28.
1944
Ein atomares Lüftchen
„Einige mir im Manuskript vorliegende neue
Arbeiten von
E. Fermi und L. Szilárd lassen mich annehmen, dass das Element Uran
in absehbarer Zeit in eine neue wichtige
Energie verwandelt werden könnte. Gewisse Aspekte der Situation
scheinen die Aufmerksamkeit der Regierung
und, wenn nötig, rasche Aktion zu erfordern. […]
Das neue Phänomen würde auch zum Bau
von Bomben führen.“
Albert Einstein in einem Brief vom 2. August 1939
an den amerikanischen Präsidenten Roosevelt
„Er ist noch da.“
„Sie werden gleich kommen, Kurt. Mach das Licht wieder an, ich muss den Tisch decken.“
„Sieh selbst!“
Genervt ging ich zum Fenster, neben dem Kurt sich versteckt hatte.
„Gib acht, Adele, er wird dich sehen!“
Ich sah die ruhige Straße hinauf und hinunter. Die Alexander Street war in einem feuchten, dunklen November erstarrt. Ich sah eine einsame Gestalt, die unbekümmert ausschritt – ein Spaziergänger, der in seine Gedanken vertieft war.
„Diesen Mann habe ich heute Morgen schon auf dem Weg zum Institut gesehen. Ich erkenne seinen Hut wieder.“
„Princeton ist klein, Kurt. Es ist ganz normal, dass man denselben Leuten öfter begegnet.“
„Er folgt mir!“
„Mach diese verdammten Fenster zu! Mir wird langsam kalt. Deine Gäste werden schlottern.“
Kurt hatte sich in eine dicke Wollweste gehüllt, die ich selbst gestrickt hatte.
„In dieser Wohnung riecht es so komisch.“
„Jetzt fang nicht wieder damit an! Ich habe den ganzen Tag gelüftet, ich habe Salbei verbrannt. Ich habe gründlichst geputzt. Mehr kann ich nicht tun.“
„Ich rieche die vorigen Bewohner.“
„Du bist überempfindlich. Mach ausnahmsweise mal etwas mit deinen Händen – deck den Tisch und schließ die Fenster!“
Ich ging wieder in die Küche. Ich zitterte trotz des warmen Backofens. Jeden Tag verbrachte ich bei offenen Fenstern und mit den Händen im Waschkessel. Kurt war schon immer krankhaft empfindlich gegenüber Gerüchen gewesen, auch gegenüber Körpergerüchen. Seit wir nach Princeton gezogen waren, hatte sich diese Empfindlichkeit zur Neurose gesteigert. Ich musste mich einer gründlichen Körperreinigung unterziehen, bevor ich zu ihm ins Bett schlüpfte. Schweiß, starke Parfüms oder mein morgendlicher Mundgeruch stießen ihn ab. Wenn ich meine Periode hatte, mied er mich wie die Pest. Natürlich sprach er nicht darüber. Wie hätte er dieses Thema auch anschneiden sollen? Ich hingegen musste mir tagtäglich Berichte über seine Körpertemperatur und die Konsistenz seines Stuhlgangs anhören. Meine eigene innere Maschine interessierte ihn nicht. Jeden Morgen sortierte ich die Wäsche, die gewaschen werden musste, und schnupperte nacheinander an seinen Sachen – weniger um eine unangebrachte weibliche Geruchsspur zu finden, sondern vielmehr um ihn in seiner Abwesenheit zu riechen. Aber er schwitzte nicht. Seine Haut roch kaum, seine Kleider verschmutzten nicht.
Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, beobachtete er noch immer die Straße.
„Meine Güte, Kurt! Der Tisch!“
„Fluch nicht, Adele, und hör auf, dir Stress zu machen! Das ist ja kein Galadinner.“
Ich streckte seinem Rücken die Zunge heraus. Ich deckte den Tisch und betrachtete ihn – kein Tafelsilber, kein feines Porzellan. Die alte Braut hatte kein Recht auf eine wohlbestückte Mitgifttruhe gehabt.
Er rührte sich nicht vom Fenster weg.
„Wo bleiben sie denn? Du hast sie doch auf 18 Uhr eingeladen, oder?“
„Sie müssen zuerst noch Bertrand Russell10 vom Bahnhof abholen.“
„Ich überlege, wann ich das Soufflé in den Ofen schieben soll.“
„Du hättest ein einfacheres Menü planen sollen.“
„Albert Einstein kommt zu uns zum Essen! Wie soll ich da etwas Einfacheres kochen?“
„Er hat einen bodenständigen Geschmack.“
„Er wird nicht enttäuscht sein – in Anbetracht des mangelnden Komforts in dieser Wohnung!“
„Hör auf, dich zu beklagen, Adele. Wir wohnen zwei Schritte vom Bahnhof entfernt, sie werden gleich hier sein.“
„Du und deine Marotte mit Bahnhöfen! Aber nach New York fahren wir nie!“
„Du kannst allein hinfahren.“
„Um welches Geld auszugeben? In letzter Zeit ist alles teurer geworden. Ich muss jeden Cent umdrehen, damit ich zurechtkomme.“
Er hielt sich den Bauch. Ich schluckte meinen Groll, ich wollte, dass dieses Abendessen gelänge.
„Machst du dir Sorgen?“
„Einstein zusammen mit Pauli11 einzuladen war vielleicht keine so kluge Idee. Sie zanken sich immer nur. Relativitätstheorie und Quantenphysik kommen nicht sehr gut miteinander aus. Aber es würde zu weit führen, dir das zu erklären.“
„Ich mag diesen Pauli sehr. Er ist hässlich, aber so charmant!“
„Du darfst nicht nach Äußerlichkeiten gehen, Adele. Wolfgang hat einen gefürchteten Verstand. Manche nennen ihn die ‚Geißel Gottes‘. Er macht alle nieder!“
„Das hat ihn nicht daran gehindert, eine Tänzerin zu heiraten. Wie du. Egal, ob er mittlerweile geschieden ist. Wie Albert. Außerdem ist Pauli Wiener!“
„Versteige dich nicht in Vertraulichkeit mit Herrn Einstein. Kein Mensch nennt ihn beim Vornamen.“
Ich war so glücklich, diese Leute, diese so tollen Leute zu Gast zu haben! Bei Herrn Einstein hatte ich keine Angst, schlecht Englisch zu sprechen – er hatte ja selbst einen fürchterlichen Akzent. Ich hatte ihn sogar im Verdacht, dicker aufzutragen als nötig. Ich kannte ihn damals noch nicht so gut, aber ich fühlte mich wohl in seiner Gesellschaft, denn er machte bei seinen Gesprächspartnern keine Statusunterschiede. Er hörte jedem mit demselben Wohlwollen – oder mit derselben amüsierten Gleichgültigkeit – zu, ob es nun die Größen dieser Welt waren oder die Putzfrauen der Universität. Gleich bei unserer Ankunft in Princeton hatten Kurt und er sich angefreundet. Mehr als ein Passant drehte sich auf der Straße um, wenn dieses merkwürdige Paar vorbeikam, und das nicht nur wegen der enormen Popularität des Physikers. Die beiden waren wie Buster Keaton und Groucho Marx, Sonne und Mond, der Schweigsame und der Charismatiker. Mein Mann, wie eh und je mit Brillantine im Haar und tadellos gekleidet, und Albert, der in seinen ramponierten Kleidern immer so aussah, als sei er gerade aufgestanden. Seit dem „Anschluss“ hatte er keinen Friseursalon mehr von innen gesehen. Die Gespräche auf ihren langen Spaziergängen wurden immer wieder unterbrochen vom explosiven Lachen des Physikers und von dem gehemmten Kichern meines Mannes. Einstein schenkte ihm fast väterliche Aufmerksamkeit. Er bewunderte Kurts Arbeiten und freute sich sicherlich, in ihm einen Gefährten gefunden zu haben, der sich von der Aura, die ihn wie einen Halbgott umgab, kaum beeindrucken ließ. Bei Kurt war Albert ein Wissenschaftler wie jeder andere und kein Aushängeschild. Er besaß eine ungeheure Energie und war sensibel für die Labilität meines Mannes. Vielleicht sah er in Kurt ein wenig seinen jüngsten Sohn Eduard, der seit seinem zwanzigsten Lebensjahr in der Vorhölle der Schizophrenie gefangen war. Selbstredend gehörte ich nicht zu Alberts engerem Kreis, aber zu wissen, dass Kurt einer solchen Berühmtheit nahestand, beruhigte mich ein wenig in Bezug auf seine beruflichen Aussichten im Exil.
„Sie sind da, Adele! Ich sehe schon Einsteins Haarschopf. Meine Güte, er muss schrecklich frieren, der Arme hat ja kaum etwas an!“
Ich blickte auf die Straße und erkannte die mittlerweile legendäre Gestalt des Gelehrten. Mit seinen fünfundsechzig Jahren hatte er noch immer den flotten Schritt eines jungen Mannes. Dass er einen leichten Mantel übergezogen hatte, war zweifellos ein Zugeständnis an seine treue Sekretärin Helen Dukas, allerdings hatte er wie immer vergessen, Socken anzuziehen. Pauli, dessen weiter Mantel die Wohlbeleibtheit des Mittvierzigers betonte, trug den Kopf mit der schütteren Stirn hoch erhoben. Beiden Physikern eilte der Ruf voraus, gute Esser zu sein. Ich hatte vor, sie satt zu machen. Frau Gödels Tafel verließ man nur mit vollem Magen!
„Also musst du jetzt die Fenster schließen. Ich gebe das Soufflé in den Backofen.“
Vor dem Schlafzimmerspiegel blieb ich kurz stehen. Meine Haare waren gewachsen, ich drehte sie ein wenig ein und steckte sie an den Seiten mit Kämmchen hoch. Mein erster großer Erwerb war unter anderem eine Nähmaschine gewesen. Für besondere Anlässe hatte ich mir ein Kleid aus cremeweißem Wollstoff geschneidert, an der Taille war es mit einer langen Reihe kleiner Perlmuttknöpfe gerafft. Die Puffärmel kaschierten die schlaffe Haut an meinen Armen. Ich zog ein wenig an meinen Schläfen. Abgesehen von ein paar Krähenfüßen, hatte ich mich gut gehalten, ich war für mein Alter noch immer attraktiv. Ich zog mein Mieder gerade, überpuderte noch einmal mein Feuermal, zog meine Lippen nach und ließ sie schmatzen. Dieses Geräusch regte Kurt immer auf. Dass er heute Abend auch nörgeln würde, wäre nicht ausgeschlossen. Ich freute mich so, Gäste zu haben! Ich fühlte mich einsam in Princeton, fern meiner Lieben, von denen ich wegen dieses nicht enden wollenden Krieges keine Neuigkeiten hatte. Ich durfte nicht mehr daran denken.
„Sorgen machen Runzeln“, sagte meine Mutter immer. Wie sehr sie in diesen letzten Jahren unter Falten gewelkt sein musste! Mit einer resoluten Bewegung schob ich die Kappe auf den Lippenstift.
Eine halbe Stunde später servierte ich mein zusammengefallenes Soufflé.
„Das ist eine Katastrophe! Es misslingt mir sonst nie.“
Wolfgang Pauli nickte mit seinem hässlichen Schildkrötenkopf, Kurts Mundwinkel hoben sich, und Herr Einstein brach in ein so dröhnendes Lachen aus, dass die Flammen der Kerzen zitterten.
„Dafür können Sie nichts, Adele. Um aufrichtig zu sein, liefern Sie uns damit eine wissenschaftliche Verifizierung – wir haben nämlich gerade über den ‚Pauli-Effekt‘ gesprochen: Allein die Anwesenheit unseres Freundes in einem Labor reicht aus, um jedes Experiment scheitern zu lassen. Und das wirkt sich sogar bis in Ihre Küche aus. Sie hätten sich nicht in die französische organische Chemie stürzen dürfen, gnädige Frau. Bringen Sie mir gute deutsche Hausmannskost!“
„Ich werde Wiener Schnitzel braten.“
„Na, das ist doch ein Wort!“
Kläglich kehrte ich an den Herd zurück – so gern hätte ich einen tollen Eindruck gemacht!
Mit einer riesigen, dampfenden Platte kam ich zurück und sah Einsteins Augen vor Appetit funkeln.
„Sehen Sie sich das an, Pauli – auf die österreichische Küche haben Sie keinen Einfluss!“
Er wartete die Antwort seines jüngeren Kollegen gar nicht ab und stand auf, um mir zu helfen.
„Mein Arzt sagt, ich muss auf meine Ernährung achten. Mein Herz macht langsam Mucken.“
„Meines auch, ich halte streng Diät.“
„Gödel, wenn Sie weiterhin so streng sind, werden Sie noch durchsichtig.“
„Ich dachte, Sie wären Vegetarier, Herr Einstein?“
„Ich weiß die Dame des Hauses zu ehren, Magister Pauli. Ich bin gut erzogen.“
Ich trug den Gästen reichlich auf, dann servierte ich meinem Gatten mit einem verschwörerischen Lächeln sein gekochtes Kalbfleisch.
„Mein Mann schätzt meine Kochkünste nicht.“
„Ich bin älter als Sie, Gödel, tun Sie mir den Gefallen und hören Sie auf Ihre Frau.“
Ohne die Augen zu heben, schnitt Kurt seine karge Kost in winzige Stückchen, die meisten davon würden im Orkus landen.
„Adele bringt mich um mit ihrer Kocherei.“
Die beiden Männer sahen ihn verdutzt an.
„Ein bisschen Krautsalat, meine Herren?“
Ich ließ sie erst die Mägen füllen, bevor ich das Schweigen brach. Ich war begierig auf Komplimente und auf Gespräche – zwei notwendige Nahrungsmittel, die ich seit Jahren vermisste.
„Ich bin sehr geschmeichelt, Herr Einstein, Sie in meinem Haus empfangen zu dürfen!“
„Ach! Noch eine Bewunderin!“
„Kurt will mir Ihre Arbeiten nicht erläutern. Er meint, ich würde es sowieso nicht begreifen.“
Mein Mann sah mich mit großen Augen an. Ich war nicht derartig eingeschüchtert, weil ich das größte Genie des 20. Jahrhunderts zu Tisch hatte. Ich wusste, dass Albert für Schmeicheleien unempfänglich war, dennoch befolgte ich meine Methode: die Männer über ihre Arbeit oder über ihre sportlichen Leistungen reden lassen. Bei den Anwesenden musste ich gar nicht zwischen diesen beiden Optionen wählen. Albert blickte mich belustigt an. Er deutete mit der Gabel auf meinen Mann.
„Das ist nicht fair, Gödel! Ich musste Ihre Arbeit schon so manches Mal darlegen und habe dabei Blut und Wasser geschwitzt.“
„Entschuldigen Sie bitte die Unhöflichkeit meiner Frau, Herr Einstein. Adele ist mitunter gedankenlos. Sie hat keinerlei wissenschaftliche Kenntnisse. Dass sie immer ihre Nase hineinstecken will, ermüdet mich.“
„Ist doch ein hübsches Näschen! Zudem wird Adele die Grundzüge der Relativitätstheorie zweifellos schneller erlernen als ich das Kochen.“
Pauli zog zweifelnd eine Augenbraue hoch.
„Bestimmte Gebiete erlauben keine Vereinfachung.“
Einstein erstickte den Einwand mit einem Stück Schnitzel.
„Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen die Spezielle Relativitätstheorie konzise darlege – ich bin daran gewöhnt. In dreißig Jahren habe ich eine sehr klare Antwort destilliert.“
Er machte eine Kunstpause – seine beiden Kollegen verharrten mit dem Besteck in der Hand.
„Würden Sie mich mit Wolfgang allein zu zweit lassen, würde mir dieses Essen wie eine Ewigkeit vorkommen. Allein mit Ihnen aber, Adele, käme es mir vor wie eine Minute. So, das ist Relativität.“
Dieses Mal seufzte der junge Physiker rückhaltlos. Einstein bedachte ihn mit einem kumpelhaften Schlag auf den Rücken.
„Um ganz ehrlich zu Ihnen zu sein, gnädige Frau – ich könnte Ihnen die Relativität in einfachen Begriffen erklären, aber Sie würden Jahre brauchen, um sie zu begreifen und um die Grundlagen zu beherrschen, auf denen sie baut.“
Pauli massierte seine malträtierte Schulter.
„Alle Welt meint heutzutage, die Relativitätstheorie zu kennen. Es schadet der Wissenschaft, wenn man zu viel popularisiert.“
„Immer mit der Ruhe, mein lieber Zweistein“ – das war Paulis Spitzname. „Sie kommen schon noch an die Reihe. Eines Tages werden auch Sie von ganzen Horden ekstatischer Studentinnen bestürmt. Sind Sie auf so viel Ruhm vorbereitet? Wie würden Sie Ihr Ausschließungsprinzip einem Schüler erklären?“
„Ich würde mich schlicht und ergreifend weigern.“
„Wenn Sie einem sechsjährigen Kind einen Begriff nicht erklären können, dann weil Sie ihn selbst nicht zur Gänze begriffen haben.“
„Sie sollten wieder auf vegetarische Nahrung zurückgreifen, Herr Einstein. Zu viel Fleisch trübt Ihren Geist.“
„Ich verlange ja gar nicht, dass Sie ins Detail gehen, Pauli. Ich stelle nur fest, dass Sie als junger, schlauer Fuchs in der Quantenmechanik nicht in der Lage sind, Ihr Konzept sinnlich wahrnehmbar zu machen, indem Sie dafür eine objektive Abbildung in der erfahrbaren Realität liefern.“
„Sie sind böswillig, Herr Einstein. Dass man eine Theorie auf einfache Begriffe reduzieren kann, war noch nie ein Beweis für ihre Gültigkeit.“
„Das Verhalten Ihrer Elementarteilchen ist und bleibt so chaotisch wie das einer Meute Frauen beim Schlussverkauf im Kaufhaus Barney’s – wenn Letztere auch berechenbarer sind. In diesem Russischen Salat aus Komplexität und Zufall sehe ich keinerlei Kohärenz. Meiner Ansicht nach ist Gott scharfsinnig, boshaft aber ist er nicht.“
„Noch wäre seine Existenz zu beweisen.“
„Fragen Sie Doktor Gödel. Das ist sein Steckenpferd.“
Kurt biss die Kiefer zusammen und schob seine Hungerration von sich.
„Diesen Anspruch habe ich nicht. Alle würden mich für einen Erleuchteten halten.“
Pauli aß seinen Teller leer, dann legte er geräuschlos sein Besteck darauf ab. Wir warteten auf die Gegenoffensive.
„Mein lieber Einstein, wir sollten unsere Gastgeberin nicht als Geisel unserer Querelen nehmen. Sie wird mir verzeihen, wenn ich davon absehe, ihr zu antworten oder die Klinge mit Ihnen zu kreuzen. Dem bin ich nicht gewachsen.“
„Na, na, Pauli, um sich bescheiden zu geben, sind Sie nicht gut genug.“
Ein Engel aus Blei schwebte über dem Tisch. Einstein holte ihn mit einer Lachsalve herunter.
„Wie gern ich Sie provoziere, Wolfgang! Das ist immer eine bereichernde Erfahrung. Seien Sie beruhigt: Sie sind die Zukunft, ich bin Vergangenheit, das weiß jeder. Nehmen Sie noch von diesem herrlichen Krautsalat! Das putzt durch.“
Mein Mann war aschfahl. Die Rivalität der beiden Physiker unter dem Mäntelchen des Spaßes stresste ihn. Ich suchte schnell einen Themenwechsel.
„Wie ist denn Ihr Treffen ausgegangen? Warum hast du Herrn Russell nicht auch eingeladen, Kurt?“
Ich hätte den englischen Lord von aufreizendem Ruf gern kennengelernt. Gerüchten zufolge hatte seine zweite Frau während ihrer Ehe zwei Kinder von ihrem Geliebten bekommen. Russell hatte sich von ihr scheiden lassen und die Gouvernante der Kinder geheiratet. Im Puritanerland USA war er für moralisch ungeeignet befunden worden, Studenten zu unterweisen. Durch seine libertären Auffassungen war er zur Persona non grata geworden. Kurt, dessen Berufung zum Logiker von Russells Hauptschrift Principia mathematica, dem Grundlagenwerk der Logik, genährt worden war, empfand tiefen Respekt vor diesem für seine pazifistischen Überzeugungen geächteten Mann. Man hatte dem Aktivisten gegen den Kriegsdienst während des Ersten Weltkriegs die Professur in Cambridge entzogen, und später hatte er wegen eines Artikels gegen den Kriegseintritt der USA ein halbes Jahr im Gefängnis gesessen.
„Glauben Sie mir, Adele, Russell hätte Ihre österreichische Küche nicht angemessen zu würdigen gewusst. Und wir hätten eine Antiquität zu viel bei Tisch gehabt! Den guten Bertrand scheint die moderne Logik überholt zu haben – so wie auch ich mir von Ihren jungen Kollegen ans Bein gepinkelt fühle. Schenken Sie mir ein, Pauli.“
„Das Kompliment gibt Russell Ihnen zurück, Professor Einstein. Für ihn sind Sie und Gödel platonische Dinosaurier. Nach seinen Worten hätten Sie einen ‚deutschen‘ und ‚jüdischen‘ ‚Hang zur Metaphysik‘.“
„Physik ohne Philosophie ist lediglich Ingenieurswesen. Russells zweifelhafte Bonmots können mich nicht vom Gegenteil überzeugen.“
„Ist Ihr Sohn denn nicht selbst Ingenieur?“
„Wenn Intelligenz erblich wäre, wüsste mein Sohn es. Meine Schwiegertochter begnügt sich mit der Bildhauerei, das ist erholsam. Aber lenken Sie nicht vom Thema ab, Pauli! Ich bestehe darauf: Die Wissenschaft verliert ihre Seele, wenn sie sich von der Philosophie entfernt. Unsere illustersten Entdecker waren Humanisten. Sie hingen nicht der heutigen Dichotomie an – sie waren Physiker, Mathematiker und Philosophen.“
„Erbarmen! Fangen Sie jetzt nicht wieder mit diesem erkenntnistheoretischen Streit an. Sonst muss ich Adele alles erklären. Dazu habe ich keine Kraft.“
„Was definiert ist und was definiert werden kann, ist eng verbunden, sicherlich. Aber für mich übersteigt das, was definiert ist, bei Weitem das, was wir heute definieren können.“
„Wenn das so ist, dürfen Sie nicht infrage stellen, was in der Quantenphysik definiert ist – unter dem Vorwand, man könne es heute nicht in all seiner Umfänglichkeit definieren.“
„Ich sprach von Philosophie. Hören Sie auf, die Decke der Atome ganz zu sich zu ziehen, Pauli! Was sagen Sie dazu, Gödel?“
„Nichts hindert uns daran, in Russells Sinn weiterzumachen. Ich habe durchaus vor, mich dieser Aufgabe als Logiker und als Philosoph zu verschreiben. Ich glaube an eine Axiomatisierung der Philosophie. Diese Disziplin ist heute bestenfalls dort, wo die Mathematik bei den Babyloniern war.“
„Ich erkenne darin Ihre Liebe zu Leibniz.12 Dennoch – ist das nicht sogar für Sie zu ambitioniert?“
„Mein Leben ist zu kurz für so ein Pensum. Ich denke, dass ich jung sterben werde.“
Einstein bewarf ihn mit einem Brotkügelchen.
„Kommen Sie wieder auf den Boden! Sie werden ein langes Leben und eine fruchtbringende Karriere haben, vor allem wenn Sie den Rat Ihrer charmanten Gattin befolgen: Essen Sie!“
Mit dem Blick in die Ferne gerichtet, stocherte Pauli in seinen Zähnen.
„Genau wie unser sagenhafter Einstein haben auch Sie Ihren Weißen Wal, Gödel: dem einen seine vollständige einheitliche Feldtheorie, dem anderen seine axiomatisierte Philosophie. Damit sind Sie bis zur Emeritierung beschäftigt, liebe Kollegen. Sie dürfen mir gern ein Telegramm schicken, wenn Sie am Ziel sind – ich bringe Ihnen dann Blumen.“
„Sie halten mich für einen alten Knacker. Aber Obacht: Der alte Albert hat noch Saft und Kraft!“
„Worum geht es bei dieser einheitlichen Feldtheorie?“
„Ihre liebe Frau ist unersättlich, Gödel!“
„Fühlen Sie sich nicht zu einer Antwort verpflichtet, Herr Einstein. Sie wird es nicht verstehen.“
„Nicht so zimperlich, Gödel! Ich unterziehe mich gern dieser Art von Übung.“
Er drückte vor meinen Augen eine Brotkugel zusammen.
„Auf die physische Welt wirken vier Grundkräfte ein, gnädige Frau: Elektromagnetismus, schwache Kernkraft – die radioaktive Zerfallsprozesse bewirkt –, starke Kernkraft – die den Zusammenhalt von Materie bewirkt –, und …“, er warf Pauli das Kügelchen zu, „… die Schwerkraft. Alle Körper ziehen sich gegenseitig an. Natürlich meine ich damit nicht die fleischlichen Anziehungskräfte meines jungen Freundes hier, für die ich wenig empfänglich bin. Jedenfalls ist diese so kleine Kraft ein enormer Stein im Schuh der Physiker. Wir schaffen es nicht, die Schwerkraft in ein zusammenhängendes Modell mit den drei anderen Kräften zu packen. Dennoch können wir ihre Existenz in jedem Augenblick unseres Lebens verifizieren. Ich falle, du fällst, wir fallen immer mal wieder von oben nach unten. Wundersamerweise aber fallen die Sterne uns nicht auf den Kopf. Kurz, Sie sehen, wie ich Pauli aus purem Spaß am Spiel foppe. Wir haben beide recht, aber nicht zur selben Zeit. Wir legen zwei korrekte Beschreibungen der Welt vor – er beschreibt sie in den allerkleinsten Teilchen, ich in den allergrößten Dimensionen. Nun hoffen wir, uns eines Tages in einer wundervollen einheitlichen Theorie unter dem Jubel der Massen, unter Girlanden und Blumen zu versöhnen. Ich arbeite unermüdlich daran, denn Wolfgang liebt Blumen.“
Als hätte Kurt eine ganze Raum-Zeit-Schleife verpasst, kam er wieder auf das vorige Thema zurück:
„Wie dem auch sei, Russell mag Princeton nicht. Er ist so britisch! Er sagt, die Universität würde mit ihren neogotischen Gebäuden Oxford nachäffen.“
„Damit hat er ja nicht ganz unrecht. Und Sie, Adele, wie haben Sie sich in Princeton eingelebt?“
„Ich sehne mich nach Wien. Princeton ist sehr provinziell. Die Leute sehen mich schief an, weil ich einen Akzent habe.“
„Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil. Man hat sogar den Sohn meines Freundes Max von Laue beim Segeln verhaftet. Er wurde verdächtigt, Signale an feindliche U- Boote zu senden! Sein deutscher Akzent hatte ihn verraten.“
„Meine Frau weigert sich, Englischunterricht zu nehmen.“
„Dazu habe ich keine Zeit.“
„Wenn du das Hausmädchen nicht entlassen hättest, so hättest du Zeit.“
Ich sagte nichts. Ich musste mich von meiner Haushälterin trennen, weil ich sie im Verdacht hatte, uns zu bestehlen. Wenn ich ganz ehrlich sein wollte, so konnte ich mich nicht daran gewöhnen, jemanden zu haben, der in meinen Diensten stand. Aber es wäre mir peinlich gewesen, vor unseren Gästen diesen, wie ich wusste, proletarischen Reflex zu äußern.
„Sie haben kein Sitzfleisch – ständig ziehen Sie um.“
„Kurt kommt dem Institut immer näher. Wir wohnen gleich beim Bahnhof. Er wollte diese Wohnung mieten, weil sie ringsherum Fenster hat. So können wir lüften.“
„Ich denke, ich habe verstanden. Sogar mir ist kalt, Gödel. Schließen Sie die Fenster.“
Mein Mann erhob sich widerwillig.
„Ich mache den Haushalt, ich gehe ins Kino, ich koche für Kurt Essen, das er nicht isst. Ich stricke und nähe für das Rote Kreuz.“
„Sie beteiligen sich an den Kriegsanstrengungen.“
„Es ist wenig. Ich beschäftige meine Hände, damit ich nicht so viel nachdenken muss.“
Nun knetete Pauli Brotkügelchen. Unsere Gäste langweilten sich.
„Keine Sorge, dieser verfluchte Krieg nähert sich seinem Ende. Im September sind die Alliierten in Deutschland einmarschiert. Es ist nur noch eine Frage von Monaten.“
„Wir können nichts tun außer zu warten. Vielleicht sollten auch wir anfangen zu stricken, mein lieber Gödel.“
„Ich beschäftige mich lieber mit meiner eigenen Arbeit, Herr Einstein.“
Unser Landsmann lächelte – wie ich sah auch er einen Logiker vor sich, der sich in seinen Stricknadeln verhedderte.
„Was für ein Schwachsinn, dass das Land sich Ihre zwei Gehirne entgehen lässt, mit dem Argument, dass Sie deutsche Pässe haben!“
„Wie das? Verdächtigt man Herrn Einstein, für die Nazis zu spionieren?“
„Meine liebe gnädige Frau, das Verteidigungsministerium hat mich im Verdacht, Sozialist beziehungsweise Kommunist zu sein, was in seinen Augen eine ansteckende Krankheit ist. In seiner ausufernden Großzügigkeit hat die Marine mir erlaubt, zusammen mit meinem alten Freund Gamow ballistische Berechnungen bei Torpedos anzustellen.“
Mein Mann verdrehte empört die Augen.
„Sie sollten das nicht vertiefen, Herr Einstein. Wir werden sicherlich überwacht.“
„Na, sollen sie mich doch überwachen! Ich habe das Originalmanuskript der Speziellen Relativitätstheorie versteigert, ich habe ihnen sechs Millionen Dollar gegeben. Hitler hasst mich mehr als seine eigene Mutter. Ich habe persönlich an Roosevelt geschrieben und ihm die unabdingbare Notwendigkeit nuklearer Forschungen nahegelegt. Und nun verdächtigen sie mich? Welch eine Ironie!“
„Reden Sie nicht so laut!“
„Was können sie mir anhaben, Gödel?“
„Sie könnten von feindlichen Agenten entführt werden. Haben Sie daran nie gedacht?“
Einstein schlug sich auf die Schenkel, als hätte er einen guten Witz gehört.
„Sie sollten Spionageromane schreiben! Wer sollte mich entführen – so gut überwacht, wie ich bin? Selbst wenn ich Prostataprobleme hätte, wäre FBI-Direktor John Edgar Hoover darüber informiert. Sie haben viel zu viel Angst, dass ich mich öffentlich gegen den Einsatz dieser verdammten Bombe äußern könnte. Und Roosevelts Wiederwahl beruhigt mich kaum.“
„Es ist mitnichten gesagt, dass die Nukleartechnik in nächster Zeit beherrscht werden kann.“
„Lieber Gödel, Ihre Naivität ist erfrischend wie ein Sonnenstrahl! Glauben Sie mir, die Bombe ist bereit. Haben Sie sich in letzter Zeit nicht ein wenig einsam gefühlt in Princeton? Die Armee hat die Koryphäen des Instituts rekrutiert. Robert Oppenheimer ist aus dem Verkehr gezogen worden. John von Neumann ist zu einem einschlägigen Namen geworden.13 Man muss nicht Gott sein, um zu erraten, was sie machen – um die Technik voranzutreiben, gibt es nichts Besseres als einen schönen, kleinen Krieg.“
„Militärische Übermacht ist der Schlüssel zum Frieden.“
„Ihren Optimismus möchte ich haben, Pauli! Allein die Idee der Abschreckung läuft dem militärischen Gedanken zuwider. Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich ihn schon; er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde. Man kann die Militärs nicht um ihr neues Spielzeug bringen. Das wäre so, als würde man ein Geschenk eingepackt unter dem Weihnachtsbaum stehen lassen.“
„Sie selbst haben anfangs diese Arbeiten begleitet.“
„Und das unter einem schrecklichen inneren Zwang! Ich bin überzeugter Pazifist. Aber die grauenerregenden Augenzeugenberichte aus Europa zwangen mich zum Umdenken. Wenn Hitler diese Bombe in die Hände bekäme, würde es keinen geben, der ihn daran hindern könnte, sie auch einzusetzen.“
Mit der Messerspitze schnitzte Pauli an dem Brotkügelchen herum, das schon ganz grau geworden war.
„Dieser Irre hat alle namhaften Wissenschaftler in die Flucht geschlagen. Indem er die ‚jüdische‘ Wissenschaft verfolgt hat, hat er den faulen Ast abgesägt, auf dem er selbst sitzt.“
„Sie machen meiner Frau Angst, Herr Einstein. All dieses Grauen werden wir bald hinter uns haben.“
Einstein wischte sich den Mund ab und tätschelte seinen Bauch, bevor er die Serviette auf den Tisch warf.
„In der Geschichte der modernen Zivilisation hat es noch nie eine solch schwarze Zukunft gegeben. Denn ganz sicher werden andere Konflikte kommen – der Krieg ist das Krebsgeschwür der Menschheit.“
Die Männer schwiegen. Ich hatte Tränen in den Augen. „Bald ist der Krieg vorbei“ – etwas anderes konnte ich nicht hören. Und wenn er vorbei wäre, könnte ich nach Hause gehen. Pauli stellte die Brotskulptur vor sich auf den Tisch. An ihren Hinterkopf klebte er einen Wachstropfen, den er vom Tischtuch gekratzt hatte: der heilige Einstein, Schutzpatron der Pessimisten. Die Statue lächelte ihm zu.
„Tut mir leid, Adele, ich lasse mich zu schnell hinreißen. Was haben Sie als süßen Abschluss geplant?“
„Sachertorte.“
„Masseltoff – da haben wir ja Glück! Darf ich meine Pfeife anzünden? Meine alte Freundin bringt mich auf sanftere Gedanken.“
Ich ging in meine Küche. Unweigerlich waren mir die Tränen gekommen. Bestimmt dachten sie, ich sorgte mich um die Zukunft der Menschheit, aber in Wirklichkeit tat ich mir selber leid. Ich war wie ein Kind in der Welt der Erwachsenen – ihr Universum war mir nicht zugänglich, es erklärte sich nicht durch ein einfaches Bild oder mit einer Reihe Kieselsteine. Ich hatte keine Worte, also weinte ich. Ich beweinte meine Einsamkeit. Aufgrund meines schlechten Englischs watete ich durch ständigen Nebel. Eine Zeit lang hatte ich gehofft, diese verschwommene, düstere Welt erhellen zu können, indem ich mit meinen Landsleuten verkehrte. Doch ich war noch immer verloren. Im Land der Wissenschaft gab es keine Einbürgerung, es gab nur Eingeborene. Dennoch bemühte ich mich. Ich las ein wenig, ich zeigte Interesse, doch jeder Faden, den ich zog, zog einen weiteren mit sich. Das Gewebe war zu dicht, das Tuch zu groß für die kleine Tänzerin. Ich würde niemals zu ihnen gehören, inmitten all dieser Genies wäre ich immer im Exil. Ich kam in das Alter, in dem die Männer von meiner Kochkunst mehr angetan waren als von meinen Beinen – das Alter der Resignation. Aber ich war nicht bereit aufzugeben, bei Weitem nicht.
Professor Einstein spuckte ein paar Kuchenkrümel in Richtung meines Mannes, der mit Bedacht sein warmes Wasser trank.
„Wie geht es Ihrem Freund Morgenstern? Ich dachte, ich würde ihn heute Abend hier antreffen.“
„Er ist mit der Veröffentlichung seines Buches zusammen mit von Neumann beansprucht. Auch er hat im Moment wenig Zeit.“
„Er ist wohl zu sehr damit beschäftigt, mit seinen Neutronen zu spielen.“
„Wofür interessiert von Neumann sich denn nicht? Dieser Mann ist ein Teufel. Er hört nie auf. Er trinkt so schnell, wie er auch rechnet.“
„Er ist Ungar, Herr Einstein.“
Ich langweilte mich. Ich hatte schon gehört, wie sie sich über die Schrullen dieses John von Neumann ausließen. Er stand im Ruf, ein gigantischer Witzbold zu sein. Als Einstein einmal nach New York fahren musste, hatte er ihm angeboten, ihn zum Bahnhof zu begleiten, und auf dem ganzen Weg hatte er ihm unablässig lustige Geschichten erzählt. Der alte Physiker hatte sich vor Lachen die Seiten gehalten, als er in den Zug einstieg – bevor er merkte, dass von Neumann ihn in vollem Bewusstsein in die falsche Richtung geschickt hatte! Kurt zufolge gab von Neumann ein katastrophales Beispiel für die Studenten ab, denn manche dachten irrtümlich, sie könnten wie er die Nacht trinkend im Tanzclub verbringen und am Morgen dann wieder frisch und aufgeräumt im Seminar erscheinen. Aber von Neumann war ein Übermensch. Kurt entsetzten vor allem die Mengen an Essen, die der Ungar sich einverleiben konnte. Seine Hyperaktivität ermüdete meinen Mann schon allein beim Gedanken daran. Ich hatte ihn bei unserer ehemaligen Nachbarin Missis Brown in der Stockton Street kennengelernt; sie zeichnete die Illustrationen für das Buch Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten, das von Neumann zusammen mit Oskar Morgenstern schrieb. Ich kümmerte mich um Missis Browns Baby, John von Neumann kümmerte sich um meine Nachbarin. Sein Appetit war grenzenlos. Kurt hatte mir erklärt, jener lege in seinem Buch dar, dass man mit entsprechenden Strategiespielen wie dem „Kriegsspiel“ sozioökonomische Phänomene beschreiben könne. Zu Kurts Bedauern war das ganze Gehirnschmalz – wieder einmal – einem militärischen Thema gewidmet. Die von Neumanns bewohnten ein hübsches Haus in Princeton, John war Berater der US Navy, und die Armee bezahlte gut.
Ich goss mir einen kleinen Wodka ein im Gedenken an meine verrückten ungarischen Freunde aus dem Nachtfalter. Der duftende Pfeifenqualm verschlimmerte mein Heimweh. Unter dem missbilligenden Blick meines Gatten zündete ich mir eine Zigarette an. Vor Kurzem hatte ich wieder mit dem Rauchen angefangen, um die Ödnis meines einsamen Alltags zu überwinden. Wenn Kurt nach Hause kam, schimpfte er über den Gestank, auch wenn ich den ganzen Tag lüftete. Meine übel riechenden Kleider nach einer Nacht im Nachtclub hatte er immer gehasst.
„Es wäre erstaunlich, wenn es für von Neumanns Arbeit nicht einen oder zwei Nobelpreise geben würde.“
„Von Neumann wäre ein großartiger Physiker – wenn er einer wäre, das heißt, wenn er Theorien beweisen würde.“
„Kein Neid, Pauli! Ihre Stunde wird schon noch schlagen.“
„Es fällt leicht, Ehrbezeigungen zu verachten, wenn man wie Sie mit Ruhm überschüttet wird.“
„Ich musste lange genug darauf warten. Innerhalb von zwölf Jahren war ich zehnmal nominiert gewesen. Es war ein jährlich wiederkehrender Witz: Wem können wir den Nobelpreis für Physik geben, damit wir ihn nicht ihm geben müssen? Einer der Juroren machte keinen Hehl aus seinem Antisemitismus. 1921 bekam ich diesen Preis dann für die Entdeckung des Gesetzes des photoelektrischen Effektes – nicht aber für die Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie.“
„Ihre Berühmtheit wiegt zehn Nobelpreise auf, Professor Einstein.“
„Der Nobelpreis ist nur interessant wegen der Aufmerksamkeit, die man dadurch erlangt. So kann ich versuchen, ein paar Ideen in Umlauf zu bringen.“
Ich fegte die Krümel vom Tisch. Die Unterhaltung schleppte sich dahin. Ich war böse auf Kurt, weil er mich nicht gebührend mit einbezog.
„Warum hast du keinen Nobelpreis? Ich hätte auch gern ein so schönes Haus wie die von Neumanns. Seiner Ansicht nach bist du der größte Logiker seit Aristoteles.“
„Es gibt keinen Nobelpreis für Mathematik. Nobel wurde von seiner Frau mit einem Mathematiker betrogen!“
„Ach, das ist doch Gerede! Mit dem Nobelpreis werden Arbeiten belohnt, die der Menschheit großen Nutzen bringen.“
„Bringt die Mathematik denn keinen Nutzen, Herr Einstein?“
„Das frage ich mich noch immer, Adele. Aber es gibt andere Preise.“
„Gödel ist zu alt für die Fields-Medaille.“
„Ich bin nicht auf solche Ehren aus.“
„Das solltest du aber! Mit deinem Hungerlohn von IAS leben wir wie Bedürftige. All deine Intelligenz bringt uns nicht mal einen Hauch von Komfort!“
Kurt tötete mich mit seinem Blick. Seine Kollegen lachten hemmungslos.
„Wozu ist Ihr logisches Denkvermögen gut, wenn Ihre Gattin unzufrieden ist, Gödel?“
Pauli kritzelte eine kurze Gleichung in sein Notizbuch und hielt sie Kurt mit einem dünnen, spöttischen Lächeln unter die Nase.
„Warum attackieren Sie nicht diese gute, alte Vermutung? Die Universität Göttingen hat für die Lösung des Problems noch in diesem Jahrtausend 100.000 Mark ausgelobt.“
„Fermats Satz?14 Sie sind ja verrückt, Pauli! Ich bin doch kein Alleswisser. Bevor ich überhaupt damit anfangen könnte, müsste ich zur Vorbereitung drei Jahre lang intensive Studien betreiben. Ich habe nicht genügend Zeit, um sie für ein sehr wahrscheinliches Scheitern zu vergeuden, wie schon Hilbert sagte.“
Einstein nahm das Notizbuch und zeigte mir das lukrative Rätsel. Ich war enttäuscht – es bestand aus nur drei Termen: xn+ yn = zn.
„Sie sind eben kein Spieler, Gödel. Wissen Sie, meine liebe Adele, der französische Mathematiker Pierre de Fermat war ein großer Spaßvogel. Er hat Mitte des 17. Jahrhunderts diese teuflische Gleichung aufgestellt und erklärt, dass der Rand seines Manuskripts nicht breit genug sei, um sie zu beweisen. Unter uns: Ich habe den Beweis, aber ich verrate ihn nicht. Seit drei Jahrhunderten wachsen unseren Mathematikern darüber graue Haare, und der Satz ist noch weit davon entfernt, gelöst zu werden. Es sei denn, Ihr Mann würde sich herablassen, sich der Sache zu widmen. Sie würden berühmt werden, Gödel! Denn die Kontinuumshypothese bringt Ihnen weder Ruhm noch Reichtum ein, mein Freund. Sie müssen mit der Zeit gehen. Denken Sie ,öffentlich‘! Überlassen Sie die Unendlichkeit ihrer tristen Einsamkeit!“
Pauli lächelte erleichtert – ausnahmsweise war er nicht Zielscheibe von Einsteins beißendem Spott.
„Meine Frau soll sich nicht in diese Dinge einmischen.“
Ich konnte der Gelegenheit nicht widerstehen, Kurt in die Enge zu treiben.
„Warum versuchst du es nicht? Hast du Angst, zu scheitern?“
„Oh, Frau Gödel spricht die Unvollständigkeit an!“
„Das hat mit der Unvollständigkeit nichts zu tun. Ich fürchte mich nicht davor, die Grenzen der Mathematik auszuloten – aber die Grenzen meines eigenen Geistes kenne ich bereits. Du hast keine Ahnung, wovon du überhaupt redest, Adele!“
„Ich bin ein Anhänger häuslichen Friedens! Ich habe mir nur einen Schabernack mit Ihnen erlaubt, Gödel. Das einzig Absolute in einer Welt wie der unsrigen ist der Humor.“
„Wie Sie ja wissen, Herr Professor, hat mein lieber Mann keinen.“
Kurt, verkrampft vor Ärger, stand auf und verschwand, ohne sich zu entschuldigen. Einstein war ein wenig betreten. Nach längerem Schweigen versuchte er, die Atmosphäre aufzulockern: „Haben Sie schon gehört, dass Institutsstifter Louis Bamberger gestorben ist, Pauli? Und Aydelottes Amtszeit läuft bald aus, die Zeiten werden sich ändern.“
„Das IAS ist zu einem Sandkasten für die Armee geworden. Der nächste Institutsdirektor wird sicherlich ein treuer Diener des Staates sein.“
„Ich werde Oppenheimers Kandidatur unterstützen. Robert ist offen für humanitäre Ideen.“
„Und auch für linksradikales Gedankengut?“
„Seien Sie nicht so engstirnig, Pauli. Ich denke an eine Öffnung des IAS für andere Forschungsgebiete.“
„Glauben Sie, die neue Leitung wird die Stelle meines Mannes infrage stellen? Er ist noch immer kein ständiges Mitglied des Instituts und noch immer kein amerikanischer Staatsbürger. Sein Status ist prekär.“
„Solange Carl Ludwig Siegel im Kuratorium sitzt, wird sich an der Situation Ihres Gatten nichts ändern, teure Freundin.“
„Er und andere sorgen sich also wegen Kurts geistiger Gesundheit? Aber Sie wissen doch, dass er ganz harmlos ist.“
„Wie geht es ihm denn zurzeit?“
„Er klagt unablässig. Er sagt, er habe ein Magengeschwür. Aber er weigert sich, zum Arzt zu gehen.“
Einstein tätschelte meine Hand.
„Äußerste Klarheit, Scharfsicht und Sicherheit verlangen größte Opfer – den Verlust der Sicht auf das Ganze. Es ist bestimmt nicht immer leicht für Sie, aber glauben Sie mir, Sie sind Teil dieses Ganzen.“
Ich vergewisserte mich, dass Kurt nicht vom Flur aus lauschte. Er hätte das, was allgemein bekannt war, als persönlichen Verrat deuten können. Ich hatte Vertrauen zu Albert Einstein, er urteilte nicht über meinen Mann.
„Er hat wieder Visionen. Er hat den Eindruck, er werde verfolgt.“
„Vielleicht wird er das ja. Auch ich stehe unter ständiger Überwachung. Meine Post wird zensiert.“
„Darum geht es nicht – er sieht Gestalten, Gespenster.“
„Die Stimmung in Princeton ist momentan etwas gedrückt. Der Krieg geht dem Ende zu, und bald werden Sie gute Neuigkeiten von Ihrer Familie und aus der Welt bekommen, die Kurt Gödel zu würdigen weiß. Alles wird gut.“
„So naiv bin ich nicht. Das habe ich alles schon hinter mir. Aber in Amerika habe ich weder Freunde noch Verwandte, die mir helfen können.“
„Ihr Mann hat zahlreiche Freunde, zweifeln Sie nicht daran. Menschen wie ihn trifft man selten. Morgenstern kümmert sich wie ein Bruder um ihn. Und ich werde mein Möglichstes tun, um Ihre materielle Situation zu verbessern. Verlieren Sie nicht das Vertrauen. Es tut mir leid, dass ich Spannungen bei Tisch verursacht habe. Wolfgang kennt mich gut, er weiß, dass ich keine bösen Absichten hege.“
„Der Professor hat nur gute Unabsichten.“
Kurt kam wieder zurück, ich schenkte ihm ein beruhigendes, breites Lächeln.
„Wollen wir noch irgendwo etwas trinken gehen?“
Beide Männer standen auf, mein Vorschlag war abgelehnt. Kurt verschwand ohne großes Aufhebens und überließ es mir, mich von unseren Gästen zu verabschieden. Sie überhäuften mich mit Dankesworten, dann gingen sie Arm in Arm weg – der versöhnliche Moment des gemeinsamen Verdauungsspaziergangs. Ich öffnete wieder die Fenster, um den Rauch und den Geruch angebrannten Fettes hinauszulassen. Ich räumte den Tisch ab und leerte den Aschenbecher. Mit der flachen Hand zerdrückte ich die Brotplastik. „Zahlreiche Freunde“ – Oskar Morgenstern war zu höflich, um mir seine Verachtung zu zeigen. Dass wir geheiratet hatten, war ihm, bestenfalls, ein Rätsel. Die Herren taten sich gern an meinen Kochkünsten gütlich, aber von meinen Ängsten wollten sie nichts hören. Mein Mann hatte zahlreiche Freunde – ja, sicher – aber ich? Ich drückte die Kerzen aus, ohne meine Finger zu benetzen, ich mochte diesen kleinen Schmerz. Die Spüle war voller Geschirr, ich machte mich über den Berg her, ohne mich um den Lärm zu scheren. Die Schlafzimmertür antwortete mit einem scharfen Knall auf meine Provokation. Nach getaner Arbeit gönnte ich mir eine Zigarette. Irgendwo in New York rauchte eine Frau in meinem Alter auch eine Zigarette, während ihr Nagellack trocknete. Sie überlegte, was sie anziehen sollte, wenn sie zum Tanz ins El Morocco ging. Sie konnte sich nicht zwischen zwei Paar Schuhen entscheiden.
Nacheinander wurden die Fenster in der Stadt dunkel. In Princeton ging man früh schlafen. Doch ich war nicht müde.