie Morfyd schon wieder versuchte, ihr Lächeln zu verbergen. Hinterhältiges, verräterisches Weib!
»Ist das alles, was du zu sagen hast?«
»Schrei mich nicht an, Hexe«, blaffte Morfyd zurück.
»Was erwartest du von mir? Du hast mich angelogen!«
»Nein, habe ich nicht.«
»Du hast alles gesehen, Morfyd. Du warst in meinem Kopf. Ungebeten, wenn du dich erinnerst. Du wusstet von Briec.«
Dieses verfluchte Grinsen war schon wieder da. »Aye. Das stimmt.«
»Wie konntest du mir das dann verschweigen?«
Morfyds Augen wurden schmal. »Du schreist schon wieder.«
Talaith schloss die Augen, als ihr etwas bewusst wurde. »Fearghus hat dich ›Schwester› genannt.« Und zwar nicht so, wie Hexen einander »Schwester« nennen. Sondern wie genervte Geschwister.
»Aye.«
Was bedeutet …
Talaith ging wieder zur Tür. »Wir gehen.« Sie würde ihre Tochter nehmen und gehen. Sie konnte nicht hierbleiben. Nicht jetzt.
Sie hatte die Hand schon am metallenen Türknauf, als Morfyds Stimme sie stoppte. »Und wo wirst du hingehen, Talaith, Tochter der Haldane? Wohin wirst du Izzy bringen und was meinst du, wo ihr sicher sein werdet? Annwyl scheint zu glauben, es sei vorbei, aber wir beide wissen, dass es nicht vorbei ist. Nicht, bevor Arzhela erledigt ist.«
Morfyd stand jetzt neben ihr. »Aber hier bist du sicher. Unter meinem Schutz und dem Schutz meiner Leute. Wenn du jetzt davonläufst …«
»… werde ich ewig davonlaufen«, vollendete Talaith den Satz für sie.
»Und deine Tochter ebenfalls. Ist Izzy nicht schon genug davongelaufen?«
Talaith lehnte ihren Kopf an die Tür. »Aber Briec …«
»Briec kommt nie hierher.« Morfyd strich Talaiths Haare zurück. Niemand außer Briec hatte sie je aus reiner Freundlichkeit berührt. »Er hasst diese Burg. Er verachtet Annwyl. Und den Rest von uns erträgt er kaum. Das Weiteste, wohin er geht, sind die Dunklen Ebenen. Fearghus’ Höhle. Hier kommt er nicht her. Und wenn du willst, sage ich ihm nicht, dass du hier bist. Wenn das wirklich dein Wunsch ist.«
Sie zögerte nicht. »Nein. Ich will nicht, dass er weiß, dass ich hier bin.« Sie hatte in den letzten Tagen hart daran gearbeitet, ihn aus ihren Gedanken und ihrem Herzen zu verbannen. Ihn jetzt wieder hereinzulassen würde nur dazu führen, dass ihr Herz brach, wenn er sie verließ.
»Dann werde ich es ihm niemals sagen.«
Talaith, die plötzlich unendlich müde war, zog die Tür auf. »Danke, Morfyd.«
Die, von der sie nun wusste, dass sie eine der seltenen Drachenhexen war, von der ihre Mutter und ihre Schwesternschaft in ehrfürchtigem Ton sprachen – und sie sprachen nur von wenigen Wesen so – nickte und ging hinaus. Talaith hörte, wie sie den Männern ihre Zimmer zeigte. Izzy kam herein, bevor sie die Tür schließen konnte.
»Ist alles in Ordnung?«
Talaith nickte und schleppte sich durch den Raum zu dem großen Bett in seiner Mitte. Sie ließ sich rückwärts darauffallen, ohne Rücksicht auf ihre von der Reise schmutzigen Kleider zu nehmen. »Alles ist gut, Izzy.«
Die Tür wurde geschlossen, doch Talaith wusste, dass Izzy nicht gegangen war. Das Bett senkte sich, als Izzy sich neben ihr ausstreckte.
»Ich rede zu viel, stimmt’s?«
Talaith, dankbar für die Ablenkung, lachte. »Das tun wir beide, glaube ich.«
»Warst du enttäuscht, als du mich endlich kennengelernt hast?«
Talaith drehte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf die Hand. »Natürlich nicht.« Sanft nahm sie Izzys Haare, fuhr mit den Fingern durch die welligen, hellbraunen Strähnen. Ihre Tochter ließ ihre weichen Haare nie zu lang wachsen. Sie reichten ihr kaum bis zu den Schultern, und schon jetzt beschwerte sie sich ständig, sie seien »nicht mehr zu bändigen«.
»Du erinnerst mich so sehr an deinen Vater.«
»Ist das gut oder schlecht?«
»Es ist das Beste. Ich habe ihn geliebt. Er sah gut aus und war mutig und sehr groß. Und er sagte auch immer offen, was er dachte.«
Izzy, die von Natur aus ein herzliches Wesen hatte, nahm Talaiths freie Hand. »Du solltest wissen«, sagte sie in gespieltem Ernst, »dass ich ein echtes Problem damit habe, offen auszusprechen, was ich denke.«
»Ja. Ich habe schon bemerkt, dass du ein schüchternes, zurückhaltendes Mädchen bist.«
»Und gefallsüchtig.«
Lachend genoss Talaith den guten Humor ihrer Tochter. Wenn man bedachte, was Iseabail durchgemacht hatte, war es bewundernswert.
Dennoch wollte sie nicht, dass das arme Mädchen zu Tode erschrak, wenn es nach draußen ging.
»Izzy, da ist etwas, was ich dir sagen sollte …«
»Bei den Göttern!« Izzy krabbelte vom Bett und stürzte zu den großen Fenstern. Sie stieß das dicke, schwere Glas auf – keine Pfeile konnten dieses stabile Material durchdringen – und beugte sich hinaus. »Sieh nur!«
Aus Angst, sie könnte sie heranlocken, ging Talaith rasch zu ihrer Tochter hinüber. »Geh ins Zimmer, Izzy«, befahl sie, während sie die Fenster schloss.
Izzy starrte sie an. »Du hast keine Angst vor ihnen, oder?«
Die Art, wie ihre Tochter das fragte, machte Talaith sehr nervös; sie wusste nur nicht, warum. »Du nicht?«
»Warum sollte ich? Der, der mich beschützt, ist … äh … hmmm …« Izzy fand plötzlich den Fensterrahmen außerordentlich interessant.
Talaith nahm ihre Tochter bei den Armen und drehte sie zu sich um. »Iseabail?«
»Ja?«
»Der Gott, der dich beschützt …«
»Er ist furchtbar nett«, beeilte sie sich zu erklären. »Und wie du weißt, hat er nur die besten Männer zu meinem Schutz ausgewählt und …«
»Dein Gott ist ein Drache?«
»Es gibt keinen Grund, so zu schreien«, murmelte Izzy. »Er beschützt mich schon seit Jahren. Er hat mir nie wehgetan oder irgendetwas von mir gefordert. Nur, dass ich nicht sage, wer er ist. Er sagte, die Leute würden es nicht verstehen. Das habe ich wohl ziemlich verbockt, was?«
»Verdammt, Izzy!«
»Du verstehst nicht. Er hat sich so gut um mich gekümmert. Er hat mir Lesen und Schreiben beigebracht. Ein bisschen Mathe und Naturwissenschaften, auch wenn ich darin nicht sehr gut bin. Und Geschichte, darin bin ich herausragend.«
»Und er will nichts als Gegenleistung für all diese Fürsorge? All diesen Schutz?«
»Nein. Er hat mich nie um etwas gebeten.«
»Wissen es deine Beschützer?«
Sie schüttelte den Kopf. »Für sie war er nur eine Stimme. Er dachte sich, das sei weniger furchterregend.«
»Aber du …«
Sie zuckte die Achseln. »Immer als Drache. Er kam in meinen Träumen zu mir. Das hat mir nie etwas ausgemacht. Ich fand ihn tröstlich.«
»Wer, Izzy?«
Verwirrt runzelte sie die Stirn. »Wer was?«
»Wer ist dieser Drachengott, der dich beschützt?«
Sie lächelte. »Na, Rhydderch Hael natürlich. Wer sonst wäre mächtig genug, um mich vor den menschlichen Göttern zu schützen?«
Talaith schloss die Augen, und ihr Herz drohte stehen zu bleiben. »Rhydderch Hael? Er ist dein Beschützer?«
»Aye.«
»Der Vater aller Drachen ist dein Beschützer? Das willst du mir erzählen?«
»Er ist furchtbar nett!«, beharrte sie.
Talaith zermarterte sich das Gehirn und versuchte, sich daran zu erinnern, was die Lehren der Nolwenn-Hexen über Rhydderch Hael sagten: Sie wusste, dass er einer der ältesten Götter in dieser Welt und vielen anderen war. Er hatte eine treue Gefährtin. Eine Drachengöttin von genauso unglaublicher Macht, die viele fürchteten.
Er kümmerte sich um die Drachen. Er schützte sie, gab ihnen Magie und andere Fähigkeiten, und er verlangte von ihnen lediglich, dass sie sich um die Welt kümmerten, in der sie lebten. Das funktionierte so seit Jahrhunderten, sogar seit Äonen. Doch neue Götter erschienen. Launische und machthungrige Götter, und diese brachten die Menschen mit. Das veränderte alles. Vor allem, weil die Menschen nicht davon abzubringen waren, Drachen zu jagen, und weil Drachen wiederum Menschen so schmackhaft fanden.
Viele glaubten, dass einige der Menschengötter, unter anderem Arzhela, Rhydderch Hael vernichten wollten, und hofften, dass dadurch seine Macht und die Herrschaft über diese Welt und viele andere Welten auf sie übergehen würde. Doch wie immer unterschätzten sie den Zorn einer Frau. Rhydderch Haels Gefährtin kämpfte an seiner Seite und verpflichtete die anderen Drachengötter für seine Sache. Sie drängten Arzhela und ihr Göttergeschlecht in ihr Reich zurück und schufen eine Schranke, die sie für immer fernhielt, während die Götter der Menschen dasselbe taten.
Seit damals wurden die Menschen und Drachen jeweils als Krieger oder Geiseln benutzt, in der Hoffnung, immer mehr Macht zu erlangen. Bisher herrschte Gleichgewicht.
Doch Talaith wusste gut, dass die kleinste Verschiebung alles für immer verändern konnte.
»Izzy«, seufzte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.
Izzy wurde wieder munter. »Aber findest du Drachen nicht auch faszinierend?«
Talaith verdrehte die Augen. »Nein.« Arrogant und ärgerlich, ja. Faszinierend – niemals.
Izzy sah aus dem geschlossenen Fenster. »Glaubst du, einer von ihnen nimmt mich mal auf einen Flug mit?«
Ihre Mutter ging zum Bett zurück, ließ sich mit dem Gesicht voraus darauffallen und tat so, als hätte sie das nicht gehört.