35.

„Mein Gott! Wo haben Sie denn diesen Putzfetzen her?“ Anna drehte sich im Kreis und ließ sich bewundern. Am Abend zuvor, nach der Rückkehr von ihrem kleinen Kinoausflug mit Adele, war sie voll angekleidet ins Bett gefallen. Wie gerädert war sie wieder aufgewacht, aber es hatte ihr gefallen, wieder einmal das Gefühl körperlicher Erschöpfung zu verspüren. Sie hatte sogar beschlossen, am Nachmittag joggen zu gehen. Nach einer heißen Dusche, einem starken Kaffee und zwei Alka-Seltzer hatte sie ein altes Sweatshirt mit dem Wappen der Universität Princeton angezogen, dessen Siebdruck-Streifen langsam verblassten. Sie wusste nicht, welcher zeitweilige Verlobte es in ihrem Schrank zurückgelassen hatte. Sicherlich nicht William. Nachdem Anna gegangen war, hatte er seine Sachen minutiös aussortiert und drei Koffer zu seinem Vater gebracht.

„Ihre sonstigen Klamotten sind mir fast lieber. Von schlichter Zurückhaltung zum Sich-Gehenlassen ist es nur ein kleiner Schritt. Auch wenn Ihre Mutter nicht oberflächlich war, hätte sie Ihnen das zumindest mit auf den Weg geben sollen.“

Anna fummelte am Ärmel ihres unförmigen Kleidungsstücks herum – sie war nicht ganz ehrlich mit Adele gewesen.

„Meine Mutter ist immer wie aus dem Ei gepellt. Ich habe ihre Eleganz nicht geerbt. Das hat sie mir schon oft vorgehalten.“

Adele ging nicht auf den Widerspruch ein. Vielleicht war sie nach dieser Spritztour geneigt, Anna für ihre früheren kleinen Lügen den Ablass zu erteilen.

„Ich kenne diesen Schlag von Frauen. Sie erlauben sich keine Improvisation.“

Für Zärtlichkeit hatte Rachel auch keinen Platz gelassen. Adele war sensibel genug, um dies zu verstehen, auch ohne dass Anna alle alten Akten hervorziehen musste. Sie begann, die unnachsichtige Einfühlsamkeit der alten Dame zu schätzen.

„Ich war auch nie besonders vornehm. Ich hatte nicht diesen bürgerlichen Anstrich. All dieser Mist mit dem richtigen Eindecken einer Tafel, die Konversation …“

„Auf den Fotos waren Sie aber doch so fesch.“

„Das altmodische Aussehen der Bilder täuscht, meine Hübsche. Wir waren nicht reich, ich musste mit ein paar Stoffresten zurechtkommen. Knöpfe habe ich wiederverwendet. Und ein hübsches Hütchen gab dem Ganzen Schwung. Wie schade, dass Frauen keine Hüte mehr tragen!“

„Eleganz ist keine Frage des Geldes.“

„Sondern von Selbstvertrauen. Und das bekommt man mit der Bildung. Für die Teegesellschaften von Princeton war ich nicht adäquat ausgestattet.“

„In Wissenschaftskreisen steht das nicht an erster Stelle.“

„Wie wahr! Ein Korb voller Schmutzwäsche! Albert sah immer so aus, als hätte er in seinen Kleidern geschlafen. Aber nicht mein Kurt! Ich habe Stunden darauf verwandt, seine Hemden zu bügeln. Sogar in seinen schlimmsten Zeiten war er tadellos gekleidet. Darauf habe ich immer geachtet. Eleganz war für ihn ein wichtiger Begriff, auf vielen Gebieten.“

„Ich war bei einer Tagung über ‚Mathematische Eleganz‘.“

„Aber sonst geht es Ihnen gut?“

Adele kratzte sich am Hinterkopf. Anna dachte kurz, sie würde ihr damit lediglich ihr Desinteresse an dem Thema bedeuten, aber die alte Dame überraschte sie: „Mathematische Eleganz – ein Begriff, der für uns arme Normalsterbliche unverständlich ist.“

„Ich meinte, dabei so etwas wie die Forderung nach Klarheit eines Beweises herauszuhören. Wie ‚Ockhams Rasiermesser‘, das Sparsamkeitsprinzip in der Theoriebildung, das nach dem mittelalterlichen Scholastiker Wilhelm von Ockham benannt ist und mit dem alles Überflüssige gekappt werden soll: Die einfachste Erklärung, die mit den wenigsten Variablen auskommt, ist immer allen anderen vorzuziehen.“

„Mathematische Eleganz geht über Einfachheit hinaus. Sonst hätte diese Vorstellung den Makel der Unterwerfung unter die Komplexität der Welt. Mein Mann erkannte und suchte eine Form der Schönheit, die sich mir entzog. Er wandte beträchtliche Energie auf, um Beweise zu führen, bei denen alles über das Allgemeinverständliche hinaus begründet sein musste. Seine Freunde lachten ihn manchmal aus, seine Kollegen kanzelten ihn ab. Mit seinen Veröffentlichungen war er grundsätzlich spät dran, er schrieb immer noch eine Anmerkung zur Anmerkung zur Anmerkung. Er hatte Angst, missverstanden zu werden oder als verrückt zu gelten. Was am Ende ja dann auch so kam …“

„Warum geben Sie mir die Papiere nicht, wenn das so ist? Wir würden seinem Werk Ehre erweisen. Sie haben mittlerweile doch Vertrauen zu mir, Sie wissen, dass ich Sie nicht manipulieren will.“

„Ich werde darüber nachdenken.“

Anna lächelte sie an – nun kannte sie die Gebrauchsanweisung.

„Seien Sie also elegant, Adele!“

„Ich habe einen anderen Begriff von moralischer Eleganz.“

„Nach Ockhams Prinzip haben Sie die Dokumente nicht mehr, weil Sie sie weggeworfen haben.“

„Falsch! Ich will sie Ihnen eben ganz einfach nicht geben.“

Die alte Dame streckte sich und ließ die Fingergelenke knacken. Anna irritierte dieses Geräusch, aber sie ließ nicht locker. Eine solche Gelegenheit würde sich vielleicht nie mehr bieten.

„Sie wollen gewisse persönliche Erinnerungen also nicht öffentlich machen?“

Adele sah sie an, ohne zu blinzeln – sie wäre mitnichten verpflichtet, es zuzugeben. Sie würde die Bosheit ihrer Schwiegerfamilie nicht der Nachwelt hinterlassen, auf dass diese darauf herumhacken könnte. Adele hatte sich das Recht auf ihre Verbitterung erworben.

„Die geistige Verwirrung meines Mannes ist allgemein bekannt. Eine posthume Erniedrigung fürchte ich nicht. Hören Sie endlich auf, auf den Busch zu klopfen!“

„Und dieser berühmte Ontologische Beweis? Eine logische Folge, mit der Gott definiert und dadurch seine Existenz deduziert werden soll. Nach meinen Recherchen kursierte er in Princeton, wurde aber nicht veröffentlicht. Gibt es ihn wirklich?“

„Ha, da haben wir’s! Hat Kurt Gödel die Existenz Gottes bewiesen? Ich habe mich schon gefragt, wie lange Sie brauchen, um an diesen Punkt zu kommen. Mein naher Tod brennt Ihnen auf den Nägeln, Fräulein Maria!“

„Sind Sie gläubig, Adele?“

„Ich glaube an das Göttliche. Und Sie?“

Anna sah am Rand ihrer Gedanken die Worte von Leonard Cohen vorbeiflattern, Your faith was strong but you needed proof – „Dein Glaube war stark, aber du brauchtest einen Beweis.“ Die junge Frau hatte darauf keine ernsthafte Antwort. Ihre Eltern trugen einen damals angesagten Atheismus vor sich her, nachdem sie mit dem Silberlöffel im Mund aufgewachsen waren. Ihre Großmutter war zwar nicht oft in die Synagoge gegangen, aber sie hatte die religiösen Bräuche geachtet. Anna hatte diese feierlichen und doch fröhlichen Feste geliebt, vor allem das Laubhüttenfest. Josepha hatte immer eine bunte Sukka errichtet, indem sie mitten im Wohnzimmer Schals und Tücher aufgehängt hatte. Das Kind hatte dann in den noch immer vollen Koffern auf dem Speicher wühlen und die Hütte nach seinem Geschmack schmücken dürfen. Ob Gott damit etwas zu tun hatte – darüber hatte sie kaum je nachgedacht. Durch Rachel war ihrer kindlichen Metaphysik mit einem banalen „Nach dem Tod kehren die Atome in den großen Kreislauf zurück“ ein Ende gesetzt worden. Anna hatte aber nachgefragt: Warum müsste sie als Baum oder als Lampenmast wiedergeboren werden? Warum käme sie nicht in ihrer eigenen Gestalt zurück? Wenn schon, denn schon! Rachel war gleich zu ihrem Mann gerannt und hatte ihm diese süße Unbedarftheit berichtet, George wiederum hatte sich damit begnügt, der Frage auszuweichen. „Ich weiß es nicht, Anna. Wie denkst du darüber?“ Sie dachte gar nichts darüber. Von unten gesehen, kam ihr die Welt ohnehin schon unerklärlich genug vor, als dass ihre Eltern ihr noch eine weitere Schicht Unsicherheit hinzufügen mussten. Anna war herangewachsen und dabei dieser Frage aus dem Weg gegangen – wenn sie groß wäre, würde sie schon zu einer Überzeugung gelangen. Denn es gab nun mal nicht auf alle Fragen eine Antwort.

„Ich bin mir noch immer nicht sicher.“

„Eine logische Beweisführung würde Ihre Zweifel nicht zerstreuen.“

„Dennoch bin ich neugierig und würde sie gern lesen.“

„Das ist einer der Gründe, warum ich mich sträube, diese Unterlagen unter die Leute zu bringen. Kurt Gödels Werk darf kein Objekt der Neugierde werden. Er selbst war es sein Leben lang.“

„Ich will auf keinen Fall sein Gedenken schmälern, aber dieses Dokument könnte sehr viele Menschen interessieren. Es ist ein beachtliches Glied in einer langen Kette von Abhandlungen, mit denen Philosophen versucht haben, die Existenz Gottes zu beweisen. Vor allen Dingen Leibniz, den Ihr Mann glühend bewunderte.“

Adele nahm die Bibel von ihrem Nachtkästchen. Lächelnd strich sie über den abgewetzten Umschlag. Anna erinnerte sich an die Madonnenstatue hinten im Garten in der Linden Lane – am Glauben der alten Dame hatte sie keinerlei Zweifel.

„Ich habe viele Männer kennengelernt, die zu den intelligentesten dieses Jahrhunderts gehörten. Einige haben nie den Boden berührt. In der Glaubensfrage gibt die Wissenschaft keine Antwort. Wer sich dem Mysterium nähert, ist anspruchslos in seiner Gottesvorstellung. In seinen letzten Jahren fand Einstein zum Glauben und er hat kein logisches Alibi gebraucht, um Trost darin zu finden.“

„Ist die Beweisführung Ihres Mannes Ihrer Ansicht nach eine semantische Pirouette?“

„Sie basierte auf dem Spiel der Logik und des Glaubens.“

„Sie sagten, Sie wären nicht imstande, seine Arbeiten zu verstehen.“

„Kurt hatte Angst, dass dieses Papier zu einer Pseudo-Reliquie werden könnte. Ich respektiere sein Vermächtnis.“

„Dann hat er es also nicht zerstört. Aber hat er darum gebeten, dass es unter Verschluss gehalten wird?“

„Er war nicht mehr in der Lage, eine solche Entscheidung zu treffen.“

„Dann nehmen Sie sich das Recht, an seiner Stelle zu entscheiden? Sie überraschen mich.“

„Wer sonst könnte dies besser? Ich habe das Leben mit ihm geteilt.“

„Seien Sie ehrlich: Widerspricht dieser Beweis Ihren eigenen Überzeugungen?“

Adele knallte die Bibel wieder auf das Nachtkästchen.

„Um von Gott zu sprechen, muss man selbst Gott sein.“

„Wozu dann diese Bibel?“

„Ich lüfte sie sonntagmorgens.“

„Sind Sie böse auf das Wissen oder auf Gott?“

„Das spielt keine große Rolle. Es ist ein und dieselbe Entität.“

„Ich hätte gern, dass man es mir beweist.“

„Geben Sie sich mit Edelweiß zufrieden und überlassen Sie diese Fragen den Sterbenden.“

„Auch Sie versuchen, sich mit einer Pirouette herauszuwinden.“

Adele ließ ihre Hände vor den wütenden Augen der jungen Frau tanzen.

„Wozu hat man gelebt, wenn man nicht tanzen gelernt hat? Und jetzt reden wir wieder über Klamotten!“

Eine regenschwangere Bö ließ die Jalousien klappern. Anna stand auf und schloss das Fenster. Es war ein regnerischer Tag, ihre Migräne machte sich wieder bemerkbar. Sie würde ihre guten sportlichen Vorsätze wohl auf das Frühjahr verschieben.

„Haben Sie eine Kopfschmerztablette, Adele?“

„Sie sind hier in einer Klinik, Mädchen. An Zweifeln und an Medikamenten fehlt es hier nicht.“