15.
Die Leitung der Seniorenresidenz hatte Adeles Antrag auf Ausgang abgelehnt. Ein Ausflug ins Kino war undenkbar, man schaffte es ja kaum, Missis Gödel ihre Schmerzen erträglich zu machen. Die alte Dame hatte nur noch eine kleine Gnadenfrist. Anna wusste nicht, wie sie ihr die schlechte Nachricht beibringen sollte. Sie hätte ihr am besten erst gar nichts versprechen sollen. Da sie überlastet und mit ihrer Arbeit im Verzug war, hatte sie ihren letzten Besuch abgesagt, um nichts organisieren zu müssen.
Vor der halb offenen Tür zögerte Anna kurz. Das Zimmer war dunkel, die Vorhänge waren zugezogen. Der Raum war nicht gelüftet worden, der Geruch verursachte ihr Brechreiz. Bevor sie eintrat, setzte sie ein Lächeln auf.
„Entschuldigen Sie die Verspätung, Adele, ich hatte eine Panne auf dem Weg hierher.“
Die Gestalt unter den Decken reagierte nicht.
„Schlafen Sie? Verzeihung.“
„Sie ermüden mich mit Ihren ewigen Entschuldigungen wegen irgendwelcher Belanglosigkeiten.“
Mühsam stützte Adele sich auf die Polster. Ihre Lippen waren zusammengekniffen, ihre Augenbrauen streitlustig zusammengezogen. Anna sagte sich, dass sie nicht die Kraft hätte, sich zu zanken, nicht heute Abend, nicht nach all den Nervensägen, dem platten Reifen und mit diesem Pickel, der an ihrem Kinn brannte. Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, sie dachte bereits an die lange, einsame Rückfahrt, die sie zu ihrem leeren Kühlschrank brachte.
„Was soll dieses Verhalten? Erst erscheinen Sie jeden zweiten Tag und dann kommen Sie gar nicht mehr.“
„Ich hatte viel zu tun.“
„Ich bin nicht in der Stimmung, Sie zu empfangen. Hier ist geschlossen. Heute kein Nachlass auf den Nachlass!“
„Geht es Ihnen nicht gut? Soll ich die Schwester rufen?“
„Haben Sie nichts anderes zu tun, als wie ein Blutegel an mir zu kleben?“
Anna führte diese Feindseligkeit darauf zurück, dass Adele sich das Heim nicht selbst ausgesucht hatte. Die Entscheidung hatten andere getroffen, aber Adele musste die Zeche bezahlen. Anna ging zum Bett und hielt ein Päckchen Süßigkeiten hoch.
„Ich habe etwas zum Naschen mitgebracht. Der Krankenschwester sagen wir nichts.“
„Wollen Sie meinen Tod beschleunigen, um schneller an die vermaledeiten Papiere zu kommen?“
„Ich wollte Ihnen eine Freude machen. Ich weiß, dass Sie eine kleine Naschkatze sind, Adele.“
Anna wedelte mit erhobenem Finger. Ihre Bewegungen und ihre Worte fühlten sich falsch an, sie hörte die Dissonanz, konnte sie aber nicht korrigieren.
„Reden Sie nicht mit mir wie mit einem Kind!“
Annas Geduldreserven waren aufgebraucht. Sie griff auf die verschmähten Süßigkeiten zurück.
„Wenn Sie Kinder hätten, dann wären Sie wenigstens nicht hier und müssten keine Greisin umgarnen, um sich Ihre Sporen zu verdienen.“
„Sie können mir auf vielen Gebieten eine Lektion erteilen, aber darin ganz sicher nicht!“
„Bist du deppert? Behandeln Sie mich nicht von oben herab!“
„Ich mag Sie sehr, Missis Gödel, machen Sie nicht alles kaputt.“
„Von Ihrer angeblichen Zuneigung kann ich mir nichts kaufen. Alles Theater! Lügen!“
„Es macht mir immer Spaß, mit Ihnen zusammen zu sein, Adele.“
„Von Spaß haben Sie keine Ahnung. Sie sind doch eine frigide Gans mit ihren raffgierigen Händen! Sie fassen alles mit der Pinzette an. Sie küssen wahrscheinlich mit spitzen Lippen und einen Orgasmus haben Sie nur im stillen Kämmerlein – wenn überhaupt! Im Bett entschuldigen Sie sich sicherlich auch noch. Aber – nein, Sie haben nicht mal genügend Saft, um frigide zu sein, Sie sind einfach nur eine unfickbare Jungfrau!“
Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, erwies sich bei Anna als sehr hinderlich. Es lähmte ihre Willenskraft. Sie sah sich erstarren, sah sich mit belämmerter Miene und sagte sich, durch einen richtigen Wutausbruch würde auch sie sich zum Narren machen. In ihrer Aufregung lief Adele knallrot an, was bei ihrem schwachen Herzen nicht ungefährlich war.
„Raus! Ich hatte schon meine Ration Idioten im Leben. Raus!“
Aufgeschreckt vom Lärm, kam eine Krankenschwester herein.
„Sie haben mir gerade noch gefehlt! Sie mit Ihren Bauerngaloschen!“
„Ich werde Ihnen ein Beruhigungsmittel geben, Missis Gödel. Bis dahin dürfen Sie keinen Besuch mehr bekommen.“
Anna verschwand, die Naschereien ließ sie auf dem Bett liegen.
Sie wühlte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch. Der Süßwarenautomat im Foyer sprang ihr ins Auge. Sie schnäuzte, atmete tief durch und holte Münzen aus der Tasche – ein bisschen Trost hatte sie sich verdient. Für einen alten Gaul mit Galgenfrist hatte die Gödel noch ganz schön Feuer! Anna schluckte eine neue Welle von Tränen hinunter. Diese alte Irre konnte echt verletzend sein. Du hast gewonnen, alte Hexe – ich komme nicht wieder! Warum sollte sie sich weiterhin so einem Martyrium aussetzen? Sie betrachtete ihre zitternden Hände. Raffgierig? Besser, man gab nichts auf die Gehässigkeiten der Alten. Es war doch nicht ihre Schuld, dass die Heimleitung den Ausgang abgelehnt hatte. Außerdem war sie ja nicht verpflichtet, Adele jedes Mal zuzuhören, ohne selbst zu Wort zu kommen. Sie verschlang den Schokoriegel. All die vergeudete Zeit, diese sinnlosen Besuche. Unfickbare Jungfrau? Was für ein Biest! Seit ihrem siebzehnten Geburtstag war Anna keine Jungfrau mehr. Damit lag sie ganz und gar im Durchschnitt. Beim Highschool-Ball hatte sie mit einem gewissen John diesen Entschluss gefasst. Sie hatten beide zu viel getrunken, aber mit dieser Erfahrung, auch wenn sie enttäuschend gewesen war, hatte sie eine notwendige Formalität erledigt. Mit größerer Bitterkeit erinnerte sie sich an die Folgen dieser Entscheidung: der endgültige Bruch mit ihrem Kindheitsfreund Leonard Adams, der immer der Ansicht gewesen war, dass ihr erstes Mal ihm zustände. Sie hatten oft darüber gesprochen – er wäre zärtlich, und wenn er sich bei anderen Mädchen praktische Übung holte, dann nur, um Anna nicht zu enttäuschen.
Sie waren zusammen aufgewachsen, sie würden auch zusammen alt werden. Mit fünfzehn Jahren hatte Leo schon alles geplant und den Sack zugebunden: seine glänzende Karriere, ihr Haus, ihre beiden Kinder und ein Arbeitszimmer, wo sie schreiben könnte, was sie wollte, denn er zweifelte nicht daran, dass sie Künstlerin werden würde. Sie hatte keine Lust, seine „abgerundete“ Seelenschwester zu sein. Sie war mehr als ein Axiom. Also hatte sie beschlossen, sich mit John, dem Weiberhelden ihrer Klasse, zu „emanzipieren“. Leo war im Internat gewesen, sie hatte ihm gleich geschrieben und ihm in allen Einzelheiten ihre Erfahrung geschildert – er hatte es sich selbst schließlich nie versagt, das Gleiche mit seinen Eroberungen zu machen. Nach diesem Brief hatte sie monatelang nichts mehr von ihm gehört. Er war überempfindlich, in seinem unglaublichen Gedächtnis speicherte er auch empfundene Beleidigungen. Er konnte einem noch nach Jahren einen kränkenden Satz heimzahlen, nicht ohne ihn in all seinen Bedeutungen analysiert zu haben. Er war nicht bereit gewesen, ihr zu verzeihen, dass sie ihn seines angestammten Rechts beraubt hatte. Frigide Gans? Was wusste sie denn schon, diese verhutzelte Kuh? – Die seit Pearl Harbor kein Mann mehr angefasst hatte! Andere Männer hatten Anna dann die Feinheiten der Sache beigebracht. Keiner, dem es gelungen war, die offensichtliche Barriere ihrer Sprödigkeit niederzureißen, hatte sich je beklagt, dass sie frigide sei. Anna musste ganz im Gegenteil größte Mühe aufbringen, um diese kleinen Krieger wieder loszuwerden, die, kaum hatten sie abgespritzt, nur noch eins wollten: ihre Pantoffeln vor ihrem Bett abstellen.
Ganz sicher war, dass sie nie etwas kommen sah, sie wurde immer überrascht. Adele Gödel war wie viele andere nur eine verbitterte Frau, die jemanden brauchte, bei dem sie ihren Groll ablassen konnte.
Ein rosa Schimmern trat in Annas Gesichtsfeld. Sie seufzte – Gladys wäre wahrlich ein rühmlicher Abschluss dieses apokalyptischen Tages!
„Sie hatten wohl einen kleinen Streit.“
„Das spricht sich ja schnell herum.“
„Adele ist ein wenig aufbrausend. Aber sie ist nicht nachtragend. Denken Sie das nächste Mal daran.“
„Woran soll ich denken?“
Gladys stemmte ihre altersfleckigen manikürten Hände in die Hüften. Für Anna sah sie aus wie eine geschmacklose Werbung für eine Barbiepuppe im Herbst des Lebens.
„Sie hat heute Geburtstag. Keiner kam sie besuchen. Abgesehen von Ihrem Blitzbesuch. Man darf nicht vergessen, dass es zweifellos ihr letzter Geburtstag ist. Sie macht sich diesbezüglich keine Illusionen.“
Anna wurde von einem sehr vertrauten Schuldgefühl überschwemmt. Wie hatte sie, die immer so pingelig war, das vergessen können!? Sie wusste schon, wie es weiterging: In zwei Minuten würde sie Entschuldigungen suchen und in drei Minuten nach einem Weg, dass Adele ihr verzieh.