2.
1928
Damals, als ich schön war

„Sich verlieben heißt eine Religion schaffen,
deren Gott fehlbar ist.“
Jorge Luis Borges, Neun danteske Essays

 

 

Ich bemerkte ihn, bevor sein Blick noch auf mich fiel. Wir lebten in derselben Straße in Wien, in der Josefstadt nahe der Universität, er wohnte mit seinem Bruder zusammen, ich bei meinen Eltern. An diesem frühen Morgen kam ich wie immer allein vom Nachtfalter zurück, dem Kabarett, wo ich angestellt war. Ich war nie so naiv gewesen zu glauben, dass die Gäste, die mich nach der Arbeit unbedingt nach Hause begleiten wollten, nicht an mir interessiert gewesen wären. Meine Beine kannten den Weg von allein, dennoch musste ich immer auf der Hut sein. Die Stadt war grau. Damals kursierten schreckliche Geschichten über Banden, die jungen Fräuleins auflauerten und sie in Bordelle im Sündenbabel Berlin verkauften. Ich, Adele Porkert, war zwar kein junges Mädchen mehr, sah aber aus wie zwanzig, also drückte ich mich an den Hausmauern entlang und spähte misstrauisch in die Schatten. „Porkert, in fünf Minuten bist du raus aus diesen verdammten Schuhen und in zehn Minuten liegst du in deinem Bett!“, sagte ich mir. Kurz vor dem Wohnhaus meiner Eltern sah ich eine Gestalt auf dem Bürgersteig gegenüber – einen mittelgroßen Mann in einem dicken Mantel, einen dunklen Filzhut auf dem Kopf, das Gesicht von einem Schal verdeckt. Er hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt und ging langsam, als würde er einen Verdauungsspaziergang machen. Ich beschleunigte meinen Schritt, mein Bauch war ganz verkrampft – und der trog mich selten: Um fünf Uhr früh geht kein Mensch spazieren! In der Morgendämmerung kommt man vielleicht aus einem Club, wenn man der guten Seite der menschlichen Komödie angehört. Oder man geht zur Arbeit. Außerdem würde sich niemand in einer so lauen Nacht dermaßen einmummen. Ich kniff also die Pobacken zusammen, lief schnell die letzten Meter und überlegte, wie meine Chancen standen, die Nachbarn durch meine Schreie zu wecken. In einer Hand hielt ich den Schlüssel, in der anderen ein Säckchen Pfeffer. Meine Freundin Liesa hatte mir gezeigt, wie ich einen Angreifer erst blind machen und ihm dann die Wangen zerkratzen musste. An unserem Wohnhaus angekommen, schlug ich ganz schnell die kleine Holztür hinter mir zu. Hatte ich Schiss gehabt! Ich versteckte mich hinter dem Vorhang meines Zimmers und beobachtete den Kerl – er schlenderte noch immer umher.

Am nächsten Tag zur selben Zeit ging ich nicht schneller, als ich diesen Geist wieder sah. Von da an traf ich ihn zwei Wochen lang jeden Morgen. Ihm aber schien ich zu keinem Zeitpunkt aufzufallen. Er nahm offenbar überhaupt nichts wahr. Ich wechselte die Straßenseite – ich wollte sichergehen – und streifte ihn. Er ging an mir vorbei, ohne auch nur den Kopf zu heben. Im Club habe ich die Mädchen mit meiner Pfeffersäckchengeschichte richtig zum Lachen gebracht. Dann sah ich ihn nicht mehr wieder. Ich war mal ein bisschen früher, mal ein bisschen später dran gewesen – er hatte sich in Luft aufgelöst.

 

Bis zu jenem Abend, als er mir an der Garderobe des Nachtfalter seinen dicken Mantel reichte, der für die Jahreszeit viel zu warm war. Der Besitzer des Mantels war ein gut aussehender, dunkelhaariger Mann um die zwanzig mit blassblauen Augen hinter einer strengen Brille mit schwarzem Gestell. Ich konnte nicht anders, ich musste ihn ansprechen.

„Guten Abend, der Herr Geist aus der Langen Gasse.“

Er starrte mich an, als sei ich nicht gescheit, dann wandte er sich wieder den beiden Freunden zu, mit denen er gekommen war. Ich erkannte Marcel Natkin, Kunde im Laden meines Vaters. Sie haben gekichert wie alle jungen Männer, selbst die gebildetsten, wenn sie ein wenig verlegen sind. Er jedenfalls gehörte nicht zu denen, die dem Garderobenfräulein den Hof machen.

Nachdem er nicht antwortete und ich wegen des Andrangs am Eingang in Eile war, beließ ich es dabei. Ich nahm die Sachen der Herren entgegen und verschwand zwischen den Kleiderbügeln.

Gegen ein Uhr zog ich mein Bühnenkostüm an, eine sehr dezente Aufmachung, verglichen mit dem, was man in einschlägigen Clubs zu sehen bekam. Es war ein kesser Matrosenanzug – kurzärmlige Bluse, weiße Satinshorts, nachtblaue Seidenschleife um den Hals. Und natürlich war ich auffällig geschminkt. Wahnsinn, wie ich mich damals angemalt habe! Ich zog also meine Nummer mit den Mädchen durch – Liesa hat wieder mal die Hälfte der Tanzschritte vermasselt –, dann war der Knödeltenor an der Reihe. Ich habe die drei Männer gesehen, sie saßen neben der Bühne und bewunderten mit großen Augen unsere entblößten Beine. Mein Geist war nicht der Uninteressierteste! Danach ging ich wieder an meinen Platz an der Garderobe. Der Nachtfalter war ein kleiner Club, man musste überall mithelfen, man tanzte und verkaufte zwischen zwei Auftritten Zigaretten.

Als Gödel kurz darauf zu mir kam, kicherten meine Freundinnen.

„Entschuldigen Sie, Fräulein, aber kennen wir uns?“

„Ich sehe Sie oft in der Langen Gasse.“

Ich kramte unter meinem Tresen herum, um eine gewisse Haltung zu wahren. Er wartete in aller Seelenruhe.

„Ich wohne in der Nummer 65, Sie in der 72. Tagsüber bin ich aber anders gekleidet.“

Ich hatte Lust, ihn zu hänseln, sein Schweigen war anrührend. Er wirkte so unbedarft.

„Was machen Sie nachts denn immer draußen, außer Ihren Schuhen beim Gehen zuzusehen?“

„Ich denke beim Spazierengehen gern nach, das heißt … wenn ich gehe, kann ich besser denken.“

„Und was nimmt Sie so sehr in Anspruch?“

„Ich bin nicht sicher …“

„Ob ich es begreife? Wissen Sie, auch Tänzerinnen haben ein Gehirn.“

„Wahrheit und Unentscheidbarkeit.“

„Lassen Sie mich raten … Sie sind Philosophiestudent. Sie verschwenden das Geld Ihres Vaters für ein Studium, das zu nichts führt, es sei denn, den Trikotagenfamilienbetrieb zu übernehmen.“

„Stimmt – fast. Ich interessiere mich für Philosophie, studiere aber Mathematik. Und mein Vater leitet tatsächlich eine Textilfabrik.“

Er schien erstaunt zu sein, so viel geredet zu haben. Als Parodie eines militärischen Grußes machte er einen Bückling.

„Ich heiße Kurt Gödel. Und Sie sind Fräulein Adele. Richtig?“

„Stimmt – fast. Aber Sie können ja nicht alles wissen.“

Er wich rückwärts zurück, genötigt vom Ansturm der Gäste.

 

Wie ich gehofft hatte, sah ich ihn zur Sperrstunde des Lokals wieder. Seine kleinen Spielkameraden hatten ihn wohl den Abend über aufgestachelt.

„Darf ich Sie nach Hause begleiten?“

„Ich werde Sie am Denken hindern. Ich rede viel.“

„Das macht nichts. Ich höre eben nicht hin.“

Wir gingen zusammen und spazierten die Universitätsstraße hinauf. Wir unterhielten uns, genauer gesagt, ich fragte ihn aus. Wir sprachen über Lindberghs Atlantikflug, über Jazz, den er nicht mochte, und über seine Mutter, die er sehr zu lieben schien. Die gewaltsamen Ausschreitungen im Juli des Jahres zuvor erwähnten wir nicht.

Ich weiß nicht mehr, welche Haarfarbe ich trug, als wir uns kennenlernten – ich habe meine Haare so oft in meinem Leben gefärbt! Ich denke, ich war blond, ich sah ein bisschen aus wie Jean Harlow, aber nicht ganz so ordinär, ich war eleganter. Im Profil ähnelte ich Betty Bronson. Aber wer erinnert sich denn noch an sie? Ich liebte Filmschauspieler! Ich verschlang jede Ausgabe des Kino-Journal. Die gehobene Wiener Gesellschaft, in der Kurt verkehrte, hatte fürs Kino nichts übrig – dort setzte man sich mit Malerei, Literatur und vor allem mit Musik auseinander. Das war mein erster Verzicht: Ich musste ohne ihn ins Kino gehen. Doch zu meiner großen Erleichterung zog er die Operette der Oper vor.

Ich hatte schon einige Träume begraben müssen: Mit siebenundzwanzig Jahren war ich eine geschiedene Frau. Um der Strenge meiner Familie zu entkommen, hatte ich viel zu jung einen labilen Mann geheiratet. Kaum waren die Jahre der Not und der Inflation mit Kohlrabi, Kartoffeln und Schwarzmarkt vorüber gewesen, hatte die Misere zügig von Neuem begonnen. Ich war ausgehungert, ich wollte feiern, ich hatte mich im Mann geirrt. Ich hatte den Erstbesten genommen, einen Schönschwätzer. Kurt hingegen machte nie Versprechen, die er nicht halten konnte, er war gewissenhaft bis zur Krankhaftigkeit. Meine Jungmädchenträume hatte ich aufgegeben. Ich wäre gern Filmschauspielerin geworden – wie alle Mädels damals. Ich war ein bisschen verrückt, ziemlich hübsch, vor allem im Profil. Die Sklaverei der Dauerwelle wurde von der Sklaverei der langen Haare abgelöst. Ich hatte graue Augen, immer rot bemalte Lippen, schöne Zähne und kleine Hände. Und eine Tonne Puder auf dem Feuermal, das meine linke Wange verunzierte. Diesem verdammten Makel verdanke ich wirklich viel – alle meine verlorenen Illusionen!

Kurt und ich hatten nichts gemeinsam, jedenfalls nicht sehr viel. Ich war sieben Jahre älter als er, ich hatte nicht studiert – er schrieb seine Doktorarbeit. Mein Vater war Porträtfotograf mit einem kleinen Laden im Viertel – Kurts Vater war ein wohlhabender Industrieller. Er war evangelisch, ich damals katholisch, jedoch mit wenig Überzeugung. Die Religion stellte für mich ein Familienerbstück dar, das auf dem Kaminsims verstaubte. Damals hörte man höchstens in Tänzerinnenkreisen das Gebet: „Maria, hilf, du, die du es bekommen hast, ohne es zu machen, mach, dass ich es machen kann, ohne es zu bekommen!“ Wir alle hatten Angst, einen Braten in die Röhre zu bekommen, ich am allermeisten. Viele endeten im Hinterzimmer von Mutter Dora, einer alten Engelmacherin. Mit zwanzig Jahren überließ ich alles mehr oder weniger dem Zufall. Gute Karten, schlechte Karten – ich zockte. Ich hatte nicht vor, mir Glück und Unbeschwertheit für später aufzusparen. Ich musste plündern und brandschatzen. Später wäre Zeit für ein neues Spiel. Vor allem hätte ich Zeit, zu bereuen.

 

Unser Spaziergang endete, wie er begonnen hatte, in sehr unbehaglichem Schweigen, in dem jeder seine Gedanken verbarg. Auch wenn ich nie mathematisch begabt war, so kannte ich doch dieses Axiom: Schon die kleinste Brechung im Einfallswinkel bewirkt eine große Veränderung des Ausfallswinkels. In welcher Dimension, in welcher Version unserer Geschichte hat es mich an jenem Abend nicht begleitet?