»Juley, sechzehnter Tag nach Vollmond, Nachtrag: Ich und meine Ladyschaft wollen nach Chavaleen! Alle haben sich deswegen in der Küche zu einer Krisensitzung versammelt, aus der ich leider hinausgeworfen wurde. Nun kann ich meiner Ladyschaft nicht mehr mit meinen gewieften Argumentationstechniken zur Seite stehen!

Erzählung aus dem Schattenreich: Meine Herrin hat mir aufgetragen, ihr zwei wichtige Fragen zu beantworten, und wenn ich nicht mindestens drei Sätze dazu schreibe, nimmt sie mir meinen MP3-Player weg!

1.Funktioniert das Schattenportal noch?

Ja. (Zählt das als Satz?)

2.Wenn ja, warum wurde es dreizehn Jahre lang nicht benutzt?

Allein der Erzdämon kann mithilfe des Onyx-Amuletts das Portal von unserer Seite aus aktivieren. Doch nach Zebuls Tod … (ich dampfe schon, meine Ladyschaft!!) … ist ein großer Krieg im Schattenreich ausgebrochen. Aus berechtigten Gründen wurde Belial von den anderen Dämonenfürsten nicht als Nachfolger akzeptiert … (meine Fingernägel brennen! Komisch, tut gar nicht so weh, wie ich gedacht habe) … und viele Jahre gefangen gehalten. Einer seiner wenigen Anhänger hat das Amulett jedoch für ihn … (oha, das Feuer hat nun auch den Stift erfasst! Mist, wie soll ich denn mit einem brennenden Schreibge…)«

Eintrag aus Strychnins Dämonen-Tagebuch

Sie saßen nun schon seit Stunden zusammen und berieten über Liliths Reise nach Chavaleen. Draußen senkte sich die Nacht über die Insel und die Küche in Nightfallcastle war erfüllt von flackerndem Kerzenschein und dem Duft frisch gebrühten Kaffees. Lilith hatte Matt gebeten, auf der Burg zu bleiben, da sie den Kampf mit ihrer aufgebrachten Tante nicht alleine durchstehen wollte. Obwohl er sich aus dem Gespräch weitestgehend heraushielt, tat es ihr gut, einen Verbündeten an ihrer Seite zu wissen.

»André ist ein vernünftiger Junge«, gab Melinda zu bedenken. Die Vampirlady wirkte müde und mehrere Strähnen hatten sich aus ihrem Dutt gelöst. »Wenn es nicht nötig wäre, hätte er Lilith nicht um diesen Gefallen gebeten. Er scheint ihre Hilfe dringend zu brauchen und deswegen sollte sie seiner Bitte auch folgen.«

»Genau das ist doch der Punkt«, ereiferte sich Mildred. »Er braucht ihre Hilfe, weil es dort gefährlich ist. Hinter jedem Baum steht einer dieser blutrünstigen Vanator und wartet darauf, einen von uns bestialisch umzubringen. Ich schicke meine Nichte doch nicht mitten in ein Kriegsgebiet!«

Lilith konnte sich ein herzhaftes Gähnen nicht verkneifen, mittlerweile kannte sie Mildreds Argumente und Horrorszenarien schon in- und auswendig.

»Du übertreibst«, sagte Melinda in tadelndem Tonfall. »Das Gefährlichste wird die Anreise sein, aber sobald Lilith Chavaleen betritt, ist sie in Sicherheit.«

»Ich muss Melinda zustimmen, Liliths Leben ist bestimmt nicht in Gefahr.« Arthur hatte die Arme vor seinem Bauch verschränkt und strich sich nachdenklich über den Bart. »Immerhin ist sie die Trägerin des Bernstein-Amuletts. Die Vampire werden sich bestens um sie kümmern und sie beschützen wie einen wertvollen Schatz.«

Rebekka brachte Lilith eine Tasse Tee und setzte sich auf den freien Platz zu ihrer Rechten. Erstaunt drehte Lilith sich zu ihr um. Warum war Rebekka denn plötzlich so nett zu ihr? »Danke, den kann ich gut gebrauchen.«

»Ich würde mir nicht zu viel davon versprechen: Es ist Fencheltee, in unserer Seniorenstift-WG war leider nichts anderes aufzutreiben.« Sie lehnte sich noch ein Stückchen weiter zu Lilith herüber und setzte eine verschwörerische Miene auf. »Ich muss sagen, André war am Telefon sehr charmant. Sieht er tatsächlich so süß aus, wie man sich erzählt?«

Aha, daher wehte also der Wind: Rebekka war auf der Suche nach Informationen über André.

»Keine Ahnung, so genau habe ich nicht hingesehen«, gab Lilith gereizt zurück. »Ich habe gerade wirklich andere Sorgen, als über das Aussehen von André zu quatschen.«

Rebekkas freundliches Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. »Was frage ich dich überhaupt?«, schnaubte sie. »Du würdest einen süßen Typen nicht mal erkennen, wenn er direkt vor deiner Nase steht.«

»Wenn du meinst.« Lilith wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Mildred zu.

»Ihr wisst alle, wie schlecht es um Isadoras Gesundheit steht und dass ich mich um sie kümmern muss. Keiner von uns ist im Moment hier entbehrlich und alleine lasse ich Lilith nicht fort.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Auf keinen Fall werde ich zulassen, dass mein kleines Mädchen nach Chavaleen geht und dabei nur von einem stinkenden kleinen Dämon begleitet wird.«

»Matt darf auch alleine zu seinem Vater nach Rumänien reisen!«, murmelte Lilith bockig.

»Aber … aber er ist immerhin schon vierzehn.« Wenigstens schien selbst Mildred zu bemerken, wie fadenscheinig diese Ausrede war.

»Wir müssen auch die politische Komponente bedenken«, meldete sich Sir Elliot zu Wort. Er hatte bisher kaum Interesse an dem Gespräch gezeigt und die ganze Zeit über in einem antiquarischen Buch aus der Bibliothek geblättert. Nun richteten sich alle Blicke gespannt auf ihn. »André wird bald der Träger des Blutstein-Amuletts sein und die Vampire waren seit jeher die engsten Verbündeten der Nocturi. Wenn Lilith ihr Versprechen nun wieder rückgängig macht, könnte das diesen Bund erheblich gefährden. Die Nocturi können es sich nicht leisten, dass ihnen der Träger des Blutstein-Amuletts feindlich gesinnt ist.«

Er rückte das Monokel in seiner Augenhöhle zurecht, befeuchtete seinen Skelettfinger an dem neben ihm liegenden Schwamm und blätterte eine Seite um. Offensichtlich hatte er damit alles gesagt, was er zu diesem Thema zu sagen hatte.

»Ein wirklich gutes Argument«, jubelte Melinda und Arthur nickte bekräftigend.

»Aber …«, setzte Mildred hilflos an, sank dann jedoch in sich zusammen. »Das stimmt leider, Lilith hat ihr Versprechen bereits gegeben.«

Matt räusperte sich vernehmlich.

»Wie wäre es, wenn ich sie zu den Vampiren begleite?«, schlug er mit unsicherer Stimme vor. »Schließlich wollte ich nächste Woche sowieso meinen Vater besuchen, dann reise ich eben etwas früher ab. So gereizt, wie die Stimmung bei uns daheim ist, hat meine Mutter sicher nichts dagegen. Ich könnte ihr erzählen, dass Lilith von einem entfernten Verwandten nach Rumänien eingeladen wurde und Angst hat, alleine zu fahren.«

Lilith richtete sich vor Begeisterung pfeilgerade auf. »Das ist doch eine großartige Idee, oder?«

»Es ist zwar nicht genau das, was ich mir vorgestellt habe, aber es wäre eine Möglichkeit.« Mildred trommelte nachdenklich mit den Fingern auf die Tischplatte. »Mit etwas Glück ist deine Aufgabe sogar schon erledigt, bis Matt weiterreisen muss.« Sie wandte sich an Melinda. »Ist er denn als Mensch in Chavaleen sicher?«

»Du meinst, ob er sofort in eine dunkle Ecke gezerrt und von einer Bande hungriger Vampire ausgesaugt wird?«, entgegnete sie beißend. »Wir sind ein zivilisiertes Volk, Mildred! Auch die Vampire, die in Rumänien leben. Genauso wenig wie wir in Bonesdale über Touristen herfallen, verspeisen die Vampire in Chavaleen die Landbevölkerung. Wir ernähren uns alle von Blutkonserven, denn nur so erregen wir kein Aufsehen.«

»Entschuldigung, ich wollte euch nicht beleidigen«, beeilte sich Mildred, ihr zu versichern. »Trotzdem wäre mir wohler, wenn Scrope mitgehen würde, dann wäre wenigstens ein Erwachsener dabei.«

Lilith schüttelte vehement den Kopf. »Wenn ich Scrope mitnehme, schafft es dieser Wichtigtuer, dass sein Besuch live bei SBN übertragen wird.«

»Wenn du unbedingt einen Erwachsenen dabeihaben möchtest«, schaltete sich Rebekka zur Überraschung aller ein, »dann begleite ich die beiden! Ich bin nicht nur achtzehn Jahre alt und damit volljährig, sondern auch …«, sie machte eine genüssliche Pause und grinste breit, »Liliths Tante.«

»Bist du dir sicher, dass du mitreisen möchtest?«, fragte Rebekkas Mutter kritisch. Erstaunt sah Lilith zum anderen Ende des Tisches, das im Halbdunkel lag. Imogen hatte sich so ruhig verhalten, dass Lilith ihre Anwesenheit fast vergessen hatte. Dies passte allerdings zu Imogens üblichem Auftreten, denn sie verließ nur selten ihr Zimmer und verbrachte die meiste Zeit damit, in einem Schaukelstuhl zu sitzen und mit trauriger Miene aus dem Burgfenster zu starren. Seit vor einigen Wochen ihre einzige Schwester gestorben war und die Familie Imogen nicht einmal erlaubt hatte, zur Beerdigung zu kommen, hatte sich ihre trübselige Stimmung sogar noch verstärkt. »Was ist denn mit deiner Ausbildung in der Boutique?«

»Ich habe noch genügend Urlaubstage übrig«, wiegelte Rebekka den Einwand ihrer Mutter ab. »Das dürfte kein Problem sein, vor allem wenn sie erfahren, dass ich bei den Vampiren eine wichtige Mission zu erledigen habe. André braucht die Hilfe einer Banshee, und wie wir alle wissen, beherrscht Lilith ihre Kräfte lange nicht so gut wie ich. Davon abgesehen bin ich die Tochter von Baron Nephelius und seine bewundernswerten politischen Fertigkeiten scheinen ausschließlich auf mich übergegangen zu sein. Ich werde dafür Sorge tragen, dass die Nocturi in Chavaleen ein gutes Bild abgeben.« Sie drückte selbstbewusst ihre Schulterblätter durch. »Keine Angst, Mildred, ich nehme das in die Hand, und schon in ein paar Tagen bringe ich dir die kleine Lilith wohlbehalten zurück, mitsamt ihrem dämonischen Schoßhündchen.«

Rebekkas selbstsichere arrogante Art, die Liliths Geduld immer stärker auf die Probe stellte, schien bei Mildred sogar Eindruck zu machen.

»Na schön, ihr habt mich überzeugt.« Sie stieß einen ergebenen Seufzer aus. »Ich bin zwar immer noch nicht besonders glücklich darüber, aber wenn Lilith von euch beiden begleitet wird, darf sie von meiner Seite aus gehen.«

Lilith blickte von Matt zu Rebekka und konnte sich nicht entscheiden, ob sie nun lachen oder weinen sollte.

Am nächsten Mittag standen sie vor dem Haus der O’Conners und Matt hievte seine Sachen auf die Kutsche.

»Es ist wirklich sehr entgegenkommend von dir, dass Matt Lilith begleiten darf«, bedankte sich Mildred bei Eleanor, die sichtlich bewegt neben ihrem Sohn stand.

»Da er sowieso in ein paar Tagen zu seinem Vater geflogen wäre, bedeutet es für ihn schließlich keinen Umweg, und es ist schön, wenn er Lilith damit helfen kann.« Eleanors Wut auf Matt schien sich in Nichts aufgelöst zu haben und sie betrachtete ihn nun voll mütterlicher Sorge. »Liliths Großonkel holt die beiden ganz sicher vom Flughafen in Rumänien ab?«

»Ja, mach dir keine Sorgen. Ich bringe die beiden nach London, setze sie ins Flugzeug und in Rumänien werden sie gleich bei ihrer Ankunft in Empfang genommen.« Wie immer war Lilith davon beeindruckt, wie souverän ihre Tante lügen konnte.

Eleanor zupfte an Matts Haaren herum, was er genervt über sich ergehen ließ. »Ihr müsst euch unbedingt das Schloss von Vlad Dracul ansehen, Kinder. Wusstet ihr, dass man vor einigen Jahren sein Grab geöffnet und im Sarg nicht nur eine, sondern zwei Leichen gefunden hat? Das ist doch eine gruselige Sache, oder? Ach, am liebsten würde ich mitkommen.« Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Hose und tupfte diskret ein paar Tränen beiseite. »Ich darf mir gar nicht ausmalen, was euch alles passieren kann! Im Flugzeug könnte beispielsweise ein Brand ausbrechen … Oder ihr werdet von Organhändlern entführt, oh mein Gott!« Nun war es um Eleanors Fassung endgültig geschehen. Sie schluchzte auf, während Lilith und Mildred sie mit schreckgeweiteten Augen ansahen.

Matt jedoch zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Solche Schreckensszenarien muss ich mir fast jeden Tag anhören«, erklärte er. »Warum ist sie wohl Horrorschriftstellerin geworden?«

Mildred schluckte schwer und tätschelte Eleanors Schulter. »Es wird alles gut! Ihr Flugzeug wird nicht abstürzen und niemand wird entführt.« Sie sprach mit ihrer melodischen Sirenenstimme und Lilith war fasziniert, wie schnell sich Eleanor dadurch wieder beruhigte. »Die beiden werden das großartig meistern und eine schöne Zeit in Rumänien verbringen.«

»Du hast recht!« Eleanor schniefte ein letztes Mal auf. Sie wirkte nun sogar entspannter als Mildred, die verkrampft auf Liliths Nierengegend starrte.

»Es tut mir leid, Kinder, ich wollte euch keine Angst einjagen, meine Fantasie ist mal wieder mit mir durchgegangen. Ich wünsche euch alles Gute! Und Matt, sag deinem Vater, dass …« Sie hielt inne und winkte dann ab. »Ach, sag ihm nichts.«

Sie drückte Matt zum Abschied fest an sich und winkte der Kutsche nach, bis sie nicht mehr zu sehen war.

Eine Viertelstunde später standen sie mit ihrem Gepäck bei den Portalgräbern, wo Rebekka, Strychnin und Regius sie bereits erwarteten.

»Na endlich!«, meckerte Rebekka, die unter einem länglichen Deckstein Schutz vor der Sonne gesucht hatte.

Lilith konnte sich eine kleine Stichelei nicht verkneifen. »Wenn du Angst hattest, dass während der Wartezeit dein Make-up zerläuft, muss ich dir sagen, dass deine Befürchtung berechtigt war.« Die Aussicht, die nächsten Tage unter Rebekkas Kommando zu stehen, schmälerte Liliths Vorfreude auf die Reise beachtlich.

»Wir sollten uns beeilen«, bemerkte Regius. »Arthur kann mit seiner Zombievorführung die Tagestouristen nicht ewig von den Portalgräbern fernhalten.«

Wie bei Liliths Reise nach Benin hatte er auch dieses Mal schon alles vorbereitet. Frische Runen prangten auf dem Deckstein der großen Formation, die zu einem Tor zusammengefügt war, und der Magier setzte nun eine Art Kompass ein. Jede Himmelsrichtung war mit einem Stein der vier Amulette versehen, nur an der Stelle, an der der Onyx hätte sein sollen, klaffte ein Loch. Die Apparatur begann sich zu drehen und rastete mit einem leisen Klicken auf dem Blutstein ein.

Matt beobachtete den Vorgang mit beunruhigter Miene. »Ihr seid wirklich sicher, dass Menschen so ein magisches Portal benutzen können und in einem Stück auf der anderen Seite rauskommen?«

»Relativ sicher«, antwortete Regius, ohne sich umzuwenden.

»Relativ«, äffte Matt ihn leise nach. »Wie ich dieses Wort mittlerweile hasse.«

»Mach dir nicht in die Hosen!«, sagte Rebekka. »Die Nocturi haben schon Tiere durch das Portal geschickt, da wird es ein Affe wie du auch schaffen.«

Mildred warf Lilith einen nervösen Seitenblick zu. »Willst du es dir nicht anders überlegen? Wir könnten behaupten, dass du dir eine schwere Sommergrippe eingefangen hast. Vielleicht geht es Isadora in ein paar Tagen wieder besser, dann könnte ich dich begleiten.«

Lilith zögerte einen Moment, ehe sie antwortete. Tatsächlich klang Mildreds Vorschlag verlockend. Nun, so kurz vor Antritt ihres Abenteuers, packten sie Zweifel, ob sie dem, was sie in Chavaleen erwartete, wirklich gewachsen war. »Und wenn ihr Zustand unverändert bleibt, was dann? Wir müssen den Vampiren helfen, genau wie Sir Elliot gesagt hat. Es ist wohl besser, ich bringe es so schnell wie möglich hinter mich.«

Mildred lächelte traurig. »Für dein Alter bist du schon viel zu erwachsen, meine Kleine.«

Im Tor bildete sich der Strudel, ein Windstoß zerrte an ihren Kleidern und zersauste ihre Haare. Als der Wirbel verebbte, erschien inmitten des Druiden-Altars das Bild eines Friedhofs mit leuchtend blauen Kreuzen und Tafeln, auf denen bunte Bilder gemalt waren. Im Hintergrund konnte Lilith eine Kirche erkennen, deren mit schwarzen Schindeln gedecktes Dach wie ein eckiger Hexenhut in den Himmel ragte.

»Das ist nicht die normale Portalöffnung«, erklärte Regius. »Die Vampire mussten ihr Portal schon vor Jahren aus Sicherheitsgründen verlegen und nun kommen wir jedes Mal an einem anderen Ort raus.«

Strychnin schnappte sich seinen Kinderkoffer. »Ab in den Urlaub«, rief er begeistert und stürzte sich auf die andere Seite. Rebekka folgte ihm, ohne zu zögern, während Matt mehrmals tief durchatmete, ehe er die Augen schloss und durch das Portal trat.

Mildred drückte sie an sich. »Mach’s gut! Bitte ruf so bald wie möglich an, okay?«

Lilith räusperte sich und schluckte den Kloß, der ihr in der Kehle saß, herunter. »Versprochen!«

Während des Übergangs verspürte Lilith nicht einmal ein magisches Prickeln und trotzdem kam sie nur einen Schritt später wie von Zauberhand in einem anderen Land an. Tatsächlich befanden sie sich mitten auf einem Friedhof, die fröhlich bunten Tafeln an den Gräbern schienen eine gemalte Szene aus dem Leben der Verstorbenen abzubilden und darunter standen nicht nur Namen und Lebensdaten, sondern längere Texte geschrieben. Neben Rebekka tastete sich Matt gerade mit ungläubiger Miene ab, da er es anscheinend nicht fassen konnte, an einem Stück angekommen zu sein, während Strychnin gut gelaunt von Grab zu Grab hüpfte.

Entgegen Arthurs Prophezeiung empfing sie kein Vampirsonderkommando und kein einziger Wächter stand mit gezückter Waffe bereit, um sie vor den Vanator zu beschützen.

Neben einem transportablen Portal, das aus windschiefen Zeltstangen und Holzbrettern zusammengebaut war, erwartete sie allein André. Den dunklen Schatten unter seinen Augen zum Trotz breitete er die Arme aus und lächelte Lilith mit breitem Grinsen an. »Willkommen in Rumänien!«

Weil das transportable Portal genau wie die anderen nur überirdisch funktionierte und André sie in sicherer Entfernung vor den Vanator in Empfang genommen hatte, mussten sie wie ganz normale Touristen mit dem Auto in die Wälder fahren, in denen Chavaleen lag. Lilith war sogar dankbar dafür, denn so sah sie wenigstens etwas von Rumänien, bevor sie den Rest ihres Aufenthaltes unter der Erde verbringen würde. Hoch auf den zerklüfteten Bergen thronten wehrhafte Burgen über den im Tal gelegenen Dörfern, und Lilith fiel auf, dass einige der Häuser Ähnlichkeit mit der Kirche beim Friedhof aufwiesen. Viele der schwarzen Dächer reichten fast bis zum Erdgeschoss, als hätten sich die Häuser ihr Dach so weit wie möglich über den Kopf gezogen, um sich vor jeglicher Gefahr von draußen zu schützen.

Immer wieder überholte André Bauern auf rustikalen Holzkarren, die mit Heu beladen waren und von Eseln oder Pferden gezogen wurden. Neben den schlecht ausgebauten Seitenstraßen sah man ganze Familien auf den Feldern, wie sie mühselig ihr Land bearbeiteten. Lilith fühlte sich fast, als hätte sie einen Zeitsprung in die Vergangenheit gemacht. Die Stunden zogen sich dahin und immer seltener trafen sie auf Menschen, die Landschaft wurde ursprünglicher und feindseliger. Die romantischen Bachläufe hatten sich zu wild schäumenden Flüssen gewandelt, die tiefen Wälder erstreckten sich vor ihnen in einem endlosen dunklen Grün und erinnerten sie daran, dass sie jegliche Zivilisation weit hinter sich gelassen hatten. Matt und Lilith wechselten einen beklommenen Blick.

»Wir sind bald da!«, durchbrach André die Stille.

Er fuhr sich nervös durch sein schwarzes, dicht gelocktes Haar. Während der ganzen Fahrt war er auffallend schweigsam gewesen, obwohl Rebekka, die neben ihm auf der Beifahrerseite saß, all ihren Charme hatte spielen lassen.

»Zuerst müssen wir wohlbehalten nach Chavaleen kommen, dann können wir über alles sprechen, auch über die Krankheit meines Vaters«, war alles, was er sagte, und die Sorge, die unausgesprochen in seinen Worten mitschwang, entging Lilith nicht. Zweifelte er etwa daran, dass sie Chavaleen ohne Zwischenfall erreichten?

»Zu eurer Sicherheit werden wir einen Zugang benutzen, den wir nur selten verwenden, da er auf Dauer zu viel Aufmerksamkeit erregen würde. Doch heute machen wir eine Ausnahme, da wir hier keine Angst vor den Vanator haben müssen. Deswegen habe ich euch auch ohne Begleitschutz abgeholt, unsere Gruppe sollte so klein wie möglich sein.«

Sie erreichten einen Schotterparkplatz und ein heruntergekommenes Schild warb für die Besichtigung der anliegenden Tropfsteinhöhle. Lilith hatte nicht erwartet, inmitten dieser Abgeschiedenheit auf eine Touristenattraktion zu treffen. Wobei angesichts der wenigen Besucher, die sich vor der Kasse sammelten, wohl kaum von einem nennenswerten Touristenmagnet die Rede sein konnte. Lilith wandte sich an Strychnin. »Wie es aussieht, musst du in den Rucksack, tut mir leid!«

»Aber Ihr könntet mich als dämonisches Kuscheltier im Arm halten, Eure Ladyschaft, und behaupten, das sei der letzte Schrei in Großbritannien: Ein schmusiger Begleiter in allen Lebenslagen, der sogar auf Kommando furzen …«

»Keine Widerrede!«, unterbrach sie ihn. »Wir gehen kein Risiko ein.«

Maulend ließ sich Strychnin in den Rucksack verfrachten, doch leider war er nun so schwer, dass Lilith ihn kaum in die Höhe brachte. »Meine Güte, was wiegst du denn?«, keuchte sie.

»Komm, ich nehme ihn«, bot Matt an und wuchtete sich den Rucksack scheinbar mühelos auf den Rücken.

»Die Führung beginnt bald und wir werden uns an das Ende der Gruppe hängen«, erklärte André. »Nach ungefähr fünf Minuten erreichen wir die sogenannte Thronhalle und ihr solltet euch auf mein Zeichen bereithalten, um den vorgegebenen Weg zu verlassen. Lasst euer Gepäck im Auto, es wird später von unserer Dienerschaft …« Er hielt abrupt inne und zog scharf die Luft ein. Lilith folgte seinem Blick und entdeckte einen breitschultrigen Mann, der sich an der Kasse herumdrückte und voller Interesse einige unscheinbare Gesteinsproben im Schaufenster musterte. Dabei sah er mit seinen durchtrainierten Armen und seinem gebräunten, grobschlächtigen Gesicht nicht gerade wie ein typischer Hobby-Mineraloge aus. Seine schwarzen langen Haare waren mit einem Lederband im Nacken zusammengebunden und seine wachsame, angespannte Körperhaltung weckte in Lilith unangenehme Erinnerungen. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass der Mann sie an Johnson erinnerte, den Vampir aus Bonesdale, der mit krankhafter Begeisterung Jagd auf Menschen gemacht und sie getötet hatte. Auch Johnson war wie ein Raubtier allzeit bereit gewesen, loszupreschen und sein ahnungsloses Opfer brutal niederzustrecken. Und dieser Mann an der Kasse strahlte dieselbe potenzielle Gefahr aus.

»Ein Vanator«, raunte André ihnen zwischen zusammengebissenen Zähnen zu. Er blieb stehen und durchsuchte mit etwas übertriebener Gestik seine Taschen, als wäre er auf der Suche nach etwas Wichtigem. »Ich glaube, er hat uns noch nicht entdeckt. Schnell, zurück in den Wagen!«

Rebekka stieß einen erstickten Schrei aus, wofür André sie wütend anfunkelte. »Ein Vanator?«, flüsterte sie leichenblass. »Bist du sicher?«

Er nickte. »Er heißt Malo Grigore und ist der Cousin und die rechte Hand ihres Chefs Daiman Grigore«, sagte er grimmig. »Wir müssen so schnell wie möglich hier weg, vielleicht liegen noch mehr von ihnen auf der Lauer. Tut so, als ob wir etwas im Auto vergessen hätten, und benehmt euch so natürlich wie möglich!«

Das war leichter gesagt als getan. Rebekka, Matt und Lilith rissen sich aus ihrer schockartigen Erstarrung und machten alle drei gleichzeitig kehrt, wobei sie sich gegenseitig anrempelten. Aus den Augenwinkeln sah Lilith, dass der Vanator den Kopf hob und mit gerunzelter Stirn zu ihnen herübersah. Obwohl Lilith am liebsten so schnell wie möglich zum Auto gerannt wäre, zwang sie sich, langsam zu gehen. Zum Glück waren sie nicht mehr weit davon entfernt …

»Wieso ist dieser Malo Grigore hier, wenn ihr diesen Zugang kaum benutzt?«, fragte Matt.

»Ich weiß es nicht!« André war seine Verwirrung deutlich anzusehen. »Noch nie wurde einer von ihnen an diesem Eingang gesichtet.«

Sofort dachte Lilith an ihr Telefongespräch und wie André die Vermutung geäußert hatte, dass es einen Verräter unter den Vampiren gab. Doch jetzt war nicht die Zeit dafür, darüber zu diskutieren.

Rebekka konnte sich einen Blick über die Schulter nicht verkneifen. »Er folgt uns!«

Tatsächlich hatte der Vanator seinen Posten an der Kasse aufgegeben und lief mit großen Schritten auf den Parkplatz zu.

»Nicht umsehen!« André packte Rebekka am Arm und zog sie eilig mit sich. Ihre Taktik, nicht aufzufallen, war offensichtlich nicht geglückt. Lilith riss die Autotür auf, während Matt sich schon hastig auf seinen Sitz fallen ließ. Er hatte nicht einmal den Rucksack abgenommen, was Strychnin mit einem unwilligen Quieken quittierte.

André startete den Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen vom Parkplatz, was Lilith beruhigt aufatmen ließ. Leider währte ihre Erleichterung nicht lange: Durch die Heckscheibe sah sie, wie ihnen der Vanator in einem grauen, mit Rostflecken übersäten Fiat folgte, und er war anscheinend nicht gewillt, sich abhängen zu lassen.

»Und was machen wir jetzt?« Insgeheim ertappte sie sich bei der Frage, wie schnell man wohl das transportable Portal aus dem Kofferraum holen und aufbauen könnte. Anscheinend waren Mildreds Befürchtungen und ihre Angst um Liliths Leben doch nicht so absurd gewesen.

»Wir versuchen, ihn abzuschütteln und dann direkt vor unseren Höhleneingang zu fahren«, erklärte André, während er immer wieder in den Rückspiegel sah. »Da man uns dabei beobachten könnte, gehen wir so ein Risiko nur im Notfall ein, aber …«

»Heute ist ein Notfall!«, beendete Rebekka entschlossen seinen Satz.

Er drückte aufs Gas und fuhr in halsbrecherischem Tempo die gewundene Straße hinauf. Matt starrte besorgt aus dem Fenster, da neben ihm ein tiefer Abgrund klaffte.

»Was machst du denn?«, rief Lilith.

André war gerade um eine scharfe Kurve gebogen und schien die Kontrolle über das Auto zu verlieren, denn er steuerte direkt auf eine Baumgruppe zu, die die Straße säumte.

»Pass auf!«, brüllte Matt.

Doch André riss weder das Lenkrad herum, noch machte er Anstalten, abzubremsen. War er verrückt geworden? In wenigen Sekunden würden sie auf die Bäume prallen und bei ihrer Geschwindigkeit wäre dies ihr sicherer Tod! Lilith kniff die Augen zusammen, ihre magischen Sinne schlugen Alarm. Irgendetwas stimmte hier nicht …

»Die Bäume sind eine Illusion!«, erklärte André knapp. »Dort ist in Wahrheit eine Haltebucht. Wenn alles gut geht und der magische Schild stabil bleibt, kann uns Malo nicht entdecken.«

Tatsächlich tauchte ihr Wagen wie von Zauberhand in die Baumreihen ein, ohne abgebremst zu werden.

»Irre!«, flüsterte Matt.

André stellte den Motor ab und alle hielten gespannt den Atem an. Wenige Sekunden später sauste der graue Fiat an ihnen vorbei, der Vanator warf nicht einmal einen Blick in ihre Richtung.

André grinste zufrieden. »Den Nocturi sei Dank! Letzten Winter haben eure Magier, die Scrope uns geschickt hat, einige von diesen Notfallverstecken rund um Chavaleen angebracht. Trotzdem sollten wir uns beeilen, von hier wegzukommen, wahrscheinlich bemerkt Malo bald, dass wir nicht mehr vor ihm sind.«

Er wendete und fuhr die Straße in rasantem Tempo bergabwärts. Was ihn jedoch nicht hinderte, währenddessen ein Funkgerät aus dem Handschuhfach herauszukramen und einige Anweisungen durchzugeben.

»Wir hätten als Gastgeschenk einen Gutschein für ein Fahrsicherheitstraining mitbringen sollen«, raunte Matt ihr in sarkastischem Ton zu.

Endlich im Tal angekommen, bogen sie in einen Waldweg ab, der einen verwilderten und wenig genutzten Eindruck machte. Sie holperten durch Schlaglöcher und kämpften sich durch immer dichter werdendes Gestrüpp, bis es schließlich kein Weiterkommen mehr gab.

»Ab hier müssen wir zu Fuß gehen«, verkündete André und stieg aus.

Lilith war überrascht, wie kühl es im Inneren des Waldes war, und sie strich sich fröstelnd über die Gänsehaut auf ihren Armen. In der Nähe hörte sie das Rauschen eines Flusses, doch ansonsten war es merkwürdig still, nicht einmal ein Vogel zwitscherte in den Baumkronen über ihnen. Umso erschrockener war sie, als plötzlich neben ihr eine junge Frau aus dem Schatten eines Baumes auftauchte. Ihre weizenblonden Haare waren zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammengebunden, sie trug enge dunkelgrüne Kleidung und am Gürtel ihrer Hose steckte ein großes Messer.

»Alles in Ordnung, Eva?«, fragte André sie, während er ihr die Autoschlüssel übergab.

»Heute scheinen besonders viele von ihnen unterwegs zu sein, erst vor fünf Minuten kam eine ihrer Patrouillen vorbei«, informierte sie ihn. In einer schwungvollen Bewegung setzte sie sich in den Wagen und warf ihnen einen aufmunternden Blick zu. »Also seid lieber vorsichtig!«

»Du kennst mich doch, Eva!«

»Eben, genau deswegen habe ich es nochmals erwähnt«, meinte die junge Frau augenzwinkernd und fuhr rückwärts davon. Lilith sah ihr sehnsüchtig hinterher: Mit dem Geländewagen verschwand auch ihre einzige Fluchtmöglichkeit. Nun standen sie in einem fremden Land mitten im tiefsten Wald und waren jeder Gefahr schutzlos ausgeliefert.

André sah in die Runde. »Wir müssen zum Fluss, dort beginnt der gefährlichste Teil, weil wir keine Deckung haben. Aber sobald wir in der Höllenklamm sind, haben wir es so gut wie geschafft. Seid ihr bereit?«

Matt und Rebekka nickten zögerlich, während Lilith krampfhaft versuchte, nicht an all die Horrorgeschichten zu denken, die sie über die Dämonenjäger gehört hatte. Doch selbst die Fakten waren beängstigend genug: Die Vanator wussten als einzige Menschen über ihre Existenz Bescheid und ihr Hass auf die Welt der Untoten trieb sie unermüdlich an. Sie kamen bei Tag und bei Nacht, sie folterten ihre Opfer und töteten sie ohne Gnade.

André schenkte ihnen ein zuversichtliches Lächeln. »Keine Sorge, wir schaffen das schon! Vielleicht beruhigt es euch, dass überall in unserer Nähe Wächter auf der Lauer liegen, die sich für uns, ohne zu zögern, auf einen Kampf einlassen würden.«

»Ehrlich?« Lilith blickte sich suchend um, konnte aber niemanden entdecken. Allerdings hatte sie auch Eva erst wahrgenommen, als sie schon direkt neben ihr stand. Die Vampire hatten sich anscheinend perfekt an ihre Rolle als Untergrundkämpfer angepasst.

Rebekka schien sich urplötzlich an ihre Pflichten als Aufpasserin zu erinnern und hob mahnend ihren Zeigefinger. »Ihr beiden bleibt in unserer Nähe!«, befahl sie Matt und Lilith, bevor sie André in das Dickicht hinterherlief. »Ich möchte keinen von euch suchen müssen, ist das klar?«

»Wenn wir euch verlieren, folgen wir einfach der Spur aus toten Insekten, die in deiner Parfümwolke erstickt sind«, knurrte Lilith, woraufhin Matt unverhohlen losprustete.

Schon nach wenigen Metern öffnete sich vor ihnen der Wald und machte einem reißenden Fluss Platz, der sich an spitzen Felsbrocken brach und dessen Gischt schäumend in die Höhe spritzte.

Lilith musste mehrmals hintereinander blinzeln, da sich ihre Augen an das Dämmerlicht des Waldes gewöhnt hatten. Rechts und links von ihnen erhoben sich steile Felswände, und ausgerechnet hier unten, wo sie von allen Seiten gut zu sehen waren, kamen sie nur langsam vorwärts. Der Uferbereich bestand aus handtellergroßen Kieselsteinen, und während André treffsicher die flachen und stabilen Steine auswählte, stolperten sie unbeholfen hinterher und rutschten immer wieder ab. Die Blicke der drei wanderten nervös nach oben, auf der Suche nach einem verdächtigen Schatten oder einer menschlich anmutenden Bewegung. Standen dort vielleicht schon die Vanator und beobachteten ihre zukünftigen Opfer? Lilith musste sich zwingen, wieder nach unten zu sehen und sich auf ihre nächsten Schritte zu konzentrieren.

»Wann kann ich hier denn wieder heraus?«, beschwerte sich eine Stimme aus Matts Rucksack.

»Bald, Strychnin«, beruhigte sie hin. »Sei lieber froh, dass du mit deinen kurzen Beinen nicht so viel laufen musst.«

Schwer atmend erreichten sie die Höllenklamm, die sich als schmaler Durchgang in einer Felsspalte herausstellte. Wenn André nicht zielstrebig darauf zugesteuert und darin verschwunden wäre, hätte Lilith niemals vermutet, dass es sich dabei um den Eingang zu einem Höhlensystem handeln könnte.

»Ich hoffe, niemand von euch leidet unter Klaustrophobie«, bemerkte André, während er sich seitlich durch eine besonders enge Passage quetschte. »Wir nennen diese Stelle auch die steinerne Saftpresse.«

Rebekka fluchte leise, da sie mit ihrem pinkfarbenen T-Shirt am rauen Fels hängen geblieben und der Stoff eingerissen war. »Das ist handsigniert von Freddie Grufti!«, ächzte sie und starrte so geschockt auf das Loch in ihrem Ärmel, als ob dort eine Blutfontäne hervorschießen würde.

Aufgrund der Enge musste Matt den Rucksack abziehen und in der Hand halten, wobei Strychnin sich lautstark über die Schaukelei beschwerte.

»Wie könnt ihr so überhaupt eure Einkäufe in die Stadt bringen?«

»Es gibt einen unterirdischen Fluss, der mit Booten befahren wird«, erzählte André ihm über die Schulter hinweg. »Allerdings dauert es zwei Tage, bis man wieder an die Oberfläche kommt. Die Höllenklamm hat auch Vorteile, zum Beispiel achten die Bewohner von Chavaleen sehr auf ihre Figur.« Er grinste und kam vor einer Felswand zum Stehen.

Matt hob irritiert eine Augenbraue. »Eine Sackgasse?«

André murmelte einige Worte in Laluschâr, der scheinbar massive Fels verschwamm vor ihren Augen und stattdessen erschien ein Tunnel, der in die Dunkelheit führte. André machte einen Schritt zur Seite und hob einladend die Hand. »Darf ich euch bitten, in das Reich der Vampire einzutreten?«

Sie liefen an ihm vorbei, blieben jedoch schon nach wenigen Metern abwartend stehen, damit André wieder die Führung übernehmen konnte. Hinter ihnen schloss sich das magische Portal und mit ihm verschwanden die letzten Strahlen des Tageslichts. Wie jedes Mal, wenn sie sich in einer Höhle befand, fühlte Lilith ein mulmiges Gefühl in sich aufsteigen.

André entzündete eine Fackel, und als der flackernde Lichtschein auf sein Gesicht fiel, bemerkte Lilith, dass seine Gesichtszüge deutlich entspannter wirkten.

»Ich kann euch gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass wir es bis hierher geschafft haben«, bestätigte er im selben Moment ihren Eindruck. »Ich wollte euch nicht beunruhigen, aber da draußen war es zeitweise ziemlich gefährlich. Die meisten von uns kommen deswegen überhaupt nicht mehr an die Oberfläche.« Er setzte das charmante Lächeln auf, in dessen Genuss Lilith schon in Benin gekommen war. »Meine Damen, entschuldigt bitte, dass ich erst jetzt dazu komme, euch gebührend zu begrüßen. Es ist uns eine Ehre, die Nachfahren von Baron Nephelius in Chavaleen willkommen zu heißen.« Er verbeugte sich, nahm zuerst Liliths und dann Rebekkas Hand und deutete einen galanten Handkuss an.

Lilith, die darauf gefasst gewesen war, konnte sich dieses Mal das peinliche Kichern zum Glück verkneifen, nicht jedoch Rebekka. Sie strahlte André mit glühenden Wangen an. »Ich, nein, wir danken dir, beziehungsweise euch, für den Kuss, äh, die Einladung! Ich wollte natürlich sagen, wir danken den Vampiren für die Einladung.«

»Gern geschehen!« André wandte sich mit einem Schmunzeln ab und ging mit der Fackel voran.

»So ein Schleimer«, hörte Lilith Matt murmeln.

»Bist du etwa eifersüchtig?«, fragte sie ihn leise.

»Quatsch!«, schnaubte er. »Ich bin nur sauer, weil er mir keinen Handkuss gegeben hat.«

André ging vor ihnen den gewundenen Tunnel entlang, der stellenweise so niedrig war, dass sie den Kopf einziehen mussten. Ab und an zweigten noch mehr Gänge ab, doch André führte sie, ohne zu zögern, weiter, wahrscheinlich fand er den Weg selbst mit geschlossenen Augen. Als Lilith schon völlig die Orientierung verloren hatte, erreichten sie das Ende des Labyrinths. Ein paar schwer bewaffnete Wächter nahmen sofort Haltung an und salutierten vor André, der ihren Gruß mit einem wortlosen Kopfnicken entgegennahm.

Vor ihnen erstreckte sich ein saalartiger Höhlenraum, der mit goldenem Licht dezent beleuchtet war. Von der Decke hingen unzählige Stalaktiten, so dicht nebeneinander, als ob jemand den Raum mit langen Reihen gezackter Steinvorhänge geschmückt hätte. Ein blank polierter Fußweg führte an kleinen Seen mit kristallklarem Wasser vorbei und prachtvolle Säulen erhoben sich neben ihnen, wo Stalagmiten und Stalaktiten aufeinandergetroffen waren.

»Ist das schön!«, entfuhr es Rebekka bewundernd.

André winkte ab. »Das ist nur der Anfang. Warte erst mal ab, bis wir unten sind.« Er verschränkte im Gehen die Hände hinter dem Rücken und wandte seine Aufmerksamkeit Matt zu. »Lass mich raten: Du bist sicherlich der berühmte Sterbliche, der in das Geheimnis unserer Existenz eingeweiht wurde und wegen dem Lilith vor Gericht stand.«

»Soll das etwa ein Vorwurf sein?«, entgegnete Matt ungewöhnlich gereizt. »Dass Lilith fast verurteilt worden wäre, war schließlich nicht meine Schuld.«

»Nur eine Feststellung, nichts weiter«, wehrte André ab. »Offen gestanden hat sich noch nie ein Mensch in unser Reich gewagt, jedenfalls nicht freiwillig. Genau wie die Nocturi versuchen wir eure Nähe zu meiden, obwohl oder gerade weil wir Vampire in gewisser Weise von den Menschen abhängig sind.«

»Melinda Winterbottom meinte, es sei ungefährlich für mich, da ihr euch ausschließlich von Blutkonserven ernährt.«

»Das ist grundsätzlich richtig«, entgegnete André zaghaft, was Lilith sofort hellhörig werden ließ.

»Grundsätzlich? Was soll das heißen?«, hakte sie nach. »Habt ihr etwa auch so durchgeknallte Vampire unter euch wie Johnson, der es für sein natürliches Recht hielt, Menschen zu jagen und zu töten?«

André wich ihrem Blick aus, das Thema schien ihm unangenehm zu sein. »Ihr wart auch schon mit diesem … Problem konfrontiert?«

Ehe Lilith antworten konnte, erzählte Rebekka hastig: »Johnson hatte in Bonesdale ein Rudel gegründet, um auf Menschenjagd zu gehen, doch seit seinem Tod sind die anderen Rudelmitglieder verschwunden.«

Es überraschte Lilith nicht im Geringsten, dass Rebekka ihre Rolle bei dem Ganzen unerwähnt ließ. Es würde Andrés Meinung über sie wahrscheinlich nicht gerade positiv beeinflussen, wenn sie von ihrer Zusammenarbeit mit dem Erzdämon und ihrer Mithilfe bei Johnsons Tod berichtete.

»Wir haben ähnliche Probleme, und zwar schon seit Längerem«, räumte er ein. »Es gibt einige Vampire, die mit dem Pakt der Vier nicht länger einverstanden sind und nicht mehr im Untergrund leben wollen. Sie sehnen sich nach unserer früheren Freiheit, und um ihren Widerstand gegen den Pakt zu demonstrieren, gehen sie auf die Jagd. Dies ist einer der Gründe, warum uns die Vanator so dicht auf den Fersen sind, denn in den letzten Jahren gab es zu viele mysteriöse Todesfälle in den Wäldern um unser Versteck.«

»Bedeutet das, Matt ist in Chavaleen in Gefahr?«, fragte Lilith, die in Matts Gesicht deutlich sein wachsendes Unbehagen ablesen konnte.

»Es sind Einzelfälle«, beeilte sich André ihnen zu versichern. »Dein Begleiter steht unter dem Schutz der Alexandrescu-Familie und niemand würde es wagen, ihn hier in Chavaleen anzugreifen. Auch wenn die besagten Vampire gegen den Pakt der Vier revoltieren, so würde es keinem von ihnen einfallen, die Allmacht ihres Herrschers anzuzweifeln.«

Matt stieß erleichtert die Luft aus, auch wenn er nach wie vor etwas blass um die Nase war.

»Habt ihr eine Vermutung, welche Vampire zu den Rebellen gehören?«, fragte Rebekka.

André schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich und mein Bruder Nikolai haben Spitzel eingesetzt, verdächtige Vampire verhaftet und ihnen mit schlimmen Strafen gedroht, doch leider ohne Ergebnis. Bisher gab es nur einen Gefangenen, der bereit war, uns Einzelheiten zu verraten, doch bevor es dazu kam, ist er unter mysteriösen Umständen in seiner Zelle gestorben.«

Lilith schluckte schwer. Plötzlich kam ihr das beschauliche, ereignislose Leben in Bonesdale sehr verlockend vor. Selbst die Schönheiten der Höhle, die sie durchschritten, verblassten plötzlich, wenn man hinter jeder Säule und in jeder dunklen Nische einen Verräter vermutete.

»Ich verstehe nur nicht, warum sie mit der Jagd weitermachen, obwohl sie damit die Vanator anlocken«, meinte Rebekka nachdenklich. »Sie bringen sich dadurch schließlich selbst in Gefahr.«

»Das haben wir uns am Anfang auch gefragt, doch mittlerweile vermuten wir, dass sie die Konfrontation heraufbeschwören wollen. Wenn uns die Vanator entdecken, haben wir keine Wahl mehr: Es muss zu einem offenen Kampf kommen! Die Vampire können sich nicht mehr länger verstecken und der Pakt der Vier ist hinfällig.«

Er führte sie nun in einen anderen Teil der Höhle, der nicht mehr natürlichen Ursprungs war. Das verriet die viereckige Öffnung, die in den langen Korridor führte, ebenso wie die Wände, die rau und glatt behauen waren. Ein künstliches Licht durchlief den Gang wie ein pulsierender Herzschlag, sodass der Eindruck entstand, es entferne sich von ihnen, nur um sie gleich darauf wieder von hinten einzuholen.

»Zum Glück ist der Glaube an die Macht des Blutstein-Amuletts in unserem Volk tief verankert«, fuhr André fort. »Sie mussten oft genug beobachten, wie das Amulett potenzielle Thronanwärter pulverisiert hat und wie es in der Vergangenheit dem Träger geholfen hat, die richtigen Entscheidungen zu treffen, die unser Überleben gesichert haben. Der Großteil unseres Volkes würde es nicht wagen, sich gegen den Willen des Amulettträgers zu stellen. Mein Vater sprach sich eindeutig gegen eine Aufhebung des Pakts aus und ich werde es als Anführer ebenso handhaben. Natürlich hoffe ich, dass dieser Tag noch fern ist, auch wenn Vaters Gesundheitszustand gerade …« Er brach ab, doch über sein Gesicht huschte ein Ausdruck tiefer Sorge.

»Wie geht es deinem Vater?«, fragte Rebekka mit ungewohnt sanfter Stimme.

»Nicht jetzt.« Er machte eine vielsagende Kopfbewegung in Richtung zweier Diener in edler Dienstkleidung, die sie vor einem Lastenaufzug erwarteten und ihnen eilfertig die Türen öffneten.

»So etwas bräuchten wir auch in Nightfallcastle«, hauchte Rebekka begeistert.

Lilith drehte sich zu ihr um. »Einen Aufzug?«

Sie rollte entnervt mit den Augen. »Nein, ich meine Dienerschaft! Schließlich entstamme ich einer alten Adelslinie, da gehört so etwas zum guten Ton.«

»Also erstens bist du nicht die Einzige, die dieser Adelslinie entstammt, und zweitens habe ich einen Diener«, entfuhr es Lilith ungewohnt selbstgefällig, während sie sich sofort über sich selbst ärgerte. Rebekkas arrogante Art weckte in ihr die niedersten Instinkte.

Doch so einfach konnte man Rebekka sowieso nicht beleidigen.

»Meinst du damit den schnarchenden Stinkdämon im Rucksack oder den Menschen, der ihn trägt?«, fragte sie naserümpfend und an ihrer Miene war abzulesen, dass sie statt der beiden lieber einen Ahuizotl einstellen würde.

Tatsächlich war Strychnins lautstarkes Schnarchen kaum zu überhören, trotzdem wollte Lilith ihr umgehend widersprechen, vor allen Dingen natürlich wegen Matt, nur fiel ihr leider keine schlagfertige Antwort ein. Matt schien jedoch einen Teil der Unterhaltung aufgeschnappt zu haben und wandte sich mit bittersüßem Lächeln um. »Ich würde sagen, es ist besser, einen Sterblichen zu haben, der einem zur Seite steht, als völlig alleine auf der Welt zu sein und nicht einmal eine Mutter zu haben, die sich wirklich für einen interessiert. Oder was meinst du, Rebekka?«

Zu Liliths Überraschung erlosch die Arroganz in Rebekkas Gesicht so plötzlich, als habe jemand einen Eimer kaltes Wasser über sie ausgeschüttet, und ihr höhnisches Schnauben klang eher wie ein weinerliches Keuchen. Sie stellte sich mit verschränkten Armen in eine Ecke des Aufzugs, dessen Türen sich hinter Matt und Lilith scheppernd schlossen.

»Achtung, jetzt wird es gleich etwas ungemütlich«, warnte André sie vor. »Wir fahren in nur dreißig Sekunden einhundertachtzig Meter in die Tiefe!«

»Cool!« Matts Augen blitzten zum ersten Mal, nachdem Andrés Geständnis ihm einen solchen Schrecken eingejagt hatte, wieder erfreut auf.

»Am besten ihr macht Kaubewegungen als Druckausgleich!«, rief André ihnen über das laute Rattern hinweg zu.

Fasziniert starrte Lilith auf das behauene Gestein, an dem der Lastenaufzug in Windeseile vorüberzog, und während sie immer tiefer ins Innere der Erde vordrangen, kämpfte sie mit dem stetig höher werdenden Druck auf ihrem Trommelfell. Obwohl sie Andrés Anweisung befolgte, hatte sie das Gefühl, dass jeden Moment etwas in ihren Ohren platzen würde, und sie war froh, als der Aufzug endlich zum Stehen kam.

»In eurer Sommerkleidung könnte es euch jetzt etwas kalt werden«, meinte André, als zwei weitere Diener die Türen des Lifts aufzogen. »Hier unten herrschen immer achtzehn Grad, egal zu welcher Jahreszeit.«

Eine lang gezogene Halle erstreckte sich vor ihnen, deren schwarzgraue Wände mit abschreckenden Höhlenmalereien von Dämonenfratzen und blutrünstigen Vampirkriegern bis unter die Decke geschmückt waren. Fein gemahlenes Gestein knirschte wie Sand unter ihren Füßen und die Luft roch seltsam alt und muffig. Vor einem eindrucksvollen Tor kamen sie zum Stehen, wo vier Wächter mithilfe von Seilwinden ächzend die schweren Türflügel öffneten.

Lilith nutzte die Gelegenheit und zog Matt am Arm beiseite. »Willst du wirklich hineingehen? Nach allem, was André vorhin erzählt hat, könnte ich verstehen, wenn du lieber gleich zu deinem Vater reisen willst.«

Auch ihr machte der Gedanke Angst, dass es in dieser unterirdischen Stadt Vampire gab, die Jagd auf Menschen machten und sich von ihnen nährten. Liliths Magen krampfte sich bei der bloßen Vorstellung, Matt könnte hier unten etwas zustoßen, schmerzhaft zusammen.

»Ich bin dir bestimmt nicht böse!«, setzte sie eindringlich hinzu. Natürlich wäre der Aufenthalt in Chavaleen ohne ihn nicht das Gleiche und sie würde ihn schrecklich vermissen, aber das erwähnte sie lieber nicht.

Er schwieg einen Moment nachdenklich und fuhr sich dann mit einem Seufzen durchs Haar. »Die Entscheidung ist zwar nicht einfach, aber ehrlich gesagt platze ich fast vor Neugier«, gestand er ihr. »Wann bekommt man schon die Gelegenheit, eine unterirdische Vampirstadt zu besichtigen? Außerdem halte ich André nicht für einen Typen, der seine Gäste ungerührt einer Gefahr aussetzt, selbst wenn es sich dabei nur um einen Sterblichen handelt. Er hätte nicht zugelassen, dass ich hierherkomme, wenn diese Vampire sich auf jeden Menschen stürzen würden, der ihnen über den Weg läuft.«

Trotz seines lockeren Auftretens entging Lilith nicht die leichte Untersicherheit, die in seinen Worten mitschwang.

»Außerdem habe ich Mildred versprochen, auf dich aufzupassen«, fügte er ernsthaft hinzu. »Wenn ich dich hier im Stich lasse, killt mich deine Tante, sobald ich zurück nach Bonesdale komme. Insofern würde ich meinen möglichen Tod nur herauszögern.«

Er zwinkerte ihr zu und Lilith erwiderte sein Lächeln. »Dann passen wir ab sofort gegenseitig aufeinander auf«, schlug sie vor. »Dagegen hat Mildred sicher nichts einzuwenden.«

»Kommt ihr endlich?«, rief Rebekka ihnen vom geöffneten Tor aus zu. Die Geräusche einer Stadt mit dem geschäftigen Treiben und vielstimmigen Gemurmel zahlreicher Einwohner drangen zu ihnen in die Halle.

Die beiden schlossen eilig zu ihr auf, während André schon stolz die Arme ausgebreitet hatte. »Willkommen in Chavaleen!«