14.
Januar 1936
Notwendig, aber nicht hinreichend

„Nicht einmal die Hölle könnt’ eine ärgere Tortur aussinnen,
als derjenige sie empfinden muss,
welcher sich um seiner abnormen Stärke willen einer
abnormalen Schwäche bezichtigt sieht.“
Edgar Allen Poe, Marginalia

 

 

Wie seine Familie wollte auch ich glauben, dass Kurts erste Depression ein unglücklicher Umstand war und es dabei bleiben würde. Wenn wir wieder zusammen wären, würde sich seine Gesundheit festigen, ich wäre ihm genug. Nach dem Chaos würde wieder Ordnung einkehren. Aber 1934, nach seiner Rückkehr aus den USA, brach er erneut zusammen, und sein Zustand zwang ihn zu einer langen Erholungskur.

Kurz nach Hans Hahns Tod kündigte sich Kurts zweite Depression an. Sein Doktorvater war am Tag vor dem Attentat auf Dollfuß einem schweren Krebsleiden erlegen. Kurt war damals in Princeton gewesen, es hatte ihn erschüttert, dass er seinem Mentor in dessen letzten Stunden nicht hatte beistehen können. Die Krankheit hatte Hahn innerhalb von drei Monaten dahingerafft. Noch ein Vater, von dem Kurt sich nicht hatte verabschieden können.

Das ist das entropische Prinzip, hätte er schlussfolgern können. Die Unordnung in einem System nimmt grundsätzlich zu. Eine zerbrochene Tasse klebt sich nicht von selbst wieder zusammen. Das Universum ist in Unordnung, es nutzt die Unordnung, um weitere Unordnung zu erzeugen.

Das Sanatorium Purkersdorf wurde also zeitweilig seine zweite Heimat. Mir blieb nichts anderes übrig, als seine seltenen Ausgänge abzuwarten. Dann wurde ich flüchtig umarmt, wir aßen zusammen zu Abend oder taten jedenfalls so. Manchmal gingen wir sogar ins Kino, und dann rannte er schnell zu seiner Mutter, um ihr zu zeigen, dass er Fortschritte machte, denn sie hielt den Schlüssel zu seiner vorübergehenden Freiheit in der Hand. Die rothaarige Anna hatte mir nahegelegt, nicht mehr zu fordern. „Du musst stark sein für zwei, Adele. Das ist deine Lebensaufgabe. Und du kannst dich glücklich schätzen, denn die meisten Leute wissen mit ihrem Scheißleben gar nichts anzufangen.“

Kurt hielt sich nie lange in der Stadt auf, wo ihm die ständigen Spannungen das bisschen Energie raubten, das er noch besaß. Nach und nach verließen die vitalen Kräfte die Universität – jüdische und nazifeindliche Gelehrte waren durch „gute Österreicher“ ersetzt worden, die Dollfuß’ Nachfolger Schuschnigg und damit den austrofaschistischen Machthabern die Treue geschworen hatten. Sosehr Hitler sich auch dagegen verwahrte, den „Anschluss“ zu betreiben – die Hyäne pisste bereits an die Grenze. Nur Mussolinis Zögern verhinderte noch, dass er zur Tat schritt. Die Intellektuellen wanderten von nun an massenweise aus. Kurt verlor dadurch seine besten Freunde, aber auch die notwendige fruchtbare Umgebung für sein Geistesschaffen.

 

Trotz seiner fragilen Gesundheit war Kurt so dumm, eine Einladung nach Princeton zu einer zweiten Gastdozentur für das akademische Jahr 1935/36 anzunehmen. Ich tobte, ich flehte ihn an zu bleiben, ich drohte mit Trennung – er blieb unbeugsam. Weder seine Familie noch seine Ärzte konnten ihn zur Vernunft bringen. Er misstraute Ärzten, dabei war sein eigener Bruder doch Radiologe! Vertrauen hatte er nur in Bücher. Doch als er mehr medizinische Ratgeber konsultierte als Philosophie- und Mathematikbücher, stand ihm eine Rückkehr ins Sanatorium kurz bevor. Im Sommer 1935 zeigte er deutliche Symptome einer Depression. Rudolf hatte sie wohl übersehen, sonst hätte er seinem Bruder niemals erlaubt, auf Reisen zu gehen. Kurt aß fast nichts mehr, er schob das Essen in winzigen Stückchen an den Tellerrand, um seine Appetitlosigkeit zu überspielen. Er klagte über Zahnschmerzen, Bauchweh, er schlief nicht mehr. Er legte sich nicht einmal mehr hin. Er rührte mich nicht mehr an oder aber er zwang sich zu einer Parodie auf den Beischlaf, nur um nicht darüber reden zu müssen. Kurt war schon immer wortkarg gewesen, nun aber hüllte er sich vollständig in Schweigen.

Er reiste im Herbst ab, und ich konnte über meinen mangelnden Einfluss auf diesen schwächlichen, unflexiblen und schlecht beratenen Mann nachgrübeln! Ein paar Tage nach seiner Ankunft in Princeton verschlechterte sich sein Zustand massiv. In seinem letzten Brief schrieb er mir, dass ihm der amerikanische Arzt, an den ihn Institutsleiter Flexner verwiesen hatte, dringend geraten habe, schnellstmöglich nach Wien zurückzukehren. Als ich den Brief bekam, war Kurt schon auf dem Rückweg. Der hilfsbereite Oswald Veblen hatte ihn auf ein Schiff mit Kurs auf Europa verfrachtet und versprochen, seiner Familie nichts zu sagen, um sie nicht zu beunruhigen. Doch er schickte Rudolf ein Telegramm und teilte ihm Kurts Ankunft am 7. Dezember in Le Havre mit. Halb im Koma kam Kurt in Paris an, von dort rief er seinen Bruder zu Hilfe. Doch vergebens. Er blieb noch drei Tage in Paris, dann fand er – wie, weiß ich nicht – die Kraft, mit dem Zug nach Wien zu fahren. Allein.

 

Ich hatte ihn niemals dazu bringen können, mir diese drei Tage zu schildern, aber ich weiß, dass er nie gekannte Qualen durchlitten hatte. Ich habe Jahre gebraucht, um ihm ein paar dürftige Einzelheiten aus der Nase zu ziehen. Ich werde es niemals zur Gänze erfahren, ich werde nie er sein können. Bis heute kann ich mir seine Not nur vorstellen: Ein Mann steht im trüben Licht eines Hotelzimmers vor dem Bett.

Ich sehe, wie er seine Sachen zusammen- und wieder auseinanderfaltet, damit seine Hände etwas zu tun haben. Sehe, wie er sie wäscht und sie an den Handtüchern mit dem aufgestickten pompösen Monogramm des Palace Hôtel trocknet. Wie er ins Restaurant hinuntergeht, ein Essen bestellt, das er nicht anrührt. Die Kellnerin ist hübsch. Sie lächelt ihn an. Er schafft es, ein paar Worte auf Französisch mit ihr zu wechseln. Dann geht er wieder auf sein Zimmer, er steigt zu Fuß die Treppe hinauf, weil er die Zeit körperlich messen will. Er konzentriert sich kurz auf die Zimmernummer auf seinem Schlüssel, um darin ein Zeichen zu entdecken. Er öffnet und schließt die Tür wieder und überlegt, ob er diesen Handlungsablauf zum letzten Mal vornimmt. Ob er zum letzten Mal sein Jackett auszieht und sich auf diesen Stuhl setzt. Schwach nimmt er den Geruch seiner Vorgänger im Zimmer wahr, der noch immer in der Luft hängt. Er langt nach seinem Notizbuch. Er schlägt es auf und wieder zu, streicht über den braunen Moleskine-Einband. Er denkt an das Lächeln der Kellnerin. Und in diesem Augenblick denkt er an mich. An unser letztes Zusammentreffen auf dem Bahnsteig. Ganz genau kann er sich nicht an mein Gesicht erinnern, er sagt sich: „Seltsam, wie unmöglich es doch mitunter ist, die vertrautesten Dinge zu beschreiben.“ Er denkt an Hans Hahn. Er denkt an seinen Vater. Dann hat er eine Idee. Er kann sie nicht greifen, sie entgleitet seinem Geist, bevor sie in den Tiefen verschwindet – ein Karpfen an der Oberfläche eines schlammtrüben Tümpels. Hier, auf diesem Stuhl, der ihm in den Rücken drückt, bewegt er sich nicht, um diesen Gedanken nicht zu vertreiben. Er wagt es nicht einmal, sein Notizbuch aufzuschlagen. Er hat die Idee, dass die Idee möglicherweise noch greifbar ist, wenn er reglos verharrt. Wenn er nicht in dem undurchsichtigen Wasser rührt. Er erinnert sich an unseren letzten Streit, an meine harten Worte, Worte, die man einem Mann wie eine Ohrfeige versetzt, wenn er nicht mehr atmet. „Du bist ein Mann, verdammt noch mal! Iss! Schlafe! Vögle!“ Er weiß nicht, wie lange er schon auf diesem Stuhl sitzt. Sein Rücken erinnert ihn an die vergangenen Stunden, und er mag diesen Schmerz. Am frühen Morgen schließt er das Fenster und packt seinen Koffer.

Er, der ein ganzes Leben gebraucht hatte, um sich umzubringen, hätte seine Qualen in Paris abkürzen können. Niemand hätte ihn dort daran gehindert. Aber er kam nach Wien zurück und ging aus freien Stücken ins Sanatorium. Weder meine Liebe zu ihm noch die Liebe seiner Mutter erklärten diese Entsagung, sein Glaube noch viel weniger. Er musste auf Befehl einer anderen, sehr viel stärkeren Natur gehandelt haben: ein letztes Aufbäumen des Körpers gegen seinen kannibalischen Geist.

Vielleicht bin ich dazu verdammt, dort eine Dualität zu sehen, wo es nie eine gegeben hat.

 

Eines Morgens im Januar 1936 sah ich Bruder Rudolf durch den Wust von Auslagen im Schaufenster meines Vaters. Ich dachte: Kurt ist gestorben. Aus welchem anderen Grund hätte er sich herabgelassen, zu mir zu kommen? Seit Kurts katastrophaler Rückkehr existierte ich nur noch in Klammern, nachdem er in Purkersdorf unter strenger Isolation stand. Nicht einmal Anna konnte mir noch helfen. Die wenigen Informationen, die ich von seinen Krankenschwestern aufschnappte, waren erschreckend. Er verweigerte jede Nahrung und schlief den ganzen Tag, völlig benommen von den Medikamenten. Ich wagte nicht, mir die beiden einzigen Möglichkeiten einzugestehen, die es gab: Entweder ich wartete auf einen internierten Mann ohne Hoffnung auf Heilung oder ich wurde Witwe ohne das Recht, meine Trauer zu zeigen. Ich konnte nicht einmal davonlaufen. Ich konnte bei diesem Verfall einfach nur zusehen.

Ich setzte mich hin und schloss die Augen. Ich hörte das piepsige Türglöckchen, dann den sachlichen Gruß, den Rudolf an meinen Vater richtete. Reglos wartete ich auf den Urteilsspruch.

„Fräulein Porkert? Kurt möchte Sie sehen.“

Rudolf hatte sich der äußersten Mühe unterzogen und Kontakt mit mir aufgenommen – wenn Kurt also noch nicht tot war, dann war er jedenfalls nicht mehr weit davon entfernt.

„Es geht ihm extrem schlecht. Er weigert sich, etwas zu sich zu nehmen. Er glaubt, dass die Ärzte ihn vergiften wollen. Würden Sie mich bitte nach Purkersdorf begleiten? Er braucht Sie.“

Mein Vater sagte nichts, er hatte es schon lange aufgegeben, seine verlorene Tochter retten zu wollen. Oben packten meine Schwestern tuschelnd meine Sachen. Meine Mutter half mir zärtlich beim Ankleiden. Das Eindringen der nackten Wahrheit anstelle des üblichen Nichtgesagten hatte mich in eine Puppe mit verrenkten Gliedern verwandelt. In den Augen meiner Familie war Rudolfs Besuch jedoch der Beweis für die Bedeutung, die ich im Leben dessen hatte, über den man nie sprach, dieses Phantoms, das schuld war an meiner Entehrung.

Rudolf fuhr mich im Wagen zum Sanatorium. Im langen Schweigen auf der Fahrt kam ich wieder zur Besinnung. Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel – die Brüder Gödel waren sich kaum ähnlich, es sei denn in dieser steifen Traurigkeit, die ihr Wesen ausmachte. Erst als wir die Vororte Wiens erreicht hatten, gab Rudolf kurz angebunden ein paar Sätze von sich. Dem „Warum“ und „Wer trägt die Schuld“ wichen wir aus. Wir hielten uns an die Tatsachen, trafen Arrangements: Wer würde sich an welchen Tagen um Kurt kümmern. Worte ohne jedes Gefühl. Kurt hätte die strikte Objektivität unseres Dialogs geschätzt. Man wollte mich den behandelnden Ärzten als eine sehr enge Freundin der Familie vorstellen, um einen Skandal zu vermeiden. Man wollte kein Aufhebens machen, wollte ihn nicht brüskieren. Man wollte lediglich versuchen, diesen letzten, so brüchigen Faden nicht zu durchtrennen. Wir liebten jeweils einen anderen Menschen.

Rudolf parkte vor der Klinik. Trotz des fahlen Winterlichts strahlte das schneeweiße Gebäude eine unverschämte Gesundheit aus. Mit der Zeit hasste ich seine kleinen geometrischen Friese, diese triumphierende Modernität bei seiner gleichzeitigen Unfähigkeit, das Unwohlsein der Patienten zu kurieren.

Rudolf rührte sich nicht mehr, seine behandschuhten Hände umklammerten das Lenkrad. Ohne mich anzusehen, sagte er schließlich das, was gesagt werden musste:

„Ich hätte ihn in Paris abholen sollen.“

Ich strich ihm am Saum des Handschuhleders über den Streifen aschgrauer Haut. Dieser Mann hier war genauso zerbrechlich, auch wenn er es nicht zeigte. Alle sind so zerbrechlich.

„Das hätte nichts geändert. Das wissen Sie genau.“

Er versteifte sich bei meiner Berührung. Ich war eine schlechte Lügnerin – selbstverständlich hätte er Kurt in Paris abholen sollen, aber mehr noch: Er hätte ihn gar nicht erst gehen lassen dürfen.

„Unsere Mutter weiß nichts von Ihrer Anwesenheit. Kurt ist nicht in der Lage, mit so einer Situation umzugehen.“

„Ich werde mich darum kümmern. Glauben Sie nicht, dass ich diese Wendung der Dinge für einen Sieg halte, mein Herr.“

Ich wartete, bis er um den Wagen herumgegangen war und mir die Tür öffnete. Erhobenen Hauptes betrat ich die Klinik – dieses Mal durch den Vordereingang.

Sein Leben, unsere Geschichte, die Zukunft des Landes – alles war durcheinander. Ich musste in diesem Saustall aufräumen. Wenn wir eine Zukunft haben wollten, musste ich lernen, das Chaos zu zügeln. So bin ich nun mal: Sagt mir, dass ich gebraucht werde, und ich versetze Berge!