44.
13. April 1955
Der Einäugige,
der Blinde und das Dritte Auge
„,Wie sind des Kaisers neue Kleider
unvergleichlich!
Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!‘“
Keiner wollte es sich merken lassen, dass er nichts sah;
denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt
oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten
solches Glück gemacht wie diese.
,Aber er hat ja gar nichts an!‘, sagte endlich ein kleines
Kind.
,Hört die Stimme der Unschuld!‘, sagte der Vater.“
Hans Christian Andersen, Des Kaisers neue
Kleider
Ich spülte die Teller ab, bevor ich sie Lili reichte. Beate Hulbeck, die Gattin unseres ehemaligen Therapeuten, mixte uns Verdauungscocktails, Kitty Oppenheimer trank verträumt. Penny, unser English Cocker Spaniel, bettelte um das x-te Leckerli, ich schob sie sanft weg. Dorothy Morgenstern stellte das Radio lauter, ließ dabei aber nicht ihr Baby aus den Augen, das sie in einem Relax-Stuhl auf den Küchentisch gesetzt hatte. Es war sehr warm für einen Frühlingsnachmittag, das Kind spielte mit seinen nackten Füßen. Ich hatte eine irre Lust, zu ihm zu gehen und seine Füße zu knutschen!
„Kennt ihr Chuck Berry? Das nennt man Rock ’n’ Roll.“
Ich konnte mich für die neue Musik der Schwarzen nicht sonderlich begeistern, aber meine Füße bewegten sich von allein. Instinktiv wussten sie den Rhythmus zu schätzen. Der Jazz meiner Jugend kam nun verdammt altbacken daher. Ich mochte die Musik meiner Zeit nicht mehr, meine Pumps hatte ich schon lange an den Nagel gehängt. Auch von dem jüngsten Gerede über den Kampf für die Bürgerrechte fühlte ich mich nicht betroffen. Wenn die Schwarzen sich im Bus neben mich setzen wollten – bitte, ich würde sie nicht daran hindern. Ihren Blues, ihren Rock ’n’ Roll zu hören? Vom selben Brunnen zu trinken? Damit könnte ich mich abfinden. Aber dann auch zu akzeptieren, bei einer Transfusion Blut von einem schwarzen Spender zu bekommen? Darüber wollte ich lieber nicht nachdenken. In der schmucken, snobistischen Enklave Princeton hatten wir nie mit Farbigen verkehrt,40 abgesehen von der Haushälterin, die ich aber dann wieder nach Hause geschickt hatte. Wir kannten keinen einzigen schwarzen Mathematiker oder Physiker. Albert hatte versucht, mir mit den Termen a + b den Irrsinn der Rassentrennung zu erklären. Doch der Verstand hatte meiner Ansicht nach wenig damit zu tun.
Tanzend reichte Beate mir ein Glas. Vor den Blicken der Männer geschützt, die im Garten geblieben waren, wiegten wir uns in den Hüften. Die Wärme, der Alkohol und meine Küche hatten ihnen die zu ernsten Gespräche ausgetrieben. Am Ende des Musikstücks ließen wir uns trunken vor Freude fallen. Das Alter bezwang unsere Beine vor unserem Gelächter. Ich zog die Schürze aus, die mein Kleid schützte. Mit meinen fünfzig Jahren hatte ich stark zugenommen und alle meine Kleider weiter machen lassen müssen.
„Findet ihr nicht, dass dieser Mann echt komisch ist?“, fragte Lili in Anbetracht unseres Überraschungsgastes – der einzige Fremde in unserem Grüppchen. Dorothy hob ihrem lachenden Püppchen das Kinn an.
„Ich finde ihn toll! Er äußert seinen charmanten Unsinn mit so viel Überzeugung.“
„Er hat eine schlechte Haut. Wie Tom Ewell!“
„Habt ihr ihn in Das verflixte 7. Jahr gesehen? Er kommt nicht an Cary Grant heran!“
„Kommt ganz darauf an, was du mit ihm vorhast, meine Liebe.“
„Adele, wenn das dein Mann hören würde!“
Ich wirbelte herum wie Marilyn Monroe auf dem Lüftungsschacht. Penny drängte sich unter meinen Rock, sie war wirklich wie besessen!
Die Männer beim Cocktail, die Frauen in der Küche – alles war, wie es sein sollte. Ich hatte nichts gegen diese sexistischen Intermezzi, sie lockerten mein Leben ein wenig auf. Diese sporadischen Anwandlungen gesellschaftlichen Lebens waren mein letztes echtes Vergnügen. Unsere Frauengespräche folgten immer demselben beruhigenden Protokoll: Mutterstolz und -sorgen meiner Freundinnen, Verstopfung und Blähungen bei uns allen, Kommentare über die Klamotten, Ehegenörgel und zum Schluss Klagen über die Männer im Allgemeinen. Unsere Gatten brauchten eine Wanne Alkohol oder einen Sternenhimmel, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen, mir dagegen genügte ein Becken voll schmutzigem Geschirr.
An diesem Nachmittag hatten wir Kurts Berufung in die National Academy of Sciences gefeiert – eine der höchsten Ehren für einen amerikanischen Wissenschaftler, denn die führenden Vertreter der verschiedenen Disziplinen beraten die US-Regierungen und deren Organe in nationalrelevanten Fragen. Zu diesem Anlass hatten wir alle unsere engsten Freunde zum Barbecue eingeladen. Nur Albert war nicht gekommen, er hatte die Einladung abgesagt und Erschöpfung vorgeschoben. Die Zeiten waren wieder etwas milder geworden – Knecht Ruprecht alias Stalin war tot, Amerika entspannte sich: Der Koreakrieg war zu Ende, der Vietnamkrieg bahnte sich erst an, Eisenhower hatte uns endlich von der Geißel McCarthy befreit, nachdem der republikanische Senator sogar das Militär gegen sich aufgebracht hatte. Die Oppenheimers hatten sich gut aus der Affäre gezogen – Robert war weiterhin Direktor des IAS, seine Aura als Wissenschaftler war unangetastet geblieben. Die Erhöhung der staatlichen Subventionen kam der ganzen Forschung zugute, unsere kleine Welt durfte also zufrieden sein. Amerika konnte seinen Gürtel wieder ein Loch weiter schnallen.
Im Schatten der Laube servierte ich den Kaffee. Dorothy hatte sich mit ihrem Sohn hingelegt. Ich schätzte den Grad an Benommenheit bei meinen Gästen ab und wusste, dass ich mich ihrer Anwesenheit noch eine ganze Weile erfreuen könnte. Ich hatte es geschafft, dieses Haus nach meinen Wünschen in ein behagliches Nest zu verwandeln.
Als ewiger Provokateur hatte Charles Hulbeck anstelle einer Flasche Champagner ein Kuriosum mitgebracht: Theolonius Jessup. Der Vierzigjährige, von der kalifornischen Sonne gebräunt, war erklärter Veganer und selbsternannter Soziologe. Er fühlte sich sehr geschmeichelt, bei diesem Fest dabei sein zu dürfen, zu dem er nicht eingeladen war. Während er ständig sein Grünzeug gemampft hatte, hatte er versucht, sich in die Gespräche einzuschalten, zu denen er genauso wenig eingeladen war. Was war das wieder für eine verdrehte Idee von Hulbeck, uns so einen Spinner aufzuhalsen? Charles war es in keiner Weise peinlich, bei einem ehemaligen Patienten zu Abend zu essen, und er sah auch kein Problem darin, einen anderen Gast mitzubringen.
Schon seit dem Aperitif brachte mein Mann diesem Fremden ein verstörendes Interesse entgegen. Kurt hatte sich auch kaum empört, als der Herr ihm eine gefährliche Parallele zwischen seinem Unvollständigkeitssatz und seinen eigenen soziologischen Forschungen aufgetischt hatte. Kurt hatte mir seine Ansichten zu dieser Frage schon mehrfach dargelegt. Wenn er widersprach und abenteuerlustigen Neophyten in aller Freundlichkeit seine Arbeiten erläuterte, verstanden sie ihn nicht. Sie beharrten auf ihre Positionen und rühmten sich dann, mit dem großen Gödel diskutiert zu haben, wobei Kurt einfach nur höflich gewesen war. Wenn er sich, was seltener vorkam, aufregte und sie mit einem „Versuchen Sie nicht, mit Begriffen umzugehen, die Sie nicht begreifen“ in ihre Schranken wies, galt er als arrogant. Mir gegenüber hielt Kurt sich mit diesem Argument jedoch nicht zurück. Generell spielte er lieber die Rolle des geistig Abwesenden oder des Sonderlings vom Dienst. Leichte Konversation, ein notwendiges Schmiermittel für das Spiel des gesellschaftlichen Lebens, betrachtete er als Zeit- und Energieverschwendung. Die Eitelkeit der anderen war für ihn schwer zu ertragen – er hatte ja schon schwer genug an seiner eigenen zu tragen.
Begierig darauf, bei Tisch zu glänzen, nutzte der Überraschungsgast die allgemeine Trägheit und verstieg sich in einen gewagten Vergleich zwischen Psychoanalyse und Formalwissenschaften. Er versäumte es nicht, Kurt dabei zu bauchpinseln. Hätte Theolonius Jessup die anderen Gäste besser gekannt, hätte er niemals auch nur versucht, einen Zeh in diesen Sumpf zu stecken. Charles, der bis dahin kaum noch die Augen offen halten konnte, fuhr auf, als hätte er einen Kübel kaltes Wasser über den Kopf bekommen. In Wirklichkeit hatte er seit der Vorspeise nur auf den Moment gewartet, loslegen zu können. Er goss sich einen vierten Kaffee ein, gezuckert mit der Lust an der Prahlerei.
„Für mich teilen sich die Psychoanalytiker in mehrere Gruppen, eine jede publiziert ihre eigene Zeitschrift, um darin ihre eigene Art der Gotteslästerung, der Naturbeschimpfung und der Kunstinterpretation darzulegen, wie Karl Kraus es ausdrückte. Die Mathematiker sind das Gegenteil davon.“
Jessup schien die Stichhaltigkeit einer solchen Äußerung aus dem Mund eines Psychoanalytikers selbst zu hinterfragen, beschränkte sich aber auf ein komplizenhaftes Lächeln – wenn es da etwas zu verstehen gab, würden seine Lippenzuckungen als Durchdringung der Materie durchgehen, wenn nicht, dann als Einverständnis. Oskar hüstelte. Oppie und Lilis Mann Erich waren dem Charme meiner Liegestühle erlegen und hatten den Ring verlassen. Kurt hatte lediglich seine leibliche Hülle am Tisch zurückgelassen. Nur Charles wollte die Diskussion am Laufen halten. Wenn sein Hündchen genug gespielt hätte, würde er es bei lebendigem Leib auffressen. Beate, das gute Mädchen, legte eine beruhigende Hand auf die muskulöse Schulter des Schönlings. Ich fragte mich, wie ein Veganer zu so einer Statur kam. Jessup strich den Saum des Tischtuchs glatt, bevor er das vorbrachte, was er beim Essen nicht losgeworden war: „Auch ich bin Therapeut. Bisweilen.“
„Sie sind Psychoanalytiker? Sie sagten doch Soziologe.“
„Um Etiketten kümmere ich mich nicht, Missis von Kahler. Ich betrachte mich als einfachen Lebensberater.“
Ich fand Gefallen an der Sache. Diese Beratungstätigkeit musste sehr lukrativ sein, denn Jessup trug eine teure Armbanduhr, und sein Leinenanzug sah so richtig nach Maßarbeit aus. Als Kunstliebhaber hatte er mehrere Gemälde von Beate gekauft, die eine talentierte Künstlerin war. Laut Albert besaß auch Charles eine beachtliche Kunstsammlung. Seelenklempnerei war also sehr einträglich.
„Wie setzt sich Ihre Kundschaft denn zusammen? Ach, sagt man nicht eher ‚Patienten‘ oder ‚Klientel‘? Kundschaft klingt so nach Metzgerladen.“
„Ich ziehe den Begriff ‚Kreis‘ vor, Missis Gödel. Ich berate Geschäftsleute, Künstler, auch viele Schauspieler. Wenn ich nicht auf Reisen bin, wohne ich in Los Angeles.“
„Und nach welcher Methode arbeiten Sie?“
„Ich bin hyperempathisch. Ich empfange Schwingungen, positive und negative. Ich helfe meinen Patienten, ihre Schwingungen zu sortieren. Alles ist doch Schwingung, nicht wahr?“
Kitty, immer auf eine Belustigung aus, übernahm: „Mein lieber Theolonius, ich wette, Sie glauben an Reinkarnation.“
Er nickte, bevor er mit kalkulierter Langsamkeit seine Sonnenbrille abnahm. Er hatte einen interessanten Blick, wenn auch nicht so verstörend wie der Oppenheimers. Letzterer schnarchte gerade, zwischen seinen Fingern hing eine abgebrannte Zigarette.
„Ich rede lieber von Seelenwanderung. Ich war schon öfter in Indien, die asiatische Kultur hat mich sehr beeinflusst. Sie macht keinen Unterschied zwischen Körper und Seele wie wir hier im Westen. Alles ist eins. Wir sind reine Energiezustände. Wir sind quantisch.“
Charles stocherte in seinen Zähnen – es sei denn, er schliff sie an …
„Was verstehen Sie unter quantisch, Theolonius?“
„Meine Tätigkeit ist die Frucht langer Jahre des Reisens und der Forschung. Dank der Meditation habe ich mein Bewusstsein des Erdenlebens tief greifend verändert. Ich konnte eine beträchtliche Kapazität entwickeln, meine physisch-psychische Ganzheitlichkeit zu zentrieren. Und sie gestattet mir, meine Energie auf quantische Weise zu mobilisieren.“
„Ich habe überhaupt nichts kapiert.“
Theolonius fasste Beate an der Schulter.
„Es ist kompliziert, ich weiß. Aber in erster Linie ist es eine Glaubensfrage.“
Sie starrte ihn böse an. Durch seine Herablassung hatte er gerade eine wertvolle Verbündete vergrault. Dieser Theolonius war entschieden auf Prügel aus. In Sicherheit gewiegt von den ausbleibenden Reaktionen der Wissenschaftler, wagte er sich weiter vor. Er servierte uns irgendeinen Brei aus Körper, Bewusstsein, Curry, Materie und Geist. Ich sah, wie Kurt verdutzt eine Augenbraue hochzog. Auch ich hatte nichts von Jessups Kauderwelsch begriffen, aber ich war mir nicht sicher, ob ich dafür überhaupt das notwendige Vokabular zur Verfügung hatte. Der Quanten-Guru, als gerissener Verkäufer seines Schunds, machte uns nicht die Freude, sich über unser Schweigen zu ärgern. Ob es an diesem Tisch wohl einen potenziellen „Kreis“ gab?
„Der quantische Raum ist ein Schwingungsfeld, in dem die Dualität zwischen Ich und Nicht-Ich aufgehoben ist.“
„Ich bin erleichtert zu hören, dass Pauli uns nicht umsonst mit seinen teuflischen Matrizes belästigt hat.“
Oppie hatte diese Bemerkung vom Liegestuhl aus gemacht, er hatte die Augen geschlossen, aber ihm entging kein Wort des Gesprächs. Ich konnte nicht herausfinden, ob dieser Jessup unseriös oder einfach nur naiv war. Sein kosmischer Obstsalat wirkte vielleicht auf Hollywood-Sternchen – aber hier in Princeton? Selbst ich konnte seine Tollkühnheit ermessen. Ich fand es schade, dass Albert und Pauli nicht hier waren – sie hätten getobt vor Freude, diesen Scharlatan in Stücke zu reißen. Kurt schwieg, er suchte nach nicht existenten Fusseln auf dem Revers seines weißen Anzugs. Die Krawatte hatte er abgelegt, der offene Kragen entblößte seinen dürren Hals. Dieses Stückchen heller Haut zerriss mir das Herz vor Zärtlichkeit. Ich lächelte meinem Mann zu, verschwörerisch neigte er den Kopf. Oskar Morgenstern wechselte das Thema. Er wollte verhindern, dass dieser Sonderling sich in einem neuen zweifelhaften Gedankenflug erging. Indem er Charles den Wind aus den Segeln nahm, beschlagnahmte er sein Spielzeug.
„Kurt, haben Sie Ihren Artikel über Carnap fertig?“
„Ich habe ihn wieder zurückgezogen.“
„Warum? Was für eine Kräfteverschwendung!“
„Ich war mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Und ich war polemisch. Mein alter Freund Carnap hätte nicht mehr die Zeit gehabt, mir zu antworten. Das war nicht korrekt gewesen. Ich werde mich von nun an ausschließlich der Philosophie widmen. Ich studiere eingehend Husserls Phänomenologie und seine Arbeiten über Bewusstsein und Wahrnehmung.“
„Langweilt Sie die Mathematik?“
„Wo Sie einen Wirrwarr sehen, Lili, ziehe ich einen einzelnen Faden heraus. Ich habe den Ehrgeiz oder die Hoffnung, eine axiomatische Grundlage der Metaphysik zu finden.“
„Indem Sie andere studieren?“
„Das Studium ist nie umsonst.“
Theolonius kam wieder ins Rennen, zu allem entschlossen.
„Auch ich rühme mich einer Vermählung der traditionellen Ansätze mit der modernen Erkenntnistheorie. Die Wahrheit ist unteilbar.“
Charles verschlang Jessups Worte wie Kaviar und legte ihm eine Essiggurke in seinem eigenen Saft ein. Mein Mann nahm ihm den Schwung, indem er seinen Gästen, die schon satt von Worten und Alkohol waren, ein Phänomenologie-Seminar aufzwang: Der deutsche Philosoph und Mathematiker Edmund Husserl, Kurts momentanes Steckenpferd, war laut meinem Mann in derselben Suche nach der reinen Erkenntnis begriffen gewesen. Ich hatte unauffällig Husserls Bücher durchgeblättert, um diese neue Obsession zu verstehen. Etwas Undurchschaubareres hatte ich noch nie gelesen, nicht einmal in der vermaledeiten Mathematik – die manchmal sogar vorstellbar wurde, wenn man sie in meine Sprache übersetzte. Dieser Husserl hatte eine besondere Begabung dafür, eine Terminologie heranzuziehen, die noch undurchdringlicher war als das Thema, das sie eigentlich erhellen sollte. Selbst Kurt fand ihn trocken, und das will etwas heißen!
„Apropos Wahrnehmung – kennen Sie Aldous Huxley, Herr Gödel? Er hat kürzlich eine Essaysammlung mit dem Titel Die Pforten der Wahrnehmung veröffentlicht. Ich werde sie Ihnen schicken.“
„Diesen Titel hat er William Blake geklaut!“
Mein Mann wedelte mit der Hand und verscheuchte eine emsige Wespe.
„Lassen Sie ihn ausreden, Hulbeck. Dieses Thema interessiert mich.“
Begeistert stürzte Theolonius sich in einen Lobgesang auf diesen Huxley und dessen Experimente mit Meskalin, das man aus dem Peyote-Kaktus gewinnt. Diese psychotrope Droge erschien ihm sehr interessant für die Erforschung der Wahrnehmung. Er behauptete, sie würde die Pforten in andere Dimensionen öffnen, Pforten, die uns ansonsten durch die Vernunft verschlossen bleiben würden. Dem Meskalin zog er jedoch LSD vor, das damals legal war. Jessup besaß den Takt, uns zu erklären, dass Meskalin Durchfall hervorrief. Er nutzte es bei seinem „Kreis“ für außersinnliche Erfahrungen. Man konnte damit Musik sehen und Farben hören. Ich überlegte, ob dieses Mittel auch in der Lage wäre, Männer dazu zu bringen, endlich auf ihre Frauen zu hören, aber ich hütete mich, dies laut zu sagen.
Charles zerbiss grummelnd einen Zahnstocher nach dem anderen. Jessup kam ihm langsam ins Gehege, denn dieses wundertätige LSD war nichts Neues. Charles hatte einige Patienten schon mit diesem psychoaktiven Wirkstoff behandelt. Mit LSD änderte sich zwar auf ergötzliche Weise die Wahrnehmung von Zeit und Raum, aber es hatte auch zahlreiche Nebenwirkungen, darunter Appetitlosigkeit und gefährliche Halluzinationen, eine geistige Auflösung, von der man sich unter Umständen nie mehr erholte. Von übermäßigem Konsum riet er also ab, denn mein Mann interessierte sich sehr dafür. Kurts Neugier beunruhigte mich nicht über die Maßen, denn er hatte zu viel Angst, vergiftet zu werden, um das Risiko einzugehen, mit solchen Drogen zu experimentieren. Und da erkannte ich die Schäden, die sich mein Mann bereits durch den einfachen Missbrauch seines Denkens selbst zugefügt hatte.
„Das klingt sehr verlockend.“
„Den Geist zu verändern heißt nicht, dass man ihn auch läutern kann. Das würde Sie ja zur Drogensucht führen, Kurt!“
„Das meinte ich nicht mit verlockend, Oskar. Ja, ich hätte Angst, mich darin zu verlieren. Sagen wir so: Ich erforsche weniger die chemischen Mittel, sondern den menschlichen Körper und seine eigenen Ressourcen für solche Wahrnehmungen. Wenn ich versuche, eine neue Pforte der Wahrnehmung zu öffnen, dann nicht, indem ich meine Sinne verfälsche, sondern indem ich mich ihrer nachgerade entledige!“
„Zuerst einmal müsste man einräumen, dass es eine Wirklichkeit außerhalb der von uns sinnlich erfassbaren gibt!“
„Darüber haben wir schon hundertmal gesprochen, Oskar. Die mathematischen Gegebenheiten sind einer von vielen Aspekten dieser Wirklichkeit. Sie bilden ein separates Universum, zu dem wir kaum Zugang finden.“
„Sie haben Glück, dass Sie diese Welt frequentieren können, Herr Gödel.“
„Zu meinem größten Bedauern nur als zeitweiliger Besucher. Manchmal höre ich Stimmen, wenn ich arbeite. Diese Stimmen gehören mathematischen Wesenheiten. Ich würde sagen … Engeln. Aber immer wenn ich dieses Thema anschneide, bekommen meine Freunde so eigenartige Hustenanfälle.“
Kurt war unfair, vor allem mit Oskar, der sich stets unendlich nachsichtig gezeigt hatte angesichts der eigenwilligen Vorstellungen meines Mannes. Da Oskar taub war gegenüber solchen Gedankengängen, erschien er Kurt wie ein Blinder, der die Existenz von Farben leugnete, weil er nie welche gesehen hatte.
Theolonius legte das Sakko ab und bot uns den Anblick seines Hemdes, das sich über seine Brustmuskulatur spannte. Die Damen lächelten halb spöttisch, halb gerührt von dieser „objektiven“ Realität, deren Aufrechterhaltung ihre Gatten schon lange aufgegeben hatten. Der Beau konnte sein Glück nicht fassen – mit viel Mut hatte er es auf sich genommen, das esoterische schwarze Schaf am Tisch zu sein, und hatte am Ende in einem Logiker, einem Ausbund rationaler Tugenden, einen Verbündeten gefunden. Doch das überraschte mich nicht so sehr. Laut Kurt durfte man unter der Prämisse der Vernunft nichts verwerfen. Was man heute als absurd betrachtete, konnte morgen vielleicht schon wahr sein.
„Auch ich glaube an Engel. Jeder Mensch ist mit einem unsichtbaren, wohlwollenden Gefährten gesegnet.“
„Gödel redet hier nicht von Löckchen und Harfen, Theolonius. Ihm geht es mehr um das philosophische Prinzip.“
„Sie verwässern meine Worte, weil sie Ihnen Angst machen, Charles. Ich erahne die Existenz einer Welt, die sich unserer sinnlichen Wahrnehmung entzieht, und die Existenz eines speziellen inneren ‚Auges‘, das sie wahrnehmen kann. Wir besitzen einen Sinn für die Erfassung von Abstraktem, genauso wie wir ein Gehör oder einen Geruchssinn haben. Wie sollte man mathematische Intuition denn sonst erklären?“
„Denken Sie an ein gegenständliches Körperorgan?“
„Warum nicht? Einigen Mystikern galt die Zirbeldrüse als Sitz des Wissens.“
„Bei den Hindu ist das dritte Auge, das innere, das Auge Shivas, das Zentrum von Weisheit und Erkenntnis. Zweifellos handelt es sich dabei um das dritte Auge des Menschen der Zukunft. Die Zirbeldrüse könnte der innere Fortsatz des noch schlummernden Organs sein.“
Hulbeck war am Ende mit seiner Geduld. Er wandte ein, diese Drüse sei ein Organ zur Hormonsteuerung und kein Radarschirm für Cherubim. Als Beweis führte er die Obduktionen an, die er während seines Medizinstudiums durchgeführt hatte. Ich verstand nicht, inwiefern dies ein Unterpfand der Wahrheit sein sollte, aber ich genoss die Ausbrüche unseres unberechenbaren Dadaisten gegen diesen „Schwachsinn mit dem dritten Auge“. Charles gefiel sich zu sehr als Polemiker, auch auf die Gefahr hin, sich einer Meinung entgegenzustellen, die er selbst hätte vertreten können. Es war herrlich zu erleben, wie er aus seinem Hang zur Opposition gezwungen wurde, die Rolle des Konservativen zu spielen. Theolonius labte sich daran wie an Milch und Honig, während mein Mann sich ostentativ den Magen massierte.
„Wer einmal in den Genuss des gleißenden Lichts der Mathematik gekommen ist, der Gespräche der Engel, will immer wieder in dieses Reich zurückkehren. Und wenn ich als Verrückter dastehe, Hulbeck, ist mir das auch einerlei.“
Der Engel des Schweigens und der Dämon der Verlegenheit stürzten beide auf den Gartentisch herab. Kurts Freunde mochten es nicht, wenn er ohne jede Scham die Diagnose übernahm, die alle von ihm erstellten. Wenn er solche Ideen für sich behielt, waren es eben Schrullen, die als gesellschaftlich akzeptabel galten. Wenn er sie laut aussprach und das Ganze so logisch wie auch persönlich ableitete, konnte man den Begriff Wahnsinn gerade noch umschiffen. Aber wenn er sich selbst als verrückt bezeichnete, konnte sich niemand mehr hinter der Höflichkeit verstecken.
Penny legte ihren weichen Kopf auf meinen Schoß. Ich streichelte sie und überlegte, wie ich die Hitze aus der Debatte nehmen konnte. Kitty, die dafür ein Händchen hatte, schützte Naivität vor wie alle Frauen, die Übung darin besaßen, kriegerische Geister zu besänftigen.
„In dieser Behauptung sehe ich eine deprimierende logische Folge: Wenn ich an Engel glauben soll, muss ich mich auch mit der Existenz von Dämonen abfinden.“
„Nach den alten Schriften soll die Unendlichkeit nur zweiundsiebzig Engeln Platz bieten. Ich stände dann unter der Höllenfuchtel des Geistes Buer, eines zweitklassigen Dämonen. Buer lehrt Natur- und Moralphilosophie, Logik sowie die Wirkungen von Kräutern und Pflanzen. Zweitklassig! Das ärgert mich ein wenig!“
„Sind Sie gläubig, Herr Gödel?“
„Ja, ich betrachte mich als Theist.“
In dieser Lebensphase war ich mir nicht mehr ganz sicher, ob ich das ganze Getue um den Glauben dem Glauben an sich vorzog. Ich mochte die Messe, das Gepränge und die Riten. Kurt hatte es anfangs gar nicht gepasst, als ich hinten im Garten eine Madonnenstatue aufgestellt hatte. Auf protestantischem Boden behauptete ich meine katholischen Wurzeln. Wie auch immer, eine kleine dekorative Heiligenverehrung konnte uns nicht schaden. Mein Mann begnügte sich damit, sonntagmorgens im Bett in der Bibel zu blättern. Sein Glaube war zweifellos fordernder.
„Eine heikle Position für einen modernen Philosophen.“
„Alles hängt davon ab, ob wir von Religion oder vom Glauben sprechen. Neunzig Prozent der heutigen Philosophen sehen ihre Hauptaufgabe darin, den Menschen die Religion aus dem Kopf zu schlagen.“
„Ich habe gelesen, dass Sie zu den Intellektuellen des Wiener Kreises gehört haben, Kurt. Sie wollten die Subjektivität ausmerzen beziehungsweise die Intuition. Ist das nicht eine Ironie, nachdem daraus auch die Psychoanalyse entstanden ist?“
„Ich hatte Freunde und Kollegen beim Kreis, dennoch habe ich mich nicht zum Mitglied erklärt. Ich denke nicht, dass man ihre Forschungen auf diese Behauptung reduzieren kann. Außerdem wäre es mir lieber, wenn Sie mich weiterhin ‚Herr Gödel‘ nennen würden.“
Theolonius war zu vertrauensvoll geworden und hatte die gelbe Linie überschritten. Kurt war gegen ausgefallene Theorien anderer Leute zwar nicht unbedingt allergisch, aber zwei Fauxpas reichten aus, auf dass er sich wieder in sein Schneckenhaus zurückzog: die Vertraulichkeit und die Vorstellung, man könne sich über ihn informieren, bevor man ihn persönlich kennenlernte.
Oppenheimer, noch immer ein bisschen benommen von seinem Nickerchen, kam zu uns an den Tisch.
„Ich bin der Idee der Psychoanalyse nicht abgeneigt – solange man mich nicht zwingt, mich selbst auf die Couch zu legen!“
„Daran ist nichts Schändliches. Unser Freund Pauli macht seit Langem eine Analyse. Er unterhält eine langjährige Korrespondenz mit C. G. Jung.“
Oppenheimer klopfte auf der Suche nach Zigaretten seine Taschen ab. Ich reichte ihm meine Schachtel. Auch Kitty saß auf dem Trockenen.
„Ich frage mich noch immer nach der wissenschaftlichen Legitimation Ihres Berufs, Charles. Schließlich ist der Pantheon der Psychoanalytiker nicht so weit vom Reich der Engel entfernt.“
Oppie war ein sehr viel hartnäckigerer Gegner als Jessup. Hulbeck, der sich eindeutig in seiner Haut nicht wohlfühlte, riskierte keinen Kampf.
„Wollen Sie über die Arbeiten von Jung sprechen?“
An meiner unsicheren Miene schätzte Charles meine Unwissenheit ab und sprang als Dozent ein. So verlor er vor allen Dingen nicht das Gesicht. Er erklärte mir, dass der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung von der Existenz absoluten Wissens ausging, bestehend aus einem kollektiven Unbewussten aus Archetypen, zu dem jeder Mensch unterbewusst Zugang hat. Archetypen sind Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster, die allen Kulturen gemeinsam sind. Man kann zum Beispiel die Gestalt des Riesen aus Andersens Märchen in den Sagen der Indianer oder Papuaner wiederfinden. Die gesamte Menschheit teilt sich ein umfangreiches Repertoire universeller Bilder, die durch alle Gesellschaftsformen und Epochen hindurch Bestand haben. Diese archaische Suppe würzen wir mit unserer individuellen Erfahrung. Ich konnte darin kaum einen Unterschied zur Religion ausmachen: Man vertrieb Teufel und Engel aus dem Himmel, um Feen und Hexen einziehen zu lassen. Aber wenn ich mit dieser außersinnlichen Welt, die meinem Mann so am Herzen lag, kommunizieren sollte, war mir die Welt der Madonna doch tausendmal lieber. Denn auch das spröde Reich der Mathematik war mir noch nie sehr lustig vorgekommen. Egal, was diese tollen, ach so gebildeten Herren sagten – diese Geistesakrobatik war und blieb ein guter Vorwand, um sich nicht mit der Realität herumschlagen zu müssen.
„Das kollektive Unbewusste, Gott, Vorstellungsmuster … Wie man die Welt der Ideen bezeichnet, interessiert mich wenig. Mein Ziel ist, mich ihr zu nähern. Auf geistigem Wege. Über logische Brücken. Oder von der Intuition geführt. Mein Unterbewusstsein zeigt mir den sinnvollsten Weg. Es durchläuft eine Menge Möglichkeiten, die weniger zensiert sind, und richtet einen Scheinwerfer auf eine bestimmte Vorstellung, die mein Verstand nur widerwillig erkundet hätte.“
„Welchen Kriterien folgt denn dann Ihr Unterbewusstsein, um eine bestimmte Vorstellung als triftiger zu qualifizieren als eine andere?“
„Ich halte mich an mein Gebiet, Herr Jessup. Ich bin empfänglich für eine bestimmte Form der Schönheit – die mathematische Eleganz.“
„Das ist eine sehr subjektive Sichtweise und für Nicht-Mathematiker völlig unergründlich.“
„Dessen bin ich mir gar nicht so sicher, Robert. Jeder Mensch hat eine angeborene Sensibilität für die Einfachheit, die Vollkommenheit. Die Eindeutigkeit. Der Wunsch, das Immanente zu berühren, ist universell.“
Theolonius rutschte vor Genugtuung auf seinem Stuhl herum.
„Wundervoll, wie alles Gestalt annimmt, nicht wahr? Eine Erforschung der Schwingungsfelder ohne eine Hierarchie zwischen Naturwissenschaften und Seelenwissenschaften, die nach einer einzigartigen Erkenntnis strebt. Das letzte quantische Abendmahl!“
Oppenheimer drückte ihm seine Zigarette vor der Nase aus.
„Die Quantenmechanik untersucht physikalische Phänomene im atomaren und subatomaren Bereich. Punkt. Es kann sein, dass Pauli und Jung Entsprechungen zwischen der Physik und der Psychologie festgestellt haben – von einer Gleichrangigkeit beider Disziplinen haben sie jedoch nie gesprochen. Meistens geht es um semantische Punkte, nicht um substanzielle Verbindungen. Aber ich kann verstehen, dass es sehr verlockend sein kann, unsere Terminologie zu benutzen, um Zaungäste zu beeindrucken.“
„Stellen Sie das Prinzip der Synchronizität infrage?“
„Versuchen Sie nicht, ein subjektives Phänomen zum Postulat zu erheben und schon gar nicht zu einem wissenschaftlichen Satz! Ein Kausalzusammenhang zwischen zwei persönlichen Erfahrungen ist und bleibt ein Zufall, auch wenn die jeweils eigene Resonanz, die dieser Zufall im Unterbewusstsein eines Individuums auslösen kann, unbestreitbar ist.“
„Diese Resonanz ist der absolute Beweis für die Existenz des Immanenten! Das Bedürfnis, das uns dazu treibt, einen Sinn in einem Ereignis zu suchen, setzt stillschweigend die Präexistenz dieses Sinnes voraus. Warum hätte uns die Natur sonst die Fähigkeit geschenkt, alles zu hinterfragen?“
„Der Begriff ‚absoluter Beweis‘ ist unpassend. Sprechen Sie übrigens von ‚Natur‘ oder von ‚Kultur‘? Warum sollten wir uns denn irgendwo einen Sinn erhoffen, wo es keinen gibt? Die Menschheit wäre nicht zum ersten Mal auf einer vergeblichen Suche.“
„Gott hat der Welt ein Maximum an Sinn verliehen, er hat denselben Ereignissen multiple Werte gegeben, eine Funktion auf einer Vielzahl von Ebenen.“
„Wenn Sie Gott ins Gespräch mit einbeziehen, haben wir uns nichts mehr zu sagen, Gödel.“
„Ich habe Sie schon spiritueller erlebt, Robert. Wohin haben Sie denn Ihre Mahabharata geräumt?“
„Manchmal bin ich diesen Ideen gegenüber misstrauisch, denn sie öffnen der Scharlatanerie Tür und Tor. Die verzweifelte Sinnsuche, die bei allen Menschen virulent ist, macht aus manchen Leuten leichte Beute. Es ist ein kleiner Schritt von der Synchronizität zu sinnbehaftetem Zufall zu Vorahnungen zu Medien …“
„Dann halten Sie mich also für einen Scharlatan, Herr Oppenheimer?“
„Auch ich kümmere mich nicht um Etiketten. Bestenfalls stellen Sie sich dort, wo andere eine schöne Antwort mit Geschenkband erwarten, eine spirituelle Pforte vor. Wenn ich mich recht entsinne, gibt es sogar das entsprechende Krankheitsbild dazu: Apophänie – die Neigung, in zufälligen Gegebenheiten scheinbare Zeichen und Muster zu erkennen.“
Charles sah seine Felle davonschwimmen, er flüchtete sich in die Ironie.
„Apophänie ist ein natürliches Verhalten. Wir verzerren die Realität, um sie mit unserer eigenen Sicht der Welt in Einklang zu bringen. Ich kenne eine Expertin auf diesem Gebiet. Meine Frau!“
Beate packte ihren Mann am Hals und tat so, als wollte sie ihn erwürgen. Kurz hatte ich geglaubt, Charles hätte auf Kurt angespielt, denn auf diesem Gebiet war er der Meister aller Meister. Immer musste ich mir anhören, wie er seine Sandburgen baute und dabei bedeutungslose alltägliche Kleinigkeiten mit großen Prinzipien kreuzte. Er schuf sich eine Welt nach seinem Bild, sie war zugleich mächtig und schwach, logisch und absurd.
„Bevor mich meine Beate wirklich noch umbringt, muss ich Ihnen in jedem Fall noch widersprechen, Robert. Die Psychoanalyse verkauft keine hübschen Antworten, sie schenkt ganz im Gegenteil massive Fragen.“
„Sie schenkt gar nichts, mein Freund, Ihre Sitzungen sind keine kostenlosen Gegebenheiten.“
Ich beschloss, das Gespräch auf weniger unwegsames Terrain zu lenken. Das erste Gebot einer heiteren Tafel war schon lange übertreten: „Bei Tisch redet man weder über Politik noch über Geld.“ Wenn sie jetzt auch noch mit Politik anfingen, wäre unsere kleine Feier ruiniert. Ich spielte den dicken Clown und schlug allen vor, an einer echten parapsychologischen Erfahrung teilzuhaben. Kurt nahm keinen Anstoß daran, wir machten dieses Spiel oft. Er sagte, in ferner Zukunft werde es unverständlich erscheinen, dass die Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts die physischen Elementarteilchen entdeckt hätten, aber die Möglichkeit und große Wahrscheinlichkeit der Existenz elementarer psychischer Faktoren nicht einmal in Betracht gezogen haben. Ich verstand wirklich nicht richtig, was er damit meinte, aber in Telepathie war ich sehr gut. Nach dreißig Jahren Zusammenleben war es ein Überlebensreflex, die Gedanken meines Mannes zu lesen. Es überraschte mich nicht, dass alle Gäste begeistert aufschrien, auch unser sonnengebräunter Guru.
„Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit ,Ptarmoskopie‘, der Weissagung aus dem Niesen. Ich erziele ausgezeichnete Ergebnisse.“
Der ganze Tisch lachte. Ich hatte es geschafft, Carl Gustav Jung wieder auf das Regal der wirren Werke zurückzustellen, das er nie hätte verlassen dürfen.
„Und wie nennt man die Wahrsagerei nach der Laune unserer Frauen?“
Ganz erfrischt von seinem Schläfchen, kam Erich Kahler zum Tisch zurück.
„Menschenverstand, Charles, Menschenverstand. Habe ich etwas verpasst?“
„Ich glaube, das Telefon klingelt, Adele.“
Ich lief ins Wohnzimmer und stolperte unterwegs über Penny, die auf der Treppe schlief. Ich tröstete sie mit einer Liebkosung. Welch ein schöner Nachmittag! Es machte mir solche Freude, Kurt so gesprächig und so fröhlich zu erleben. Ich drehte mich noch einmal um, um ihn lächeln zu sehen.
Leise legte ich wieder auf. Reglos stand ich da, ich lauschte den fröhlichen Stimmen aus dem Garten und sog diese letzten glücklichen Minuten in mich ein.
Als der Schatten der Pappel auf den Hund fiel, ging ich zu Kurt und legte ihm die Hand auf die Schulter. Alle verstummten. Bevor ich noch etwas gesagt hatte, sah ich, dass meiner Freundin Lili zwei Tränen über die Wangen liefen.
„Alberts Aneurysma der Bauchaorta ist geplatzt. Er wurde ins Krankenhaus von Princeton gebracht.“