25.

Gestern Abend hatte Elizabeth Glinka eine Nachricht im Institut hinterlassen: Adele war aus der Intensivstation entlassen worden. Ihr Arzt gab sich zuversichtlich. Der Zustand der alten Dame hatte sich nicht verschlechtert. Anna, die drei Tage lang in ihrer Wohnung umhergetigert war, war zur Seniorenresidenz gefahren, nachdem sie die sehr spezielle Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, erledigt hatte.

Sie klopfte an die offen stehende Tür. Aus einem Radio erklang leise Jazzmusik. Anna war erstaunt, als sie das übliche „Kommen Sie rein!“ hörte, gerufen mit munterer Stimme.

„Sind Sie auch nicht zu müde, um mich zu empfangen, Adele?“

„Ich bin unsterblich, meine Hübsche. Die Gödel ist wie Unkraut, das nicht vergeht. Ich bin in besserer Verfassung als Sie. Sie sind ja so blass.“

Anna leugnete es nicht. Am Morgen im Bad hatte sie den Blick in den Spiegel vermieden.

„Ein Schlückchen Whiskey? Das wird unsere Gedanken ordnen. Keine Sorge – ich begnüge mich mit meiner Infusion. Ich weiß ja nicht, was sie da reinkippen, aber ich kann das Zeug nur empfehlen. Nein? Wirklich nicht? Dann vielleicht ein Keks? Elizabeth hat mir Sachen dagelassen, mit denen ich ein ganzes Regiment füttern könnte.“

Anna winkte ab. Sie hatte Hunger, aber keine Lust, etwas zu essen. Beide Empfindungen waren bei ihr seit Wochen nicht mehr verbunden.

„Sie haben Elizabeth gefallen. Und sie ist eine der wenigen Personen, denen ich noch immer vertraue, obwohl sie zur Geschwätzigkeit neigt. Jetzt essen Sie doch ein Keks! Sonst verlieren Sie ja noch im Gehen Ihren Rock – auch wenn das kein großer Verlust wäre.“

Die junge Frau nahm schließlich ein Stück Gebäck – viel zu süß.

„Sie hatten Angst, ein leeres Bett vorzufinden und Ihre Arbeit nicht beenden zu können.“

Anna zwang sich, den Bissen schnellstmöglich hinunterzuschlucken.

„Sie wissen ganz genau, dass das nicht stimmt.“

„Tut mir leid. Das ist eine Art Reflex bei mir. Mein Gott! Habe ich gesagt: ‚Tut mir leid‘? Sie sind ansteckend! Stellen Sie das Radio lauter, das ist Chet Baker. Ach, was hatte er für ein Engelsgesicht! Und was ist nun aus ihm geworden? Angeblich nimmt er Drogen.“

„Heutzutage nimmt jeder Drogen.“

„Lange vor dem Krieg hat man in Wien schon Opium geraucht und Kokain gezogen. Jede Generation meint, sie hätte das Feiern und die Ernüchterung erfunden! Verzweiflung kommt nie aus der Mode, genauso wenig wie die Nostalgie.“

„Auch Nostalgie ist eine Droge.“

„Papperlapapp! Schöne Erinnerungen sind der einzige Reichtum, der einem nicht gestohlen werden kann. Aber wie dem auch sei – außer meinem Radio durfte ich kaum etwas hierher mitnehmen. Und dann muss ich es auch noch leise stellen, um die Scheintoten nicht aufzuwecken!“

Adele summte und plapperte My Funny Valentine mit dünnem Stimmchen mit, ihre verdächtige Fröhlichkeit fiel Tropfen für Tropfen aus dem Infusionsbeutel.

„Ich höre nur mehr die Melodie, meine Ohren lassen nach, sie hören, was sie hören wollen. Die Musik überlebt den Text.“

„Aber Sie reden doch.“

„Ich habe ein Leben in Stille nachzuholen, meine Schöne.“

Adeles Blick fiel auf die kleinen grünen Blätter, die aus Annas Tasche lugten.

„Kamelien! Meine Lieblingspflanzen. Sie sind wahrlich eine sehr gut informierte Dokumentarin.“

„Ich habe sie in der Linden Lane gepflückt. Der Garten ist schlecht gepflegt, aber noch immer schön. Ich wollte Ihnen neueste Nachrichten von Ihrem Haus bringen, es muss Ihnen fehlen.“

„Ich habe mich seit über vierzig Jahren nicht mehr zu Hause gefühlt. Seit unserer Abreise aus Wien war ich immer im Exil.“

Der Infusionsschlauch war zu kurz, die alte Dame schaffte es nicht, die Pflanzen zu berühren. „Geben Sie her, bevor die Hexe in den Galoschen sie mir wieder wegnimmt!“ Ihr zerfurchtes Gesicht hellte sich auf, als sie an den prächtigen Blüten roch. Anna nahm dieses Lächeln als Belohnung. Nachdem sie in der Linden Lane vergebens geläutet hatte, hatte sie sich überwinden müssen, heimlich das Privatgrundstück zu betreten. Aber sie hatte sich kein anderes Geschenk vorstellen können, um ihre Schuldgefühle zu kompensieren. Adele zerrieb eine Blüte, dann hielt sie diese unter die Nase und seufzte.

„Sie riechen nicht sehr stark, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie sich bis so spät im Jahr halten würden.“

Auch Anna nahm eine Blüte, der schwache Duft konnte es nicht mit dem starken Zimtgeschmack in ihrem Mund aufnehmen. Sie schob die Blüte in die Tasche – sie würde sie als Lesezeichen benutzen.

„Der Winter lässt auf sich warten.“

„Das Wetter! Das ist ein Thema für alte Leute. Wissen Sie, wie sehr Kurt mir damit auf die Nerven gegangen ist? Er war mit seinem Barometer verheiratet. Zu heiß, zu kühl, zu viel Wind … Der größte Logiker der Welt! Der König der Langweiler! Ja.“

„Wie können Sie so über Ihren Mann reden?“

„Sie haben mir heute Morgen ein Wahrheitsserum eingeflößt. Dieser Mann hat mir das Leben zur Hölle gemacht!“

Adele steckte ihre heitere Miene in die Blüten. Anna hatte sich darauf vorbereitet, eine sterbende Frau zu besuchen – solche Ausbrüche hatte sie nicht erwartet. Ganz kurz war sie versucht, Adele zu sagen, dass sie wusste, wie das Leben mit solchen überirdischen Nervensägen war. Mit sechs Jahren konnte Leonard bereits mit Nullstellen dividieren, während es Anna noch Schwierigkeiten bereitete, mit Rest zu multiplizieren. Mit zwölf Jahren erlaubte er es sich, die Arbeit seines eigenen Vaters, eines Mathematikers, zu kommentieren, der es langsam bereute, in seinem Sohn diese unstillbare Wissbegier geweckt zu haben. Leo, ein Choleriker und Charismatiker, ließ sich in nichts einschränken. Wie ein Bild seiner Selbstbezogenheit war er sich ausschließlich selbst verpflichtet. Von Kindesbeinen an hatte er seine Eltern genervt – und „bijektiv“, wie er gern sagte: gegenseitig. Die Adams taten alles, um das frühreife Kind zu disziplinieren, aber in der Pubertät waren die natürlichen Gegensätze aufgebrochen, und Leo war in der Tat ein Außerirdischer geworden. Um seine Körpersäfte zu läutern, hatte man ihn ins Internat gesteckt. Zur großen Erleichterung der ganzen Familie hatte Leos chaotische Jugend am Ende ihre Hoffnungen in ihn doch nicht zerstört. Er hatte es aus eigener Kraft, ohne die Hilfe seines Vaters, es sei denn, aufgrund irgendwelcher genetischer Veranlagungen zur höheren Mathematik, ans renommierte MIT geschafft, das Massachusetts Institute of Technology in Cambridge.

Anna legte ihre Hand beschwichtigend auf Adeles Hand, die gleich einen Teil der warmen Haut packte.

„Ich gebe Ihnen einen Rat, Fräulein: Meiden Sie Mathematiker wie die Pest! Sie pressen Sie aus wie eine Zitrone, sie nehmen Ihnen alles weg, was Ihnen lieb und teuer ist, und sie machen Ihnen zum Ausgleich nicht mal einen kleinen Scheißer!“