»Liebe Eltern,
heute ist der siebenundachtzigste Tag in der vampirischen Enklave, in die sich die vier Großmagier mit ihren Gehilfen und zwei hochrangigen Dämonen zur Herstellung der vier magischen Amulette zurückgezogen haben, und ich hoffe, es erfüllt euch mit Stolz, dass Euer Sohn an diesem historischen Ereignis teilnimmt. Mein Meister gönnt sich kaum Schlaf und arbeitet Tag und Nacht an der Ausarbeitung der korrekten Runenzeichen und Beschwörungsformeln des Blutstein-Amuletts. Ich möchte mir nicht anmaßen, ihn zu kritisieren, doch ich muss Euch an dieser Stelle anvertrauen, dass ihm die harte Arbeit über die Maßen zusetzt. Ich bin mir absolut sicher, dass Meister Thasmodeus vorgestern Nacht beim Setzen eines der magischen Runenzeichen die falsche Beschwörung verwendet hat, doch als ich ihn darauf hingewiesen habe, hat er mich wüst beschimpft und aus dem Labor geworfen. Da keiner der anderen Meister oder Dämonen anwesend war, gibt es außer mir weder einen Zeugen noch einen handfesten Beweis für seinen Fehler und ich habe mich entschlossen, über das Vorkommnis zu schweigen. Ich hoffe, dass ihr mein Handeln nachvollziehen könnt, denn auch wenn ich nicht genau abschätzen kann, was für Auswirkungen die fehlerhafte Beschwörung in Zukunft haben wird, so möchte ich Meister Thasmodeus nicht in Schwierigkeiten bringen oder meine Stellung bei ihm gefährden.
Herzlichst, Euer Magnus«
Brief von Magnus Briggs
im Jahre 1498,
Gehilfe des Großmagiers Thasmodeus
Am nächsten Morgen saßen Rebekka, Matt und Lilith im Speisezimmer beim Frühstück und kamen sich ziemlich verloren vor. André und Nikolai hatten sie bisher nicht zu Gesicht bekommen, einzig Igor schlurfte mit einer Kanne in der Hand durch das Zimmer. Der Butler hatte ihnen die nur wenig befriedigende Auskunft geben können, dass den Vanator der Durchbruch nicht geglückt sei, sie für die näheren Einzelheiten jedoch einen der jungen Herren fragen müssten.
»Darf ich Ihnen Tee einschenken?«, fragte Igor vornehm wie immer.
Matt nickte inbrünstig. »Oh ja, bitte! Ich hab heute Nacht fast kein Auge zugemacht. Zuerst gab es diese Explosion, dann waren plötzlich alle verschwunden und für den Rest der Nacht hörte man überhaupt nichts mehr. Diese Stille hier unten hat mich fast wahnsinnig gemacht. Es war so leise, dass mir selbst meine Gedanken laut vorkamen.«
»Also ich finde es toll in Chavaleen«, meinte Rebekka verträumt und lächelte glücklich die Luft vor ihrer Nase an. »Hier könnte ich für immer leben.«
Lilith zog erstaunt eine Augenbraue hoch, wandte sich dann aber an Matt, der sich gerade ein Brötchen mit Käse belegte. »Ich habe auch nicht besonders gut geschlafen. In Bonesdale stecke ich irgendwie immer im Mittelpunkt des Geschehens, doch heute Nacht musste ich mich dauernd fragen, was wohl gerade an der Front vorgeht. Ich habe ernsthaft damit gerechnet, dass jeden Moment ein Vanator in mein Zimmer stürmt und mir ein Messer an den Hals hält, der reinste Albtraum.«
»Ein Albtraum?«, wiederholte Rebekka geistesabwesend. »Hast du etwa die Schutzrune vergessen zu aktiveren? Du weißt doch, dass die Todesvisionen an fremden Orten stärker auf eine Banshee einwirken.«
»Ja, das weiß ich, und nein, ich habe nicht vergessen, die Schutzrune zu aktivieren!«, erklärte Lilith genervt. »Schließlich bin ich keine Anfängerin mehr und kann alle vier Symphorien problemlos aufrufen, sogar ohne einen Duftstoff als Hilfsmittel.«
Das war nicht übertrieben, denn Imogen hatte ihr die Wichtigkeit der vier Symphorien immer wieder eingeschärft und sie unermüdlich mit Lilith geübt. Dabei handelte es sich um magische Runenzeichen, die jede Banshee in ihrem Bewusststein trug und die den Kreislauf des Lebens symbolisierten: Atme. Liebe. Beschütze. Stirb. Selbst Menschen konnten deren Macht erspüren, doch nur eine Todesfee wusste um ihre wahre Bedeutung und war eng mit ihnen verbunden. Eine Banshee sah das Leben, das kostbar und heilig war, sie spürte den Tod und fühlte den Schmerz. Es hatte einige Zeit gedauert, bis Lilith die Symphorien in sich aufspüren und ihre Macht richtig einsetzen konnte, doch mittlerweile beherrschte sie es. Zum Glück, denn die Rune »Beschütze« bewahrte eine Banshee unter anderem vor den unangenehmen Todesvisionen, die Lilith am Anfang ihrer Wandlung jede Nacht aufs Neue verfolgt hatten.
»Ich war lediglich besorgt wegen der Vanator. Dass ich nicht schlafen konnte, hatte nichts mit meinen Bansheekräften zu tun!«, betonte sie.
Doch Rebekka hörte ihr offenbar überhaupt nicht zu. »Deine Todesvisionen wundern mich nicht, immerhin bist du noch ein Frischling, was deine Fähigkeiten betrifft. Du hattest Glück, dass wir so tief unter der Erde sind und dies unsere Kräfte schwächt.«
»Aber ich habe doch gar nicht …« Lilith winkte kopfschüttelnd ab. »Ach, was rede ich überhaupt mir dir!«
Seit fünf Minuten rührte Rebekka nun schon in ihrem Kaffee, ohne einen Schluck davon getrunken zu haben, und ihr dümmliches Grinsen ging Lilith so langsam mächtig auf die Nerven.
»Alles in Ordnung, Eure Ladyschaft?«, fragte Strychnin, der gerade auf den Stuhl neben ihr kletterte.
»Natürlich, alles super«, knurrte sie.
»Oh, die Heiterkeit schlägt hohe Wogen, wie ich sehe«, rief er vergnügt.
Irritiert sah Lilith ihn an. »Wie bitte?«
»Um mich besser an meine neue Heimat anzupassen, probiere ich mich ab sofort in Ironie, meine holde Herrin. Wie war ich?«
Lilith rieb sich gequält die Schläfen, während Matt leise in sich hineinlachte. »Toll, ein ironischer Dämonendiener, das wollte ich schon immer. Ich bin vom Glück beseelt.«
Strychnin hielt nachdenklich inne und breite Runzeln formten sich auf seiner Stirn. »Woher weiß man, wann etwas ironisch ist und wann nicht?«
Lilith biss in ihr Marmeladenbrötchen und erklärte kauend: »Das erschließt sich aus dem Zusammenhang.«
»Wie hängt es denn zusammen?«, bohrte er weiter.
»Je besser etwas klingt, umso unwahrscheinlicher ist es, dass es ernst gemeint ist.«
Die Tür ging auf und Nikolai erschien in einem dunkelgrünen Hemd und makellos frisierten Haaren. Trotz des nächtlichen Übergriffes, wirkte er lange nicht so erschöpft und übermüdet wie seine Gäste aus Bonesdale.
»Ich hoffe, ihr hattet eine gute Nacht?«, begrüßte er sie freundlich. »Entschuldigt, dass ihr alleine frühstücken musstet, der Angriff der Vanator hat unsere Tagesplanung etwas durcheinandergebracht.«
Rebekka sprang auf, ihr glückseliges Grinsen war plötzlich wie weggewischt und hatte einer sorgenvollen Miene Platz gemacht. »Konntet ihr sie davon abhalten, in Chavaleen einzudringen?«, fragte sie atemlos. »Geht es André gut? Igor meinte zwar, dass er unverletzt sei, aber vielleicht hat dieser alte Zausel einfach vergessen, dass einem seiner Herren ein Messer in den Bauch gerammt oder ein Arm abgerissen wurde.«
»Niemand ist zu Schaden gekommen«, beruhigte Nikolai sie. »Doch wir können von Glück sagen, dass die Vanator in einem Höhlenareal hinter dem Palast die Sprengung durchgeführt haben. Dort gibt es nicht einen einzigen Tunnel, der zur Stadt führt, sondern nur meterdickes Gestein. Trotzdem sind sie uns schon viel zu nah gekommen und wir müssen uns darauf vorbereiten, dass ihre nächste Aktion erfolgreicher verlaufen wird.«
Er erklärte ihnen, dass die Tunnelzugänge nach Chavaleen aus alten, für die Vampire noch sicheren Zeiten stammten und nur dank des Schutzschildes für einen Außenstehenden nicht sichtbar waren: Er glaubte dort eine stabile Höhlenwand zu sehen, und wenn er sie berührte oder dagegenlief, spürte er den Widerstand von festem Gestein. Wenn die Vanator jedoch genau an solch einer Stelle sprengen würden, konnte niemand vorhersagen, ob der Zauber dieser Wucht standhalten würde.
»Wir haben die ganze Nacht damit verbracht, an sämtlichen Durchgängen die Schutzschilde zu kontrollieren, den Schaden der Sprengung von unserer Seite aus zu prüfen und magische Drohnen auszusenden, um den genauen Standort der Vanator zu lokalisieren.«
»Dann schläft André wahrscheinlich noch, oder?«, fragte Rebekka mitfühlend.
»Nein, er hat heute Morgen schon sein übliches Training absolviert und macht sich gerade frisch.« Als er die erstaunten Blicke der drei auffing, fügte er erklärend hinzu: »Durch meine Forschungen habe ich entdeckt, wie wichtig eine gute körperliche Konstitution für einen Vampir ist. Zwar sind wir in jungen Jahren von Natur aus schneller und stärker als Menschen, doch gezieltes Kraft- und Ausdauertraining verhilft uns zu einem niedrigeren stabilen Puls, wodurch der Abbau des Fremdblutes reduziert wird. Unser Ziel ist es, so wenig Blutkonserven wie möglich zu verbrauchen, da uns dies mehr Freiheit und Unabhängigkeit schenkt. André hält sich in geradezu vorbildlicher Weise an seinen Trainingsplan, nicht einmal nach einer Nacht wie der letzten gesteht er sich eine Pause zu.« Nikolai schien die bemerkenswerte Disziplin seines Bruders eher für übertrieben als bewundernswert zu halten. »Aber wir werden ihn gleich bei meinem Vater treffen, sobald ihr bereit seid. Wenn ihr wollt, könnt ihr vorher noch in Bonesdale anrufen. Aus Sicherheitsgründen ist das Funksignal an der Oberfläche heute nur für etwa zehn Minuten eingeschaltet.« Er drückte Lilith ein Handy in die Hand. »Sicherlich wollt ihr jemanden darüber informieren, dass es euch gut geht.«
»Natürlich!«, erwiderte sie mit einem dankbaren Lächeln und begann sofort, die Nummer von Nightfallcastle zu wählen. »Meine Tante wird bestimmt froh sein zu hören, dass wir lebend in Chavaleen angekommen sind und wir noch unsere Nieren besitzen.« Sie hielt kurz inne. »Wurde auf SBN schon etwas über den Angriff der Vanator gesendet?«
Nikolai schüttelte den Kopf. »Solange wir nicht wissen, wie die Vanator auf unsere Spur gekommen sind, haben wir eine Nachrichtensperre verhängt.«
Lilith atmete innerlich auf. Wenn Mildred darüber Bescheid gewusst hätte, wäre es gut möglich gewesen, dass sie ihre sofortige Rückkehr nach Bonesdale befahl.
Nach einigen gescheiterten Versuchen erreichte sie Arthur, der ihr bedauernd mitteilte, dass Mildred gerade mit Louis und Hannibal zu einem Spaziergang aufgebrochen war. Wegen der schlechten Verbindung informierte sie ihn in Kurzfassung darüber, dass sie wohlbehalten in Chavaleen angekommen waren, es ihnen gut ging, sie jedoch noch nicht abschätzen konnten, wann sie heimkehren würden.
Rebekka konnte gerade noch über Liliths Schulter hinweg ins Telefon rufen, dass Arthur ihrer Mutter einen Gruß ausrichten solle, dann brach der Kontakt auch schon ab.
Nachdem sie das Frühstück beendet hatten, führte Nikolai sie in den Salon, in dem sie am Tag zuvor schon gewartet hatten, und an Nikolais steigender Anspannung erkannte Lilith, wie wichtig für ihn und André ihr Besuch bei Vadim sein musste.
»Perfektes Timing!« André strahlte, als er nur wenige Sekunden nach ihnen eintraf. Trotz der anstrengenden Nacht wirkte er frisch und ausgeruht und in seiner Miene lag so viel Optimismus, dass es Lilith fast schon schmerzte. Er schien davon überzeugt zu sein, dass es nur noch eine Sache von Minuten war, bis sein Vater geheilt sein würde. Sie hätte es vor Rebekka zwar nie zugegeben, doch nun war Lilith froh darüber, dass sie mitgekommen war und sie die Verantwortung für Vadims Genesung mit ihr teilen konnte.
»Wie ich gehört habe, ist er wach und die Ärzte haben ihre morgendliche Visite beendet, sodass wir gleich zu ihm können.«
»Wir werden unser Bestes geben, um ihm zu helfen«, versprach Rebekka.
»Davon bin ich überzeugt!«, gab André zurück und ergriff mit einem verzückten Lächeln ihre Hand.
Obwohl Lilith in Gedanken schon bei Vadim war und versuchte, sich alles, was sie von Imogen gelernt hatte, ins Gedächtnis zu rufen, stutzte sie bei diesem Anblick. Das Verhalten der beiden erinnerte sie so langsam an zwei Darsteller einer schlechten Soap-Serie. Waren Rebekka und André etwa gerade dabei, sich ineinander zu verlieben? Das würde immerhin das seltsame Verhalten erklären, das die beiden seit ihrem Kennenlernen an den Tag legten. Allerdings musste Lilith sich eingestehen, dass ihr diese Schlussfolgerung nicht besonders gefiel. In erster Linie natürlich, weil es auf der Hand lag, dass ein Biest wie Rebekka überhaupt nicht zu André passte. Er hatte jemand Besseren verdient, fand Lilith, jemanden, der ebenfalls hilfsbereit, mitfühlend, ehrlich und herzlich war. Jemanden wie sie selbst, nur um ein Beispiel zu nennen. Natürlich wäre der Altersunterschied zwischen André und ihr ein wenig hinderlich, aber mit etwas Geduld und vier, fünf Jahren Wartezeit würde der kaum noch ins Gewicht fallen. Es war aber auch zum Verzweifeln, dachte Lilith zerknirscht, schon in jungen Jahren zeichnete sich ab, dass sie in Liebesdingen vom Pech verfolgt war. Für Matt durfte sie wegen Emma nichts empfinden, und André, den sie bisher zum Glück nur sehr süß gefunden hatte, wurde ihr von der eigenen Verwandtschaft vor der Nase weggeschnappt. Am besten, sie schwor dieser ganzen Gefühlsduselei sofort wieder ab, bevor alles noch schlimmere Ausmaße annahm.
Matt räusperte sich und holte Lilith wieder zurück in die Realität. »Ich denke, es ist besser, wenn ich hierbleibe und auf Strychnin aufpasse, während ihr bei Vadim seid.«
»Danke, das ist lieb von dir!«, erwiderte Lilith. Sie warf Strychnin einen mahnenden Blick zu, der den Gelangweilten mimte und mit dem Fuß den Rhythmus einer Melodie auf den Boden patschte, wobei er zufälligerweise einen halben Meter von dem schlafenden Kater Aurel entfernt stand.
»Gut, dann wollen wir mal!« Nikolai öffnete die Tür und mit klopfendem Herzen trat Lilith in den dahinterliegenden Raum.
Er war erhellt von unzähligen Kerzen und der Jasminduft war so intensiv, dass es Lilith fast den Atem raubte. Man wollte anscheinend sichergehen, mögliche Geistererscheinungen, die Vadims Zustand ebenfalls hervorgerufen haben könnten, damit zu vertreiben. Der Träger des Blutstein-Amuletts lag in einem herrschaftlichen, mit Gold verzierten Himmelbett und aus einer Blutkonserve, die an einem Infusionsständer hing, floss in stetigem Strom die rötliche Flüssigkeit direkt in Vadims Venen. Beim Anblick des Kranken fühlte sich Lilith an Isadora erinnert, doch die alte Vampirlady hatte im Gegensatz zu Vadim noch einen deutlichen Lebensfunken in sich getragen, der sich in ihren Augen und ihrem Lächeln widergespiegelt hatte. Vadim war jedoch kaum wiederzuerkennen, sein Gesicht wirkte ausgezehrt und dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Seine Pupillen huschten nervös umher, trotzdem schien er die Besucher neben seinem Bett nicht wahrzunehmen. Als sein Oberkörper unvermittelt in die Höhe schoss und Vadim sich gehetzt umsah, zuckte Lilith erschrocken zusammen.
»Wer ist da?«, rief er mit heiserer Stimme. Wie ein Blinder streckte er die Arme aus, tastete um sich und bekam Liliths Handgelenk zu fassen. »Wer bist du? Gib Antwort!«
»Es ist alles in Ordnung, Vater!«, schaltete sich André mit ruhiger Stimme ein. »Nikolai und ich sind hier und haben Rebekka und Lilith mitgebracht, die beiden Banshees. Erinnerst du dich noch an Lilith? Wir haben sie letztes Jahr beim Rat der Vier kennengelernt, dank dir ist sie freigesprochen worden.«
»Lilith?« Der Griff um ihr Handgelenk lockerte sich und Vadims Anspannung ließ nach. »Für wie vergesslich hältst du mich, mein Junge? Selbstverständlich erinnere ich mich an dieses bezaubernde schwarzhaarige Mädchen. Lilith, schön, dass du gekommen bist!«
Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, doch zu Liliths Erstaunen blickte er dabei schräg an ihr vorbei ins Leere. Fragend sah sie zu André, der ihr daraufhin kaum hörbar zuraunte: »Er meint, das Todesmal hätte sich verdichtet und sich so tief über seinen Kopf gesenkt, dass er nichts mehr sehen kann.«
Sie stutzte und sah mit nachdenklicher Miene zurück auf Vadim. In der Tat bildete sich das Todesmal zuerst über dem Kopf, doch je näher die Stunde des Todes rückte, umso stärker hüllte es den Todgeweihten ein. Allerdings hatte sie noch nie davon gehört, dass dies ein Sterbender bewusst wahrgenommen hatte, dazu waren nur Banshees fähig. Wie konnte Vadim wissen, dass sich das Mal absenkte? Hatte er davon etwa in den Büchern gelesen, von denen André erzählt hatte?
Sie setzte sich neben Vadim auf die Bettkante. »Ich bin gerne gekommen, schließlich habe ich Ihnen viel zu verdanken und hoffe, dass ich mich revanchieren kann. Sie benötigen die Hilfe einer Banshee?«
»Oh ja, das tue ich.« Er tätschelte ihre Hand und ließ sich erschöpft nach hinten in die Kissen sinken. »Als Erstes könntest du meinen Söhnen klarmachen, dass ich nicht verrückt bin. Die glauben, bei mir läuft es da oben nicht mehr ganz rund.« Er hob den Zeigefinger und ließ ihn über seiner Schläfe kreisen. »Seit mir das Todesmal erschienen ist, sehen sie mich an wie den Ehemann meiner Nichte Sofie, der nackt mit einer Unterhose über dem Kopf durch Chavaleen gelaufen ist. Bitte sag den beiden, dass mich dieser schwarze Strudel schon völlig einhüllt, tust du das, Lilian?«
Lilith hätte über Vadims Eigenart, ihren Vornamen zu verwechseln, gelächelt, aber dafür war seine Frage zu ernst. Denn nun kamen sie zum eigentlichen Problem.
»Die Sache ist die, dass …« Sie stockte und starrte angestrengt auf ihre Knie, während sie nach den richtigen Worten suchte. Sie spürte, wie die Blicke von André und Nikolai erwartungsvoll auf ihr lagen und Vadim neben ihr vor Spannung den Atem anhielt. Doch sie brachte es einfach nicht über sich, den Satz zu Ende zu bringen.
»Da ist kein Todesmal«, kam Rebekka ihr mit sanfter Stimme zu Hilfe. »Es tut mir wirklich leid, aber es ist nicht einmal ein Hauch eines schwarzen Nebels zu sehen.«
Ihre gnadenlos ehrlichen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht und Vadims Gesicht verzerrte sich zu einer Maske des Schreckens.
»Nein«, hauchte er. »Nein, nein, nein!«
»Aber das ist doch ein gutes Zeichen!«, wandte Lilith ein. »Immerhin bedeutet das, dass Sie nicht sterben …«
»NEIN!«, unterbrach Vadim sie voller Verzweiflung und richtete sich erneut auf, ein dünner Schweißfilm glänzte auf seiner Stirn. »Ihr müsst euch täuschen, ich bin nicht wahnsinnig!« Mit beiden Händen klammerte er sich an Lilith. »Siehst du ihn denn nicht, Mädchen? Dort, wenige Schritte von meinem Bett entfernt, steht der Sensenmann. Seine schrecklichen gelb leuchtenden Augen sind das Einzige, das den schwarzen Schleier des Todesmals durchdringen kann. Diese Augen machen mir Angst, Lilith, und sie kommen immer näher. Bitte, sag mir, dass du ihn auch siehst!«
Der Herrscher der Vampire hielt sich wie ein kleiner Junge an ihr fest und in seiner Stimme lag so viel Furcht und Seelenqual, dass es ihr fast den Hals zuschnürte, als sie ihm antworten musste: »Nein, tut mir leid.«
»Aber das kann nicht sein!«, stieß er so vehement aus, dass ein Spuckefaden sein Kinn hinunterlief. »Ihr wollt Banshees sein und merkt den Tod nicht, wenn er neben euch steht? Wahrscheinlich besitzt ihr Mädchen nur nicht genügend Kräfte, das wird es sein. Ich bin nicht verrückt, so glaubt mir doch endlich!«
»Das hat nichts mit unseren Kräften zu tun«, widersprach Rebekka ihm. »Nur in sehr seltenen Fällen besitzt eine Banshee die Fähigkeit, den Tod als eine Art körperliche Erscheinung wahrzunehmen. Wenn ich mich richtig entsinne, hat mir meine Mutter von nur drei oder vier dokumentierten Fällen berichtet. Wie gesagt, diese Gabe ist äußerst selten und ich wüsste wohl nicht einmal davon, wenn nicht die verstorbene Schwester meiner Mutter sie besessen hätte.«
Leider wirkte Vadim ganz und gar nicht überzeugt und Andrés Plan, seinen Vater mithilfe von Lilith und Rebekka wieder zur Vernunft zu bringen, schien absolut nicht aufzugehen. Nikolai vergrub sein Gesicht in den Händen, und an Andrés Hand, mit der er den Bettpfosten umklammert hielt, traten die Knöchel weiß hervor. »Bitte, Vater, du hast mir gestern noch versprochen, auf das Urteil der beiden zu vertrauen.«
»Aber sie sind unfähig!«, spie Vadim aufgeregt aus. »Sonst würden sie meine Worte bestätigen, nur deswegen habe ich dem Treffen zugestimmt. Rebekka, deiner Stimme nach zu urteilen, kann deine Wandlung nicht länger als fünf oder sechs Jahre her sein, und von Lilith weiß ich, dass sie ihre Fähigkeiten nicht einmal ein ganzes Jahr besitzt. Als Banshees seid ihr beide völlig unerfahren!«
Lilith wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und sah peinlich berührt zu Rebekka, die mit einem ungewohnt milden Lächeln von der anderen Seite ans Bett trat. »Ich möchte nicht abstreiten, dass eine Banshee mit den Jahren an Erfahrung hinzugewinnt, allerdings gehört das Erkennen eines Todesmals zu den Dingen, die sie intuitiv beherrscht«, erklärte sie. »Aber mit Ihrem Einverständnis können Lilith und ich versuchen, die Symphorien aufzurufen. Mit deren Hilfe können wir nicht nur einem Sterbenden seinen Schmerz und seine Angst vor dem Tod nehmen, sondern die Lebensenergie eines Wesens erspüren. Wenn sie sich dem Ende neigt, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis tatsächlich das Todesmal erscheint, auch wenn wir das natürlich nicht hoffen wollen. Schließlich möchte niemand in diesem Raum, dass Sie bald sterben.«
Obwohl ihr Vorschlag Vadim wieder etwas zu beruhigen schien, knurrte er: »Du hast doch keine Ahnung, Mädchen! Wenn ihr jetzt oder für die nahe Zukunft kein Todesmal über meinem Kopf ausmachen könnt, haben wir ein großes Problem, denn ich sehe es und ihr könnt mich nicht vom Gegenteil überzeugen! Doch wir leben in unsteten Zeiten und ein Führer der Vampire darf nicht wahnsinnig sein, das fällt auf die ganze Familie zurück. Bei uns Vampiren ist eine geistige Krankheit mit einem Stigma belegt. Verrücktsein ist schwach, Schwäche ist erblich. Wenn mein Volk davon erfährt, gibt es eine Rebellion und André wird niemals meine Nachfolge antreten können. Dann ist alles verloren …« Seine Stimme brach und sein Oberkörper erbebte unter einem lautlosen Schluchzen.
Nikolai stand auf und stellte sich schützend vors Bett, sodass Lilith und André zurücktreten mussten. »Vielleicht ist es besser, wenn wir den Besuch an dieser Stelle beenden«, sagte er mit entschlossener Stimme.
»Aber was ist mit diesen Symphorien, die Rebekka aufrufen will?«, wandte sein Bruder ein.
»Was sollte das bringen, André? Die beiden haben uns glaubhaft versichert, dass sie weder den Sensenmann noch das Todesmal sehen. Willst du Vater noch mehr quälen?«
Nikolais Tonfall war so schneidend, dass André verunsichert zusammenzuckte. Insgeheim konnte Lilith Nikolais Eingreifen durchaus nachvollziehen. Ihr Besuch hatte Vadim sichtlich aufgewühlt und an seinen Kräften gezehrt. Wie würde er es in seinem Zustand verkraften, wenn er nun noch erfahren müsste, dass seine Lebenskraft lange nicht aufgebraucht und er somit tatsächlich verrückt war?
»Natürlich nicht, du weißt, wie sehr mir Vaters Wohl am Herzen liegt.« Er blickte mit einem liebevollen Funkeln in den Augen zu seinem Vater und hob die Hände. »Ich denke nur, dass wir alles, was möglich ist, ausprobieren sollten. Vater war immer ein Rationalist, und was er wahrnimmt, scheint für mich nicht nur das Hirngespinst eines Wahnsinnigen zu sein – schließlich unterhält er sich ansonsten völlig normal und vernünftig mit uns. Wir müssen versuchen, diesem Rätsel auf die Spur zu kommen.«
»Aber …«, setzte Nikolai zum Widerspruch an.
»Still, Nikolai!«, fuhr Vadim dazwischen. »Wir machen es so, wie André gesagt hat. Du solltest dich besser daran gewöhnen, seinem Willen zu gehorchen.« Seine Mimik blieb unverändert, und doch lag in seiner Stimme etwas Missfallendes, ein winziges Zucken umspielte seine Mundwinkel, ein enttäuschtes Kopfschütteln über seinen älteren Sohn, der nicht seinen Vorstellungen zu entsprechen schien.
Lilith hatte keine Ahnung, warum dies so war. Doch sie spürte augenblicklich Mitleid für Nikolai – angesichts Vadims halbherzig versteckter Ablehnung diesem familiären Geheimnis gegenüber, das viel zu offensichtlich war, um eines zu sein.
»Ist gut, Vater«, murmelte Nikolai und trat zurück.
»Lilith, lass uns einen Kreis bilden, um unsere Kräfte zusammenzuschließen und zu verstärken!«, schlug Rebekka tatkräftig vor und ergriff über das Bett hinweg Liliths Hand. Ihre andere legte sie auf Vadims Stirn, während Lilith ihre über Vadims Herz bettete.
»Es wird nicht wehtun«, raunte Lilith ihm zu. »Versuchen Sie ruhig zu bleiben und geben Sie uns ein wenig Zeit.«
Vadim nickte, atmete tief durch und schloss die Augen. Lilith versuchte, sich auf ihr inneres Zentrum zu konzentrieren, doch es war schwieriger als gewöhnlich. Bisher hatte sie nur ein Mal während einer Unterrichtsstunde die Lebensenergie eines Wesens geprüft. Imogen hatte ihr damals erklärt, dass jede Banshee die Lebensenergie auf andere Art und Weise wahrnahm, und so hatte Lilith lange suchen müssen, bis sie endlich in Imogens Geist eindringen konnte und das Bild einer Eiche im Spätsommer vor ihrem inneren Auge erschien. Die Blätter waren noch grün, doch zeigten sich schon die ersten Verfärbungen, was bedeutete, dass Imogens Lebensenergie ihren Zenit zwar schon überschritten hatte, jedoch noch lange nicht aufgebraucht war. Anfangs bedauerte Lilith, dass sie kein praktischeres Sinnbild in sich trug, wie zum Beispiel eine Sanduhr, doch schließlich begriff sie die Bedeutung des Baumes: Bei einem Baby, das schutzlos und anfällig für Krankheiten war, trug die junge Eiche nur wenige, noch keimende Blätter, doch mit den Jahren gewann sie an Stärke und Kraft, bis sie irgendwann groß und prachtvoll gewachsen war. Lilith wusste, dass sie bei Vadim dieses Bild nicht erwarten konnte.
Was war heute nur mit ihr los? Sie verspürte lediglich ein leichtes magisches Kribbeln, und die Wärme, die ihr Inneres normalerweise erfüllte, flackerte nur für kurze Augenblicke auf. Es war fast wie in den ersten Monaten nach ihrer Wandlung, als sie von Imogen diverse Duftstoffe als Hilfsmittel benötigte, um ihre Kräfte abrufen zu können. Hinderten sie all die widersprüchlichen Emotionen daran, zur Ruhe zu kommen? Denn wenn sie Vadims inständige Hoffnungen zu teilen begann, dann müsste sie sich seinen baldigen Tod wünschen und das brachte sie einfach nicht übers Herz.
Lilith stieß frustriert den Atem aus und erinnerte sich an Rebekkas Worte: Sie waren unter der Erde, abgeschnitten vom Zyklus der Natur, teilten nicht mehr den Rhythmus von Tag und Nacht, und ihre Bansheekraft war dabei, in einen tiefen Schlaf zu fallen.
»Ganz ruhig, es wird funktionieren«, raunte Rebekka ihr zu. »Atme. Liebe. Beschütze. Stirb.«
Wie ein Mantra wiederholte sie die Worte und schließlich fiel auch Lilith mit ein. Immer wieder murmelten sie die Namen der Symphorien und plötzlich leuchteten die Zeichen in Liliths Geist auf. Sie nahm Rebekkas magische Präsenz neben ihrer wahr und verblüfft stellte sie fest, wie sich ihre Kräfte wie von selbst miteinander verbanden und harmonisch zusammenfügten. Sie tauchten in Vadims Geist ein und schon formte sich vor Liliths Auge das Bild der Eiche. Sie war so erschüttert über deren Anblick, dass Lilith für einen Moment ihre Konzentration verlor und die Verbindung fast abgerissen wäre: Die Rinde der Eiche hatte eine schwarze Färbung angenommen, um ihren Stamm sammelte sich das Laub, die Äste waren verdorrt und lediglich ein einziges farbloses Blatt baumelte in ihrer Krone. Lilith wusste, was dies zu bedeuten hatte. Es war nur noch eine Frage von Tagen oder sogar Stunden, bis Rebekka und sie das Todesmal bei Vadim sichten würden. Er schien mit seiner Prophezeiung über die wenige Zeit, die ihm bleiben sollte, absolut richtig zu liegen. Entsprachen dann vielleicht auch die anderen Dinge der Wahrheit? Das würde immerhin erklären, weshalb Vadim imstande war, so detailliert über das Todesmal zu berichten. Aber das ergab alles keinen Sinn! Nicht einmal eine Banshee konnte ihren eigenen Tod vorhersagen und Vadim war lediglich ein Vampir. Eigentlich wollten sie das Rätsel um Vadims Wahnvorstellungen lösen, aber nun hatte sich alles noch mehr verkompliziert …
Etwas Sanftes, so flüchtig wie ein Frühlingshauch, streifte ihr Bewusstsein und weckte Liliths Aufmerksamkeit. War es Rebekkas magische Anwesenheit, die sie für einen Moment aus den Augen verloren hatte?
»Lilith«, hörte sie in diesem Augenblick Rebekkas Stimme wie aus weiter Ferne. »Ich denke, wir sind fertig. Ziehen wir uns zurück!«
Nein, Rebekkas Präsenz fühlte sich anders an, stärker und lebendiger. Das, was Lilith gespürt hatte, war so zart und unwirklich gewesen, dass sie es beinahe nicht wahrgenommen hätte. War außer Rebekka und ihr etwa noch etwas anderes in Vadims Geist eingedrungen? Wenn sie es nur noch ein Mal ausfindig machen könnte, und sei es nur, um sicherzugehen, dass sie es sich nicht nur eingebildet hatte!
»Lilith, es hat keinen Sinn mehr, wir brechen den Kontakt jetzt ab!«
»Nein!«, murmelte Lilith. »Noch nicht.«
In aller Eile streckte sie ihre mentalen Sensoren aus und tastete um sich, doch ehe sie auch nur eine Spur aufnehmen konnte, entwand sich Rebekkas Hand der ihren, das magische Band zwischen ihnen brach jäh ab und Lilith wurde wie ein Katapult aus Vadims Bewusstsein zurück in die Realität geschleudert.
»Verdammt!«, entfuhr es ihr. Sie fasste sich an den Kopf, der von einem pulsierenden Schmerz erfüllt war, und funkelte Rebekka wütend an.
»Entschuldige«, gab diese schulterzuckend zurück, »aber da du nicht reagiert hast, musste ich diese rabiate Methode anwenden. Was hast du denn gehofft, noch zu finden?«
»Aber da war doch …« Lilith stockte und biss sich auf die Unterlippe. Offensichtlich hatte Rebekka nichts Ungewöhnliches bemerkt und plötzlich kamen ihr Zweifel. Was konnte sie ihr schon antworten? Dass sie in Vadims Bewusstsein ein unbestimmtes Etwas gestreift hatte, von dem sie keine Ahnung hatte, was es gewesen sein könnte? Wenn sie Vadim noch mehr Grund geben wollte, ihre Fähigkeiten infrage zu stellen, wäre dies wahrscheinlich der beste Weg.
»Was ist nun?«, fragte er heißer. »Wie steht es um meine Lebenskraft?«
Wieder war es Rebekka, die den Mut aufbrachte, ihm die Wahrheit zu sagen: »Sie ist kaum noch vorhanden. In diesem Punkt liegen Sie mit Ihrer Befürchtung leider richtig.«
»Das heißt, er wird …« Andrés Stimme brach ab, ehe er den Satz zu Ende brachte.
Rebekka nickte. »Ihm bleiben höchstens noch ein paar Tage.«
Am nächsten Mittag machte sich Lilith auf den Weg zu Nikolais Laboratorium, das in einem entlegenen Winkel des Palastes lag. Igor schlurfte in langsamem Tempo voran, doch Lilith hatte es nicht eilig, zu der Besprechung wegen des Zusammenschlusses der beiden Amulette zu kommen. Ihre Stimmung war seit ihrem Besuch bei Vadim auf dem Tiefpunkt, selbst Rebekka hatte sich seither in ihrem Zimmer verkrochen und nichts mehr von sich hören lassen. Lilith musste zugeben, dass Rebekka ihre Aufgabe bei Vadim großartig gemeistert hatte, wohingegen sie mit ihrer eigenen Leistung nur bedingt zufrieden war. Es kostete Lilith große Überwindung, schlechte und schmerzhafte Nachrichten zu überbringen, vor allen Dingen, wenn ihr diejenigen ans Herz gewachsen waren. In solchen Momenten wünschte sie sich, sie wäre eine Glücksfee anstatt einer Banshee, denn es lag in der Natur der Dinge, dass sich kaum jemand darüber freute, wenn eine Todesfee den baldigen Tod prophezeite. Im Grunde, dachte sie bitter, war eine Banshee nichts anderes als die schlimmste Ausgabe einer Unken-Hexe.
Matt hatte versucht, sie etwas aufzumuntern, und dazu überredet, mit ihm gemeinsam Chavaleen zu erkunden. Sie hatten den Tag damit verbracht, die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu besichtigen, wie eine alte Begräbnisstätte mit Hunderten in Stein gehauener Nischen, auf die die Vampire bei ihren Grabungen gestoßen waren und die von einem längst vergessenen Volk stammten. Besonders angetan war Lilith von einem Kristallgarten, in dem nicht nur die schönsten kunstvoll geschliffenen Edelsteine der Vampire präsentiert wurden, sondern auch dank starker UV-Strahler richtige Bäume und Blumen wuchsen. Matt dagegen faszinierten die Summsteine: Es waren etwa zwei Meter hohe Steine mit Löchern, in die man seinen Kopf stecken und summen sollte. Das war leichter gesagt als getan, denn man musste in genau der Tonhöhe summen, die dem persönlichen Tremor entsprach und die jedem Wesen allein eigen war. Hatte man nach vielen Versuchen endlich seinen Ton gefunden, dann lief eine solch starke Vibration durch den Körper, dass man das Kribbeln in Rücken und Bauch bis hin zu den Fußsohlen spüren konnte. Die starke Resonanz führte dazu, dass man den Ton auch außerhalb des Summsteins hören konnte, und es gab sogar Veranstaltungen, wo Vampire mit unterschiedlichem Tremor Musikstücke aufführten.
Nachdem Lilith und Matt auf dem Hadesboulevard die zahlreichen Geschäfte und Restaurants in Augenschein genommen hatten, waren sie in eine etwas zwielichtige Gegend geraten, wo ein ungepflegter Vampir mit gierigen Augen Matt dazu überreden wollte, mit ihm Blut-Poker zu spielen, und die beiden beeilten sich, schnell von dort zu verschwinden. Von diesem kleinen Zwischenfall abgesehen, waren Matt und Lilith von Chavaleen wie verzaubert. Man schien vom Fortschreiten der Zeit abgetrennt zu sein und trotz der Gefahr durch die Vanator strahlten die Bewohner eine bemerkenswerte Seelenruhe aus. Selbst ihre Gangart und die Gesten wirkten sanft und bedächtig, oft traf man in den Tunneln und Straßen Grüppchen an, die lachend miteinander plauderten, die Einkaufstaschen auf dem Boden abgestellt und die Kinder fröhlich um sie herumspringend.
»Nun passieren wir den Kerkerbereich, Mylady«, verkündete Igor stolz. »Bei der Einrichtung haben wir uns übrigens von dem berühmten Kerker in Nightfallcastle inspirieren lassen. Hier bei uns können bis zu fünfzig Gefangene gleichzeitig in Einzelzellen gehalten werden, wobei jede Zelle mit hochmodernen Foltergeräten ausgestattet ist. Ich wische hier unten einmal pro Woche gründlich durch und schaue nach dem Rechten, um für mögliche Gäste bereit zu sein.«
»Sehr umsichtig von Ihnen«, murmelte Lilith nachdenklich.
Wenn sie der Wahrheit ins Auge sah, hatte ihr Besuch bei Vadim rein gar nichts bewirkt. Rebekka und sie konnten weder mit Sicherheit sagen, dass Vadim unter Wahnvorstellungen litt, aber auch nicht bestätigen, was er zu sehen glaubte. Wenn nicht noch der Zusammenschluss der Amulette geplant gewesen wäre, hätten sie genauso gut abreisen können. Es war frustrierend, Vadim und seinen Söhnen nicht helfen zu können, und womöglich wanderten deshalb Liliths Gedanken immer wieder zu der seltsamen magischen Präsenz zurück, die sie gestreift hatte. Dabei konnte sie ausschließen, dass es sich um einen Dämon oder ein Geistwesen handelte, denn wenn jemand besessen war, hüllte der fremde Geist das eigentliche Bewusstsein ein wie ein klebriger Kokon. Leider endete an diesem Punkt auch schon ihr Wissen über Besessenheit, und je länger der Vorfall zurücklag, umso mehr wuchs ihre Unsicherheit, ob sie sich diese hauchzarte Präsenz vielleicht nur eingebildet hatte. Genauso wenig fand sie eine Erklärung dafür, wieso Vadims eigene Voraussage seines baldigen Todes tatsächlich mit seinem wahrscheinlichen Todeszeitpunkt übereinstimmte. Umso mehr hoffte sie, dass er und seine Söhne die wenige Zeit, die ihnen gemeinsam blieb, nutzten.
Igor lief vor ihr durch die dunklen, nur spärlich beleuchteten Gänge, die sich immer tiefer unter den Palast zu graben schienen.
Lilith fragte sich, warum Laboratorien sich eigentlich immer in dunklen Kellern befinden mussten. Auch Regius hatte sich bei ihrem Umzug nach Nightfallcastle geweigert, irgendwo anders als im Keller sein Laboratorium einzurichten, weshalb sie den Teil des Kerkerbereichs, der für die Touristen zugänglich war, sicherheitshalber mit einer magischen Schall- und Geruchsdämmung hatten ausstatten müssen.
Endlich verharrte Igor vor einer wuchtigen Holztür, räusperte sich und klopfte dezent. »Mylord?«
Es kam keine Antwort, was Lilith nicht wunderte – durch die massive Tür konnte Nikolai Igor kaum gehört haben.
»Wie wäre es, wenn Sie lauter klopfen?«, schlug sie vor.
»Das geht leider nicht, eine der zweiundsiebzig Grundregeln, die ein Butler auf der Butlerakademie lernt, lautet, dass das Klopfen sechzig Dezibel nicht überschreiten darf, um den Herrschaften im Zimmer keinen Schreck zu versetzen oder sie versehentlich aufzuwecken.«
Lilith ahnte so langsam, warum Igor permanent zu spät kam und seine Aufträge im Schneckentempo erledigte. Wie lange er wohl vorhin vor ihrer Zimmertür gestanden und vergeblich geklopft hatte?
»Ich bin äußerst angetan von Ihrer vorschriftsmäßigen Arbeitshaltung«, gab sie im Tonfall einer vornehmen Burgbesitzerin zurück, während sie sich unauffällig auf die Zehenspitzen stellte und ihren Arm hob. »Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach ist, sechzig Dezibel einzuhalten.« Sie donnerte mit der Faust gegen die Tür. »Meinen Sie, das war zu laut?«
»Ja bitte?«, tönte es sofort von drinnen.
Igor schnappte empört nach Luft. »Das war ganz entschieden zu laut, junge Dame!«
Sie drückte sich mit einem entschuldigenden Lächeln an ihm vorbei, öffnete die Tür und betrat das Laboratorium. Im ersten Moment sah sie nur einen langen, mit Tischen und Bücherregalen vollgestellten Raum, in dem so etwas wie ein wohlgeordnetes Chaos herrschte. In einer Ecke blubberten und dampften farbenfrohe Flüssigkeiten in bauchigen Reagenzgläsern, in der anderen sammelten sich Insekten und anderes Kleingetier in Terrarien, aus denen ein beständiges Zirpen und Rascheln zu hören war. Nikolai stand in Gedanken versunken vor einer Karte an einer Wand, die mit roten und blauen Nadeln bestückt war.
»Ist das Chavaleen und das Höhlensystem, das die Stadt umgibt?«, fragte sie und betrachtete interessiert das Gewirr von Gängen und Tunneln.
Nikolai begrüßte sie mit einem Lächeln und nickte zustimmend. »Die roten Punkte sind die Vanator und die blauen unsere Zugänge«, erklärte er und deutete auf zwei gelbe Nadeln. »Es gibt zwei Schwachstellen, an denen die Durchgänge relativ groß sind, leider jedoch am äußeren Rand des Schutzschildes liegen. Wir können nur hoffen, dass die Vanator nicht auf die Idee kommen, an einer dieser Stellen zu sprengen.« Sein Gesicht verfinsterte sich.
»Macht ihr euch Sorgen, dass die Vanator wieder einen Tipp aus euren Reihen bekommen könnten?«
»Das ist nicht auszuschließen«, räumte er ein. »Allerdings gibt es Grund zur Hoffnung, dass der Kontakt zwischen den Vanator und den Verrätern nicht allzu gut ist, ansonsten hätten sie nicht an dieser völlig falschen Stelle gesprengt. Dynamit ist teuer und für Menschen nicht so leicht aufzutreiben. Von diesem herben Rückschlag müssen sich die Vanator erst einmal erholen. Trotzdem sollten wir die Zeremonie mit den Amuletten baldmöglichst durchführen.« Er wandte sich mit einem Seufzer ab und trat an einen Tisch, der mit Büchern, Karten und Notizzetteln übersät war.
»Gut, von mir aus können wir sofort loslegen!« Lilith wollte den Verschluss ihres Amuletts lösen, doch Nikolai bremste sie, indem er ihr die Hand auf den Arm legte.
»So schnell geht es leider auch wieder nicht. Razvan hat offiziell Einspruch dagegen eingelegt, dass das Bernstein-Amulett unseren Schutzschild verstärken soll. André und ich sehen es als Zeichen unserer Freundschaft und unseres Vertrauens in die Nocturi, doch er als Gefahr. Laut den Niederschriften über die Amulette kannst du nach dem Zusammenschluss mit deinem Bernstein-Amulett Chavaleen jederzeit und an jedem beliebigen Zugang betreten, selbst wenn du uns als Gast nicht willkommen wärst. Weitaus schwerwiegender ist allerdings, dass ihr den Schutz auch ohne unsere Zustimmung komplett aufheben und somit den Weg für die Vanator frei machen könnt.«
Lilith runzelte die Stirn. »Aber warum sollten wir das tun? Wir haben euch geholfen, den Schutzschild überhaupt erst zu erschaffen.«
»Genau das habe ich ihm auch gesagt, doch er beharrt darauf, dass man nie wissen könne, wie sich Allianzen im Laufe der Zeit entwickeln, und Freunde leicht zu Feinden werden.« Er durchsuchte einen Stapel Papiere, während er verärgert das Gesicht verzog. »Ich habe lange mit Razvan darüber diskutiert, leider vergeblich. André könnte ihn wahrscheinlich zur Vernunft bringen, aber seit ihr bei Vater wart, weicht mein Bruder nicht mehr von seiner Seite. Ich habe André deswegen versprochen, ihm die Organisation für die anstehende Zeremonie abzunehmen. Du hast wahrscheinlich bemerkt, wie sehr die beiden aneinander hängen.«
Lilith nickte peinlich berührt, denn automatisch erinnerte sie sich an die Szene, wie Vadim seinen ältesten Sohn so rüde zurückgewiesen hatte, und als hätte Nikolai ihre Gedanken erraten, sagte er: »Es tut mir leid, dass André und ich uns am Bett unseres Vaters gestritten haben, dabei haben wir wohl keinen besonders guten Eindruck auf euch gemacht. Mir lag wirklich nur Vaters Wohl am Herzen, ich wollte ihn schützen.«
»So schlecht, wie es ihm ging, hattest du dazu auch allen Grund.« Lilith zog bedrückt die Schultern hoch. »Eigentlich konnten wir kaum etwas für Vadim tun und wahrscheinlich habt ihr euch von unseren Fähigkeiten viel mehr versprochen.«
Er gab seine Suche in dem Papierstapel auf und durchforstete nun einen Berg von Manuskripten. »Ganz umsonst war euer Besuch sicherlich nicht, immerhin habt ihr bestätigt, dass Vater nicht mehr viel Zeit bleibt, und so können sich André und Vadim noch über die Details der Nachfolge austauschen. Wegen der Vanator und den Unruhen im Volk ist das Erbe, das André antreten muss, nicht gerade leicht, und Vater kann ihm wertvolle Tipps für die erste Zeit des Wechsels mit auf den Weg geben.«
»Du bist der Erstgeborene, warum bist eigentlich nicht du …«
Sie stockte, da ihr die Frage plötzlich ziemlich taktlos vorkam.
»Warum ich nicht als Nachfolger bestimmt wurde?«, entgegnete Nikolai mit einem unbekümmerten Lächeln. »Du hast recht, eigentlich würde mir der Thron zustehen. Auch wenn wir uns sehr ähnlich sehen, sind André und ich nur Halbbrüder, deswegen auch der große Altersunterschied. Meine Mutter stammt aus einer Adelsfamilie aus dem Norden Russlands, sie hat sich hier unter der Erde nie wohlgefühlt und sehr gelitten, die meiste Zeit hat sie sich in die Welt der Bücher geflüchtet. Als ich die Volljährigkeit erreichte, haben sich meine Eltern zur Trennung entschieden und Mutter ist nach Russland zurückgekehrt. Wenig später heiratete Vater erneut und André wurde geboren.« Mittlerweile hatte er den Manuskriptstapel erfolglos durchgearbeitet und rieb sich ratlos die Stirn. »Wo habe ich nur dieses Notizbuch über die vier Amulette hingelegt?«
»Soll ich dir suchen helfen?«, bot Lilith an.
Er winkte ab. »Danke, aber wenn selbst ich mich in diesem Durcheinander nicht zurechtfinde, kannst du leider auch nichts ausrichten. Aber du könntest mir das Glas geben, das rechts neben dir steht!«
Lilith drehte sich um und nahm mit angewidertem Gesicht das Gefäß in die Hand. »Igitt, sieht das widerlich aus, wie radioaktiver Schneckenschleim. Was für ein Experiment ist das denn? Bio-Sprengstoff?«
Nikolai zog eine Augenbraue hoch. »Das ist mein täglicher Vitaminshake von Igor.«
»Oh.« Mit glühenden Wangen reichte Lilith ihm das Glas. »Wohl bekomm’s.«
Er führte sie zu einer Sitzecke und räumte ihr einen Platz auf einem abgewetzten Sofa frei. »Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei Andrés Geburt – nun, schon in den folgenden Jahren zeichnete sich ab, dass er Vater sehr viel ähnlicher werden würde als ich. Zu diesem Zeitpunkt war Vadim übrigens noch nicht Träger des Blutstein-Amuletts, sondern nur einer der nächsten Anverwandten unseres Führers und sein politischer Berater. Nachdem dessen Sohn Victor vom Amulett getötet wurde, stand eigentlich Razvan der Thron zu, doch er verzichtete freiwillig darauf. Was ich gut nachvollziehen kann, denn es ist eine Sache, in der Theorie zu wissen, dass das Blutstein-Amulett viele der Thronanwärter zu Asche pulverisiert, aber eine ganz andere, wenn es vor den eigenen Augen geschieht. Ich sage dir, das ist ein schrecklicher Anblick.« Er erschauderte sichtlich. »Ich bewundere den Mut meines Vaters, dass er es trotzdem gewagt und das Amulett angelegt hat. Nachdem er erwählt wurde, katapultierte mich dies unfreiwilligerweise an den ersten Platz der Rangfolge, dabei war und ist meine Welt die Wissenschaft. Ich liebe mein Laboratorium und ich liebe es, einem Rätsel, das unlösbar erscheint, mithilfe von Experimenten und Studien auf die Spur zu kommen. Schon seit meiner Kindheit interessiere ich mich für Biologie, die Entstehung des Lebens und für all die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den magischen und nicht magischen Spezies.«
Tatsächlich hatte Lilith schon festgestellt, dass Nikolai hier unten sehr viel gelöster und glücklicher wirkte. Seine Erzählung beantwortete aber auch einige weitere Fragen, die sie sich seit ihrer Ankunft in Chavaleen gestellt hatte, beispielsweise warum Razvan sich beim gemeinsamen Abendessen so rebellisch und wenig demütig gezeigt hatte. Wenn er sich als eigentlicher Führer der Vampire sah, war es für ihn sicherlich nicht einfach, Vadims Befehle zu befolgen. Ob er mittlerweile bereute, dass er auf den Thron verzichtet hatte?
»Politik, Regierungsgeschäfte und der Wunsch, unser Volk anzuführen, waren seit jeher Vadims und Andrés Leidenschaft«, fuhr Nikolai ohne eine Spur des Bedauerns fort. »Als Vater mir offenbarte, dass er André für den passenderen Nachfolger hält und ihn als zukünftigen Führer aufbauen möchte, war ich ehrlich gesagt erleichtert. Ich hatte schon Albträume, wie sich das Amulett bei meiner Anwärterschaft erwärmt und mich die Flammen verschlingen.«
»Ich hätte das Bernstein-Amulett wohl auch nicht angelegt, wenn ich gewusst hätte, was für ein Risiko ich damit eingehe«, gestand sie Nikolai. Sie hätte nie erwartet, dass selbst ein erwachsener Mann, der in diese Welt hineingeboren war, mit ähnlichen Ängsten und Selbstzweifeln zu kämpfen hatte. »Obwohl ich mich langsam an meine neue Rolle gewöhne, bin ich mir immer noch nicht sicher, ob ich dafür wirklich geeignet bin. Immerhin bin ich bei den Menschen aufgewachsen und habe über die Welt der Untoten noch viel zu lernen.« Unwillkürlich dachte sie an ihren peinlichen Auftritt bei Emmas letzter Hexenprüfung zurück. »Und dass meine Begegnungen mit Belial bisher so glimpflich ausgegangen sind, hatte ich weniger meinem Können als dem Glück zu verdanken.«
»Du solltest deine Siege nicht nur auf einen glücklichen Zufall schieben! Manchmal ist es weniger das Können als die Entschlossenheit und der Charakter, die über den Ausgang einer Schlacht entscheiden.«
Wie um seine eigene Entschlossenheit unter Beweis zu stellen, leerte er sein Glas mit dem gallertartigen Vitaminshake in einem Zug. Schon allein vom Zuschauen musste Lilith trocken würgen.
Aber vielleicht war es tatsächlich an der Zeit, dass sie etwas selbstbewusster auf ihre Taten zurückblickte? Sie erinnerte sich daran, wie sie gemeinsam mit Matt gegen Belial gekämpft hatte, während Emma die Dorfbewohner zu ihrer Rettung ins Kindermoor gelotst hatte. Und wie sie es beim letzten Zusammentreffen mit Belial gemeinsam mit Strychnin geschafft hatte, den Erzdämon zu verjagen. Ihr wurde bewusst, dass sie diese Siege nicht unbedingt ihrer Entschlossenheit zu verdanken hatte, sondern etwas viel Wertvollerem, etwas, das Belial nie besitzen würde: wahre Freunde.
»Wenigstens hat euch bisher nur der Erzdämon heimgesucht«, fuhr Nikolai fort. »Wenn es den Malecorax oder den gestaltlosen Dämonen gelingen sollte, ihrem Herrn zu folgen, brechen für Bonesdale und den Rest der Welt düstere Zeiten an.«
»Das darf ich mir gar nicht erst vorstellen.« Lilith überlief eine kalte Gänsehaut. »Es muss schrecklich gewesen sein, als die gestaltlosen Dämonen bei der Schlacht am Schattenportal die Nocturi in Besitz genommen und ihrem Willen unterworfen haben. Die Dämonen sind so herzlos und grausam!«
Nikolai wiegte nachdenklich den Kopf. »Wenn man große Macht besitzt, ist es schwer, der Versuchung zu widerstehen, sie auch einzusetzen. Und je mehr bei einem Kampf für eine Partei auf dem Spiel steht, umso stärker leiden in der Regel die moralischen und ethischen Grundsätze. Von ihrer Seite aus betrachtet, hatten die Dämonen gute Gründe, sich so zu verhalten.«
»Du bist auf ihrer Seite? Nach allem, was sie getan haben?« Lilith sah ihn völlig entgeistert an. »Auch wenn ich mir über vieles in der Welt der Untoten noch nicht im Klaren bin, weiß ich immerhin eines mit absoluter Sicherheit: Ich muss die Dämonen daran hindern, den Pakt der Vier aufzuheben! Es darf nie wieder so weit kommen, dass sie sich in unserer Welt wie gottgleiche Herrscher aufführen und unschuldigen Menschen ihren Willen aufzwingen«
Nikolai setzte sich auf und warf Lilith über den Rand seiner Brille einen schneidenden Blick zu. »Ich bin nicht auf ihrer Seite!« Er stellte scheppernd sein Glas auf dem Tisch ab. »Ich denke nur, dass die Dämonen verzweifelt waren und unbedingt siegen wollten. Jede Partei in diesem Kampf hatte ihre eigene Motivation und man sollte nicht jemanden vorschnell als grundsätzlich böse verurteilen. Abgesehen davon sind die Menschen, die du unbedingt vor ihnen schützen willst, auch nicht viel besser.«
Entrüstet über diesen Vorwurf schnappte Lilith nach Luft.
»Wir haben vielleicht unsere Fehler, aber so schlimm wie die Dämonen sind wir bestimmt nicht.« Automatisch hatte sie sich selbst zu den Menschen gezählt und wahrscheinlich würde sie sich immer beiden Welten zugehörig fühlen.
»Dann scheinst du dich, für die Tochter eines Historikers, in der Geschichte der Sterblichen nicht besonders gut auszukennen. Die Dämonen haben bei uns eine neue Welt entdeckt, genau wie die Europäer damals mit der Entdeckung Amerikas. Erinnerst du dich, wie sie mit den Ureinwohnern umgegangen sind? Sie haben sie belogen, ihr Land und ihre Schätze geraubt, sie unterdrückt, gequält und getötet. Genau wie die Dämonen hatten sie die Macht und setzten sie zu ihrem Vorteil ein.«
»Ja, aber … aber …«, stammelte Lilith und suchte nach einer passenden Entgegnung. »Das waren Männer!«
Okay, das war kein besonders scharfsinniges Argument und sie konnte es Nikolai nicht verübeln, dass er sie irritiert anblinzelte.
»Die Hälfte aller Lebewesen sind Männer, du scheinst kein besonders gutes Bild von uns zu haben.«
»Nicht von allen«, wiegelte sie sofort ab und machte eine vage Handbewegung. »Eher so in der Gesamtheit. Ich glaube, die Welt wäre ein friedlicherer Ort, wenn mehr Frauen an der Macht wären.«
»Vielleicht hast du damit sogar recht.« Er schwieg einen Moment, dann umspielte ein mildes Lächeln seine Lippen. »Somit bist du als Führerin der Nocturi doch genau am richtigen Platz, oder?«
Damit lag er gar nicht so falsch: Die Position, in die sie so unfreiwillig hineingeraten war, bot ihr tatsächlich die Chance, etwas zu bewegen. Vielleicht besaß sie damit die Möglichkeit, die Welt ein kleines Stück besser zu machen.
Nikolai erhob sich. »So langsam sollte ich mich wieder auf die Suche nach dem Notizbuch machen, das ich dir mitgeben möchte. Ich hoffe, wir werden bald fündig, denn ich wollte vor dem Abendessen noch bei Vater vorbeisehen.«
Auch Lilith stand auf und folgte ihm an einen Tisch, auf dem weitere Bücher, Notizen, Zeichnungen und halb fertige Experimente wild verstreut lagen. »Wie geht es Vadim denn?«, fragte sie vorsichtig.
Nikolais Hände, die geschäftig die Unordnung durchsucht hatten, erstarrten mitten in der Bewegung. Er lehnte sich wortlos gegen den Tisch und nahm mit einer erschöpften Geste die Brille ab. »Seine Kräfte schwinden von Stunde zu Stunde, und die Momente, in denen er wach und sein Geist klar ist, werden immer weniger. Ich hätte nicht gedacht, wie sehr es schmerzt, einen geliebten Menschen derart dahinsiechen zu sehen.«
Er stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Es tut mir so leid«, sagte Lilith mitfühlend. »Wenn ich euch irgendwie helfen kann …«
»Danke, das ist lieb von dir.« Er schenkte ihr ein trauriges Lächeln. »Aber Rebekka tut alles, was in ihrer Macht steht, und ich schätze, André hätte die vergangene Nacht ohne sie nicht so tapfer und gefasst überstanden. Wenn Vaters letzter Moment gekommen ist, hat sie versprochen, ihm mithilfe ihrer Fähigkeiten die Angst und den Schmerz zu nehmen, was sowohl uns als auch Vater sehr beruhigt.«
»Rebekka ist bei Vadim?«, entfuhr es Lilith verblüfft.
Sie war davon ausgegangen, dass Rebekka seit gestern Morgen trübselig in ihrem Zimmer herumsaß und niemanden sprechen wollte, dabei war sie, ohne ein Wort darüber zu verlieren, schnurstracks zu André zurückgegangen! Bewegte Rebekka tatsächlich die reine Nächstenliebe dazu oder bezweckte sie etwas damit?
»Rebekka hat wohl vergessen, mich darüber zu informieren«, erklärte sie Nikolai ihre Überraschung. »Ansonsten hätte ich euch natürlich ebenfalls unterstützt, ich wollte mich dir und André nur nicht aufzwingen und eure letzten gemeinsamen Augenblicke mit eurem Vater stören. Ich hoffe, ihr seid nicht enttäuscht, dass ich nicht auch an Vadims Bett gewacht habe?«
»Keineswegs!«, versicherte er ihr, setzte seine Brille auf und wandte sich wieder seiner Suche zu. »Aber genau wie Rebekka muss ich dir das Versprechen abnehmen, keine Details über euren Besuch bei meinem Vater zu verlieren. Unter den gegebenen Umständen haben wir zwar mittlerweile verlauten lassen, dass Vater ernsthaft erkrankt ist, doch offiziell liegt es an seinem schwachen Herzen und nicht an …na, du weißt schon. Wir vertrauen euch beiden!«
Froh, wenigstens in diesem Punkt den beiden Brüdern helfen zu können, nickte Lilith eifrig. »Natürlich verspreche ich das! Ihr könnt euch auf mein Schweigen verlassen.«
Sie griff nach einer Petrischale auf dem Tisch und betrachtete skeptisch den schwarz gepunkteten Inhalt. »Was ist denn das?«
»Nur ein altes Experiment mit Mikroorganismen, die ich in einer der tieferen Höhlen entdeckt habe«, winkte Nikolai ab. »Viele Wissenschaftler sind der Meinung, dass die Mikroorganismen, die sich hier unten gebildet haben, der Schlüssel zur Heilung von Krankheiten sind.«
»Seht ihr das nicht etwas zu optimistisch?« Sie legte die Petrischale vorsichtig wieder zurück und wischte sich die Finger an ihrer Jeans ab. »Vielleicht sind diese Mikroorganismen auch der Schlüssel zu einer ganz neuen Krankheit?«
Sie nahm eines der Bücher in die Hand und blätterte darin herum. Da es in Laluschâr geschrieben war, dauerte es etwas länger, bis sie begriff, dass darin die verschiedenen Tötungsarten beschrieben waren, mit denen man Angehörige aus der Welt der Untoten dazu bringen konnte, aus dem Leben zu scheiden. So starben Vampire durch Feuer, zu wenig oder kontaminiertes Fremdblut sowie Anhalten des Herzens, ob mit einem Pflock oder durch einen Stromschlag, spielte dabei keine Rolle.
»Sirenen können nur getötet werden, wenn man ihnen die Stimmbänder herausreißt …«, las Lilith schockiert und warf das Buch angeekelt von sich. Sofort gaukelte ihre Fantasie ihr das Bild vor, wie Belial mit hasserfüllter Miene nach Mildreds Kehle griff und … Nein, Lilith schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. In Bonesdale war sicher alles in bester Ordnung!
»Wie schützt ihr euch eigentlich vor den Dämonenkräften?«, fragte sie, um sich abzulenken. »Seid ihr auch so anfällig dafür wie die Nocturi?«
»Zum Glück nicht, da wir nicht so viele menschliche Gene in uns tragen wie ihr, reicht uns eine magische Schutzrune.« Er hob sein Haar und beugte sich vor, sodass Lilith hinter seinem linken Ohr eine blutrote Tätowierung erkennen konnte. »Jede Familie hat ihr eigenes Zeichen, das seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitervererbt wird.«
»Wow!«, entfuhr es Lilith, ein wenig neidisch, dass sich die Vampire so einfach der dämonischen Beeinflussung entziehen konnten.
Nikolai stemmte die Hände in die Hüften. »Hier ist das Notizbuch ebenfalls nicht, jetzt bleibt nur noch mein Schreibtisch übrig.«
Sie durchquerten gemeinsam den Raum. Neben der Karte, wo Lilith Nikolai anfangs angetroffen hatte, stand ein blank polierter, für seine Verhältnisse überraschend ordentlicher Schreibtisch. Er musste Liliths verblüfften Blick bemerkt haben, denn er meinte lächelnd: »Der Schreibplatz eines Wissenschaftlers muss aufgeräumt sein, sonst kann er keine Ordnung in seine Gedanken bringen.«
»Das gilt wohl nicht nur für Wissenschaftler.«
»Da ist es ja!« Erleichtert griff er nach einem kleinen, unscheinbaren Buch. »Hier drin habe ich alles notiert, was ich über die Amulette zusammentragen konnte. Ich habe viele Jahre gebraucht und unzählige Archive und private Bibliotheken durchforstet, bis ich all die notwendigen Informationen beisammenhatte. Bevor wir die Zeremonie tatsächlich durchführen, solltest du es dir gut durchlesen!« Er zögerte einen Moment, als käme ihm plötzlich ein neuer Gedanke. »Du kannst doch schon Laluschâr, oder?«
»Wahrscheinlich lange nicht so gut wie du, aber mein Lehrer in Bonesdale würde sagen, dass das eine perfekte Übung für mich ist.« Sie blätterte in den Seiten, die mit einer kleinen, peniblen Handschrift beschrieben und einigen Zeichnungen versehen waren. »Wir gehen mit der Zeremonie kein Risiko ein, oder? Nicht dass versehentlich der Eid aufgehoben wird und wir die Dämonen befreien.«
»Nein, dazu wären alle vier Amulette nötig«, beruhigte Nikolai sie. »Aber mit zwei Amuletten und den passenden Beschwörungsformeln können tatsächlich einige Teile des Eids abgeschwächt werden, so wie es dein Großvater getan hat.«
»Als er dem Erzdämon die Erlaubnis erteilt hat, in Menschengestalt in unsere Welt zu wechseln und die restlichen Dämonen als Malecorax«, ergänzte sie peinlich berührt. Wahrscheinlich waren die Einzelheiten über die Affäre ihres Großvaters mit Rebekkas Mutter und die darauffolgende Erpressung Zebuls schon bis nach Chavaleen gedrungen.
»Theoretisch könntest du bei der Zeremonie mit dem richtigen Spruch sogar den magischen Schutz eures Schattenportals erneuern, das funktioniert selbst auf diese Entfernung. Dein Bernstein-Amulett kann zusammen mit einem weiteren Amulett jeden Nocturi-Zauber beeinflussen. Leider bräuchte ich dafür mehr Zeit und Vorbereitung, aber wenn du möchtest, machen wir das ein anderes Mal.«
Lilith dachte an den unschönen Streit zurück, den sie vor einigen Tagen am Schattenportal miterlebt hatte. Sollten die Magier sich tatsächlich weigern, das Portal zu verschließen, wäre dies wenigstens eine Alternative. »Darauf kommen wir womöglich zurück.«
»Leider muss ich jetzt noch einige dringende Dinge erledigen«, setzte er an.
»Kein Problem, ich finde alleine zurück«, versicherte sie ihm. »Igor hat mich so langsam hierhergeführt, dass ich viel Zeit hatte, mir den Weg einzuprägen.«
»Ich danke dir, dass du gekommen bist«, meinte er, während er sie zur Tür brachte. »Es war sehr interessant, sich mit dir zu unterhalten!«
Im Vorübergehen blieb Liliths Blick an einem verschlossenen Glas hängen, das auf dem vordersten Tisch stand. Darin schwebten einige Lichtpunkte, die wie zu groß geratene Glühwürmchen aussahen.
»Hey, euch kenne ich doch!«, rief sie erstaunt aus und blieb wie angewurzelt stehen.
Nikolai wandte sich um und folgte ihrem Blick. »Diese Tierchen kannst du nicht kennen!«, widersprach er ihr im Brustton der Überzeugung. »Das ist eine sehr seltene Art, die kaum jemand aus der Welt der Untoten je zu Gesicht bekommt.«
»Das sind Seelengrubler«, gab sie triumphierend zurück. »Ich habe sie schon einmal über einem Grab auf dem Friedhof gesehen.« Plötzlich fiel ihr ein, dass sie diese Information besser für sich behalten hätte. Sie und vor allen Dingen Emma würden große Probleme erwarten, wenn jemand von ihrer nächtlichen und vor allen Dingen streng verbotenen Jagd auf die Seelengrubler erfuhr. »Natürlich rein zufällig!«, fügte sie hastig hinzu.
Er runzelte die Stirn. »Du bist rein zufällig bei Vollmond um Mitternacht auf einem Friedhof?«, fragte er misstrauisch. »Vor einem Grab eines Nocturi, der kürzlich verstorben ist?«
Lilith schluckte schwer, ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. »Äh, ja, das ist ganz neu in Bonesdale«, stammelte sie. »Jede Klasse besucht ein Mal im Schuljahr nachts den Friedhof, um sich dieses seltene Phänomen anzusehen, weil … weil die Seelengrubler stehen ja seit Kurzem unter Naturschutz.«
»Unter Naturschutz?«, wiederholte er ungläubig.
In diesem Moment wurde die Tür so heftig aufgerissen, dass Lilith erschrocken zusammenzuckte. Razvan stürmte herein, und ohne seine Zeit mit einer Begrüßung zu verschwenden, rief er aufgebracht: »Wo ist dein Bruder, Nikolai? Ich habe wichtige Neuigkeiten und Igor weigert sich, mich zu ihm oder eurem Vater vorzulassen.«
Liliths Erleichterung, dank Razvans Erscheinen weiteren unangenehmen Erklärungsversuchen entkommen zu sein, verflüchtigte sich sofort wieder, als sie hinter dem Grafen den Kraghul erblickte, der bedrohlich langsam durch die Tür geschlichen kam. Mit gefletschten Zähnen schnüffelte Dragomir in Liliths Richtung und die Draculakäfer unter seiner Haut schienen noch aufgeregter umherzuwuseln.
»Wie du weißt, kämpft mein Vater mit seinen Herzproblemen und André steht ihm zur Seite«, informierte Nikolai den Grafen. »Aber da ich meinen Bruder vertrete und all seine Rechte und Pflichten übernommen habe, solltest du solange mir Bericht erstatten.«
Unwillig knirschte Razvan mit den Zähnen. Offenbar passte es ihm ganz und gar nicht, nur mit dem Stellvertreter des zukünftigen Führers vorliebnehmen zu müssen, doch schließlich gab er nach: »Unsere Späher haben uns mitgeteilt, dass die Vanator sich für eine erneute Sprengung bereit machen. Uns bleiben noch maximal zwei Tage.«
Nikolai richtete sich kerzengerade auf.
»Was? Jetzt schon?«
Razvan nickte grimmig. »Das ist leider nicht die einzige schlechte Nachricht: Sie deponieren das Dynamit vor dem äußeren Zochat-Zugang.«
Nikolai hieb mit der Faust auf den Tisch, sodass die Gläser und Phiolen ins Schwanken kamen und ein Reagenzglas klirrend zu Boden fiel. Anhand seiner heftigen Reaktion ahnte Lilith, dass es sich bei dem Zochat-Zugang um eine der besagten Schwachstellen handelte, über die sie vorher gesprochen hatten. Es konnte kein Zufall sein, dass die Vanator ausgerechnet diese Stelle ausgewählt hatten – sie mussten einen Tipp bekommen haben.
Nikolai fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und fluchte leise vor sich hin. Schließlich wandte er sich wieder dem Grafen zu. »Wir müssen die Zeremonie mit den Amuletten durchführen, so schnell wie möglich. Zieh deinen Einspruch zurück, Razvan!«
»Auf gar keinen Fall!«, entgegnete dieser ebenso entschieden. »Danach wären wir den Nocturi auf Gedeih und Verderb aufgeliefert.«
»Na und? Unsere beiden Völker waren seit jeher Verbündete und es gibt nichts, was dieses Bündnis gefährden könnte.«
Lilith wusste zwar, dass diese Diskussion sie im Grunde nichts anging, doch sie konnte nicht mehr länger schweigen: »Ich kann nicht verstehen, warum Sie uns so sehr fürchten. Oder gibt es einen Grund dafür, dass Sie uns misstrauen?«
Sie versuchte, seinen Blick mit den Augen festzuhalten, doch er drehte sich von ihr weg und verschränkte die Arme vor der Brust. Augenblicklich registrierte der Kraghul den Ärger seines Herrn und stieß ein gefährliches Knurren in Liliths Richtung aus.
»Wenn es um den Schutz von Chavaleen geht, halte ich gesundes Misstrauen grundsätzlich für angebracht«, argumentierte Razvan halbherzig.
»Aber doch nicht in so einer Situation«, widersprach ihm Nikolai heftig. »Entweder wir schenken den Nocturi unser Vertrauen oder die Vanator marschieren in Chavaleen ein!«
»Wenn es tatsächlich so weit kommen sollte, müssen wir eben zu den Waffen greifen und kämpfen! Meine Männer sind perfekt ausgebildet und warten nur darauf, den Vanator endlich in den Hintern zu treten. Ich werde meinen Einspruch nicht zurückziehen, das ist mein letztes Wort.« Razvan gab Dragomir ein Zeichen und wandte sich zum Gehen.
Verzweifelt sah Lilith zu Nikolai, der jedoch nur wütend die Lippen zusammenpresste. Ihr Magen krampfte sich zusammen; jemand musste den Grafen aufhalten und endlich zur Vernunft bringen! Wenn sie ihn gehen ließen, konnten morgen schon die Vanator über Chavaleen herfallen und unter der Bevölkerung ein grausames Massaker anrichten. Die Häuser des Hadesboulevard würden in Flammen stehen, während Eltern mit ihren weinenden Kindern zu fliehen versuchten, doch hier unter der Erde konnte man seinen Feinden nicht entkommen.
»In Wahrheit geht es überhaupt nicht um die Vertrauenswürdigkeit der Nocturi, oder?«, rief sie, noch ehe er die Tür erreicht hatte. Wie von allein sprudelten die Worte aus ihr heraus: »Sie wollen es darauf ankommen lassen, dass die Vanator hier einmarschieren, nicht wahr? Dann wäre ein offener Kampf mit den Menschen unvermeidlich und die Vampire könnten sich zwangsläufig nicht mehr an den Pakt halten. Das wäre Ihre Chance, sich nicht mehr an die Entscheidungen Vadims halten zu müssen, Sie müssten nicht mehr die Befehle des Mannes befolgen, der den Thron bestiegen hat – den Thron, der eigentlich Ihrer hätte sein sollen.«
Wie in Zeitlupe drehte sich Razvan zu ihr herum. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt und Dragomir scharrte mit seinen Krallen über den Steinboden.
Liliths Selbstsicherheit geriet ins Wanken und ihre Stimme zitterte, als sie fortfuhr: »Sie hoffen, dass sich das Volk gegen Vadim stellt, weil er sich an den Pakt gehalten und nichts getan hat, um die Vanator aufzuhalten. Sie hoffen, dass er die Schuld bekommen wird für das, was die Vanator in Chavaleen anrichten werden.« Erstaunt über sich selbst und ihren Mut, mit dem sie diese heftigen Anschuldigungen gegen ein führendes Mitglied des Herrschaftsstabes vorgebracht hatte, hielt sie schwer atmend inne. Wie würde Razvan nun reagieren? Wenn sie sich nicht in ihm täuschte, wäre er über Liliths ungerechtfertigte Vorwürfe wahrscheinlich derart erzürnt, dass er in Versuchung war, seinen Kraghul auf sie zu hetzen.
»Das sind infame Unterstellungen«, widersprach er, für Liliths Geschmack eine Spur zu gleichgültig und emotionslos.
»Ich weiß nicht, mir erscheinen Liliths Schlussfolgerungen durchaus plausibel«, meldete sich Nikolai zu Wort. Durch Liliths tapferen Vorstoß schien auch er den Entschluss gefasst zu haben, offen gegen Razvan vorzugehen. »Jedenfalls klingt es glaubhafter als alles, was du mir erzählt hast.«
Am liebsten hätte Lilith über Nikolais Rückendeckung einen Jubelruf ausgestoßen, und sie hoffte inständig, dass er sich nicht gleich wieder von Razvan einschüchtern ließ.
Ungerührt baute sich der Graf vor Nikolai auf. »Und wenn es tatsächlich so wäre? Was willst du dagegen machen?«
»Wenn es tatsächlich so wäre«, erwiderte er, ohne dem stechenden Blick Razvans auszuweichen, »könnte ich auf die Idee kommen, dich unter dem Verdacht des Staatsverrates deiner Ämter zu entheben und in einer unserer schönen Kerkerzellen unterzubringen. Da derjenige, der die Vanator mit Informationen versorgt, eine einflussreiche Führungsperson zu sein scheint, müssen wir womöglich einige unserer Foltergeräte einsetzen, um herauszufinden, ob du diese kleine Mistratte von Verräter bist.«
»Das würdest du nicht wagen!«, zischte Razvan hasserfüllt.
Nikolais Lippen umspielte ein dünnes Lächeln. »Oh doch! Du ahnst gar nicht, wie viel Befriedigung mir das verschaffen würde.«
Offenbar spürte Razvan Nikolais Entschlossenheit, denn er ballte die Fäuste und senkte mit knirschenden Zähnen den Blick.
»Na schön, dann haltet meinetwegen eure magische Hokuspokus-Zeremonie ab!« Er machte auf dem Absatz kehrt und stürmte zur Tür. »Aber sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt!«, brüllte er ihnen über die Schulter hinweg zu.