»Def. Kraghul, allgemein: gefährliche Tierart, der Familie der → Ghuls angehörig. Genau wie diese sind die Kraghuls degenerierte Aasfresser, was sie jedoch nicht hindert, ihre Opfer grausam zu töten und langsam ausbluten zu lassen. Da sie fern des Sonnenlichts hauptsächlich unterirdisch in Katakomben und Höhlen leben, besitzt ihre Haut eine grauweiße Färbung mit einer feuchten, wächsernen Oberfläche. Hervorstechend sind ihre Haarlosigkeit, die vielreihigen Fangzähne und die spitzen Krallen, mit denen es ihnen möglich ist, Wände hochzulaufen und an der Decke hängend auf ihre Opfer zu lauern. Leben in Symbiose mit den → Draculakäfern, die sich im Inneren des Kraghuls absetzen und von deren Blut nähren. Die Aminosäuren, die von den Käfern während des Verdauungsprozesses ausgeschieden werden, sind für den Kraghul lebenswichtig. Die wuselnden Bewegungen des Draculakäfers zeichnen sich unter der Haut der Kraghuls deutlich ab.«

aus »Untote von A–Z.
Umfassendes Nachschlagewerk paranormaler Wesen«
von Professor Albertus von Knüttelsiel, erschienen 1969

Durch sanft erleuchtete Verbindungsgänge erreichten sie mehrere Hallen, die so gewaltige Ausmaße hatten, dass Lilith sich in Erinnerung rufen musste, sich in einer Stadt unter der Erde zu befinden. André erzählte ihnen, dass Chavaleen aus sieben Bezirken bestand, die jeweils von einer der sieben Adelsfamilien regiert wurden. Mittlerweile waren sie in Eloda Lasi angelangt, der größten Höhle, die auch »Perle der Dunkelheit« genannt wurde und das Herzstück Chavaleens bildete. In fast zwanzig Metern Höhe erstreckte sich über ihnen eine kuppelartige Decke aus beleuchteten Quarzkristallen wie ein milchig weißer Winterhimmel und manchmal funkelte es, als seien Sterne im Kristall eingeschlossen. Lilith gelang es kaum, sich von diesem bezaubernden Anblick loszureißen. Die Wände der Höhle waren zudem auch prachtvolle Fassaden, die den Vergleich mit Schlössern oder Adelshäusern über der Erde keineswegs scheuen brauchten, im Gegenteil. Die jeweiligen Wohnungen waren über Wendeltreppen und Balustraden erreichbar und Bildhauer hatten die Steinfassaden liebevoll mit Ornamenten, Ranken und Fresken versehen. Überall waren goldene und silberne Verzierungen eingearbeitet und es gab unzählige Spiegel, die jeden noch so kleinen Lichtstrahl aufsaugten und um ein Vielfaches verstärkt reflektierten.

»Die Höhlenwohnungen haben sogar Fensterscheiben«, stellte Matt überrascht fest.

»Ansonsten hätte man kaum seine Privatsphäre«, erklärte André. »Bei dieser Geräuschkulisse würde man wohl kein Auge zumachen.«

Tatsächlich war die Luft erfüllt von unzähligen Stimmen und Geräuschen. Im Mittelpunkt der Höhle reihte sich ein Haus an das andere, und nach dem dort herrschenden Trubel zu urteilen, spielte sich in diesen Straßen das gesellschaftliche Leben der Vampire ab.

Strychnin, der wieder erwacht und aus dem Rucksack befreit worden war, gab sich keine Mühe, seine Entzückung zu verbergen. »Ich bin im Dämonenhimmel«, jauchzte er. »Katzen! Überall wimmelt es von Katzen. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.«

André maß ihn mit stechendem Blick. »Du hast doch nicht vor, dich an ihnen zu vergreifen, Dämon? Das würde ich dir nicht raten, denn wir lieben diese edlen Geschöpfe. Sie sind uns sehr ähnlich, was man schon allein an ihren Fangzähnen erkennen kann. Des Weiteren sind sie Nachttiere, flink, geschickt, majestätisch und intelligent, genau wie Vampire.«

»Und nicht zu vergessen: bescheiden«, murmelte Matt ironisch, während Strychnin einen Flunsch zog.

»Jetzt erreichen wir den Hadesboulevard, der direkt zum Nebikon führt, das ist seit Jahrhunderten der Regierungssitz des Vampirführers«, verkündete André. »Hier im Hadesboulevard gibt es die meisten Geschäfte und Restaurants der Stadt. Das Haus mit der cremefarbenen Kuppel ist ein Theater und nicht weit davon entfernt ist ein Kino.«

»Ein Kino!« Matt pfiff anerkennend und wandte sich an Lilith. »Der Träger des Blutstein-Amuletts hat ein Kino bauen lassen, um seinem Volk Unterhaltung und Amüsement zu bieten. Das solltest du deine Nocturi in Bonesdale lieber nicht hören lassen!«

Lilith streckte ihm die Zunge raus und grinste. »Die sollen sich bloß nicht beschweren, ich habe immerhin einen Werwolf-Streichelzoo eingerichtet.«

Vor dem Schaufenster der ersten Boutique blieb Rebekka sofort mit leuchtenden Augen stehen und schien mit sich zu kämpfen. »Nur zwei Sekunden!«, rief sie ihnen schließlich über die Schulter hinweg zu, bevor sie in den Laden stürmte. Immerhin schaffte sie es, dabei nicht vor Begeisterung die Arme hochzuwerfen und ein hysterisches Kreischen auszustoßen. Denn Melinda hatte mit ihrer Feststellung, dass Vampirfrauen viel Wert auf ihr Äußeres legen, nicht übertrieben. Selbst Lilith fiel auf, dass ihre Kleidung eine außergewöhnliche Eleganz besaß. Sie trugen fein gewirkte Kleider mit aufwendigen Stickereien und Bordüren mit silbernen und goldenen Ranken, die Ähnlichkeit mit den Verzierungen auf den Fassaden der Häuser hatten. Die Röcke und Mäntel schwangen bei jeder Bewegung in weichen Falten hin und her und allen gemeinsam waren die leuchtenden Farben – oft sah man das tiefe Grün des Waldes, leuchtendes Rot oder das Kobaltblau des Himmels, als ob die Bewohner Chavaleens die Farben der Oberfläche zu sich unter die Erde holen wollten. Doch nicht ganz Chavaleen zeigte sich so prachtvoll wie Eloda Lasi. Auf ihrem Weg hierher hatten sie auch Tunnel passiert, in denen einfache Wohnhöhlen lagen, und obwohl sie von außen schlicht und ärmlich wirkten, so hatte André ihnen versichert, dass sie mit allem Komfort ausgestattet waren. Seinem Vater war es ein Anliegen gewesen, dass jede Vampirfamilie fließend Wasser, Strom und Heizmöglichkeiten zur Verfügung standen.

»Ich bin so froh, dass du kommen konntest!«, meinte André, während sie auf Rebekka warteten. »Ich hatte schon Sorge, dass es Probleme gibt, weil du erst dreizehn Jahre alt bist.«

»Aber ich bin schon fast vierzehn!«, verbesserte Lilith ihn eifrig. Seltsamerweise machte sie Andrés Gegenwart immer ungeheuer nervös und sie hatte das Gefühl, ständig das Falsche zu sagen.

»Oh, das trifft sich gut.« Seine Miene hellte sich auf. »Mit vierzehn Jahren sind nach unserem Brauch die Frauen im heiratsfähigen Alter. Es ist eine Tradition aus früherer Zeit, doch wir Vampire halten gerne an alten Sitten fest.« Er ergriff Liliths Hand und verbeugte sich vor ihr. »Es wird mir eine Freude sein, dir so bald wie möglich einen Antrag zu machen. Dann ist die Allianz zwischen Vampiren und Nocturi für immer besiegelt.«

»Was?«, entfuhr es ihr panisch und sie entzog ihm ruckartig ihre Hand. »Bist du verrückt geworden?«

Andrés Gesichtszüge versteinerten sich. »Ich hätte schon erwartet, dass meine zukünftige Ehefrau etwas mehr Freude über meine Heiratsabsichten an den Tag legt.«

Lilith wurde abwechselnd heiß und kalt. Natürlich wollte sie ihn nicht beleidigen, doch niemals würde sie jetzt schon heiraten, nur über ihre Leiche!

»Entschuldige, aber, wie soll ich sagen … Das ist wirklich nicht persönlich gemeint, aber …«

Plötzlich prustete André los. »Wahnsinn, du solltest mal dein Gesicht sehen! Du bist so weiß wie ein Leintuch.«

Irritiert runzelte Lilith die Stirn, bis endlich der Groschen fiel. »Das war ein Scherz?«

»Logo.« André grinste breit und selbst Matt konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, während Lilith die Arme vor der Brust verschränkte und den beiden die Zunge herausstreckte.

André musste Rebekka schließlich persönlich aus der Boutique holen, und um sie von weiteren Verlockungen fernzuhalten, nahm er ihren Arm und führte sie den restlichen Weg des Hadesboulevard entlang, was Rebekka ungewohnt folgsam akzeptierte. Am Ende von Eloda Lasi erreichten sie einen beeindruckenden Vorplatz, auf dem sich Seenbecken aus dem Boden erhoben, über deren Wasser gelb flackernde Feuersäulen tanzten. Eine lange Treppe führte zum Eingangsportal, das Lilith entfernt an Nightfallcastle erinnerte. Die grauschwarze Front war durchsetzt mit roten, grünen und blauen Edelsteinen, die genau wie die Quarzkristalle an der Decke von innen heraus zu leuchten schienen. Das wirkte natürlich nicht im Ansatz so Furcht einflößend wie die versteinerten Skelette von Nightfallcastle, dafür jedoch sehr viel edler. Rechts und links des Eingangsportals hing jeweils ein gewaltiger Gong, einer in Gold, der andere in einem matten Nachtschwarz, und Lilith vermutete, dass sie dafür genutzt wurden, das Volk zusammenzurufen. Die mächtigen Säulen der Fassade reichten bis unter die Decke und sowohl Lilith, Matt als auch Rebekka hielten beeindruckt den Atem an, während sie die Treppe hinaufstiegen.

Nur Strychnin war alles andere als angetan. »Doofe Stufen«, meckerte er, während er keuchend nach oben hoppelte. »Wozu braucht man denn die? Alles nur Angeberei. Eine Rampe hätte es auch getan.« Da ihm seine Kräfte zur Immaterialisierung mittlerweile sehr begrenzt zur Verfügung standen, benutzte er sie nur noch im Notfall.

»Soll ich dich tragen?«, bot Lilith an.

»So weit kommt es noch, meine Ladyschaft«, japste er. »Dass Ihr Euren eigenen Diener durch die Gegend schleppen müsst! Das wäre eine unermessliche Schande.«

Er kämpfte sich tapfer nach oben bis zum großzügigen Plateau, doch kaum hatte er einen Blick auf das massive Eingangsportal geworfen, begann er noch heftiger zu schwanken. »Ach du stinkiger Dämonenmist!«

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

Er gab Lilith mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie sich zu ihm herunterbeugen sollte. »Seht Ihr die Schutzrunen über der Tür, Eure Ladyschaft?«, raunte er ihr zu. »Sie erspüren reine dämonische Kräfte bei demjenigen, der das Portal durchschreitet, und wehren den Dämon notfalls ab! Meist besitzen die Runen keine große Wirkung und in der Vergangenheit haben sie sich als sehr unzuverlässig erwiesen, doch mit etwas Pech werden wir beide gebrutzelt, sobald wir dort hineingehen.«

»Verdammt«, fluchte sie leise. Das hatte ihr gerade noch gefehlt!

»Wir?«, fragte in diesem Moment eine Stimme neben ihnen irritiert. »Wieso denn wir?«

Lilith schreckte hoch und sah in Matts fragendes Gesicht. »Belauschst du immer geheime Gespräche?«, bluffte sie ihn wütend an, während ihr Herz wie verrückt zu schlagen begann. Ob er sich anhand von Strychnins Äußerung irgendetwas zusammenreimen konnte?

Matt hob erschrocken die Hände. »Entschuldige bitte, ich wollte nicht lauschen, es sah nur so aus, als ob Strychnin ein Problem hätte.«

Nun trat auch André zu ihnen. »Lasst mich raten, der Dämon macht sich Sorgen wegen der Runen? Das ist überhaupt nicht notwendig, denn sie sind schon alt und so gut wie wirkungslos. Sicherheitshalber habe ich jedoch meinen Bruder gebeten, den Schutz aufzuheben, weil ich mir schon dachte, dass du mit deinem Diener hier erscheinen wirst.« Er deutete auf zwei neuer wirkende Runen, die die verblichenen einfassten.

»Welch Glück!« Strychnin stieß erleichtert die Luft aus und Lilith musste sich zusammenreißen, es ihm nicht gleichzutun. Sie hatte immer noch weiche Knie – niemals hätte sie vermutet, dass ihr Geheimnis so schnell auffliegen könnte.

Peinlich berührt sah sie zu Matt. »Tut mir leid, dass ich so gereizt reagiert und dich angefahren habe!«

Er zögerte einen quälend langen Augenblick. »Na schön, Entschuldigung angenommen. Mit so etwas muss man wohl rechnen, wenn man mit einem Mädchen befreundet ist.«

Lilith beschloss, diesen Kommentar großzügig zu überhören, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Eingangstür, die sich gerade öffnete. Ein Butler erschien, den man, ohne zu übertreiben, als uralt bezeichnen konnte: Sein vorgestreckter faltiger Hals erinnerte Lilith an eine Schildkröte, während sein schütterer Haarkranz eher einem Geier glich. Der Frack und das makellos weiße Hemd waren so gestärkt worden, dass sie wahrscheinlich aufrecht stehen blieben, wenn er sie abends auszog. Er musterte die Gruppe mit zusammengekniffenen Augen, als habe er selbst auf die geringe Entfernung Schwierigkeiten, sie zu erkennen.

»Ihr seid zurück, Mylord, vortrefflich«, krächzte er. »Und wie ich sehe, seid Ihr in Begleitung.«

»Guten Tag, Igor«, begrüßte André ihn. »Nimmst du unseren Gästen bitte das Handgepäck ab? Die Koffer mussten wir im Auto zurücklassen, sie werden später von Eva gebracht.«

Matt konnte sich anscheinend nur mit größter Mühe das Lachen verkneifen und Lilith warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Wir sind bei einem rumänischen Vampirherrscher zu Gast, dessen Butler Igor heißt und aussieht, als habe er seinen eigenen Tod überlebt«, raunte er ihr ins Ohr. »Hat sich Vadim in seinem Kino etwa zu viele alte Vampirfilme angesehen?«

Lilith musste zugeben, dass Matt damit nicht unrecht hatte. Dies entsprach so sehr dem Klischee, dass es einer gewissen Komik nicht entbehrte.

Sie sah sich in der Eingangshalle um.

Nur an wenigen Stellen blitzte das Grauschwarz der Höhlenwände hervor und man hatte offenbar keine Kosten und Mühen gescheut, den Nebikon mit edlen Stoffen und Antiquitäten auszustatten.

Der Fußboden bestand aus weißem Marmor, die Treppen waren mit einem schweren Teppich belegt und das Geländer glänzte in purem Gold, was Lilith zugegebenermaßen etwas kitschig fand.

Auch hatte man nicht an prunkvollen Spiegeln gespart, die die Lichter des gewaltigen goldenen Kronleuchters vervielfachten und die Halle erhellten.

André bemerkte offenbar ihren prüfenden Blick. »Gefällt es dir?«

»Es ist sehr …« Sie stockte und suchte nach dem passenden Wort. »Golden?«

Zum Glück lachte er amüsiert auf. »Ich weiß, ihr Nocturi mögt es etwas dezenter. Für euren Geschmack ist es wahrscheinlich etwas zu viel des Guten.«

»Aber nein, ich finde es wundervoll!«, widersprach Rebekka ihm eifrig. »Euer Regierungspalast ist unheimlich geschmackvoll! Also nicht unheimlich, im Sinne von schaurig geschmackvoll, sondern wie … wie …« Sie schaute Hilfe suchend zu Lilith.

»Sehr geschmackvoll?«, schlug sie Rebekka mit hochgezogenen Augenbrauen vor.

»Genau, sehr geschmackvoll!«, griff diese ihren Vorschlag umgehend auf, wobei sie Lilith einen dankbaren Blick zuwarf.

Irritiert runzelte Lilith die Stirn. Seit sie in Rumänien angekommen waren, benahm sich Rebekka von Minute zu Minute seltsamer.

»Darf ich Ihren Gästen vielleicht eine Erfrischung anbieten?«, fragte Igor nasal.

»Eigentlich …« André zögerte und wandte sich zu ihnen um. »Wäre es sehr unhöflich, wenn ich euch bitten würde, dass wir umgehend zu meinem Vater gehen? Es läge mir wirklich am Herzen.«

Zwar hätte Lilith nach der langen Autofahrt und der abenteuerlichen Flucht vor den Vanator gerne etwas zu trinken bekommen, doch bevor sie überhaupt den Mund aufmachen konnte, rief Rebekka schon: »Natürlich, das machen wir doch gerne!«

André schenkte ihr ein Lächeln. »Ich danke euch! Igor, bring uns bitte zu meinem Vater!«

»Ihr wollt in den Krater, Mylord?«, entgegnete Igor sichtlich erschüttert. »Aber der Todeskrater ist 100 Meter tief. Wollen Sie etwa Gruppenselbstmord begehen?«

André seufzte auf und wiederholte um einiges lauter: »Nein, wir möchten zu meinem VATER, Igor!«

»Ah … Sehr wohl, Mylord! Ich bringe Sie und Ihre Gäste zu ihm.« Er setzte sich schwerfällig in Bewegung und erklomm im Zeitlupentempo die Treppe, was allein Strychnin sehr entgegenkam, die Geduld der anderen jedoch erheblich auf die Probe stellte.

Als sie endlich oben angekommen waren, wurden sie durch mehrere üppig dekorierte Räume geführt, bis sie einen Salon erreichten. Igor bat sie, auf einem der Sofas Platz zu nehmen, während er seinen Herrn über ihr Kommen informierte.

»Er ist schon recht alt für einen Diener«, stellte Rebekka nüchtern fest. »Man hat den Eindruck, einer Mumie im Frack bei einem Marathon zuzusehen.«

»Das kann man wohl sagen!«, stimmte André ihr zu Liliths Überraschung inbrünstig zu. »Igor ist schon so taub, dass er nicht einmal mehr die Dienstbotenklingel hört, und letztens hat er fast die Küche abgefackelt, weil er beim Kochen eingenickt ist. Mein Vater hat ihm schon vor Jahren angeboten, ihn aus seinen Diensten zu entlassen, doch Igor, dieser sture alte Knochen, weigert sich zu gehen. Wenn ihr ein Glas Wasser haben wollt, solltet ihr ihm auftragen, eine ganze Flasche zu bringen, ansonsten ist es verdunstet, bis ihr es endlich in Händen haltet.«

»Dann dauert es wohl noch eine Weile, bis er wieder zurückkommt«, meinte Lilith und wollte sich erschöpft auf ein schwarzes Samtsofa sinken lassen, als André sie im letzten Augenblick zurückhielt. »Vorsicht!«

Erst jetzt entdeckte Lilith unter sich eine schlafende schwarze Katze. Von der Nähe ihres Hinterns offensichtlich gestört, öffnete diese unwillig ein Auge.

»Das ist mein Kater Aurel.« André trat heran und strich ihm liebevoll mit dem Zeigefinger über die Wange, woraufhin Aurel herzhaft gähnte und seine Fangzähne entblößte.

»Ich bin eher der Hundetyp.« Dennoch hob Lilith die Hand und tätschelte zaghaft Aurels Kopf, wofür sich der Kater mit einem blitzschnellen Krallenhieb bedankte. »Autsch!«

»Du darfst mit ihm nicht umgehen wie mit einem Hund! Bei einer Katze musst du warten, bis sie zu dir kommt«, klärte André sie auf und setzte sich neben den Kater, was dieser mit einem zufriedenen Schnurren kommentierte. »Aber da Aurel sehr verschmust ist, dauert das sicher nicht lange.«

Aurels hochmütiger Blick verriet Lilith, dass sie darauf sehr wohl lange warten musste und er nicht im Traum daran dachte, ihr seine Gunst zu gewähren. Vorsichtshalber ließ sie sich am anderen Ende des Sofas nieder und sah André erwartungsvoll an. »Während wir warten, könntest du uns schon einmal verraten, an was dein Vater erkrankt ist und warum du denkst, dass ausgerechnet eine Banshee ihm helfen kann!«

Er beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub für einen Moment das Gesicht in den Händen, so als müsse er sich etwas ins Gedächtnis rufen, an das er sich lieber nicht erinnern wollte.

»Es begann vor einigen Wochen«, setzte er an. »Anfangs waren die Veränderungen minimal und niemand rechnete damit, dass es sich um die ersten Symptome einer ernsthaften Krankheit handelte. Er wirkte lediglich nervöser, klagte über Schlaflosigkeit und verlor während eines Gesprächs häufig den Faden. Eines Morgens war er völlig außer sich und behauptete, dass über seinem Kopf ein schwarzer Nebel schweben würde, der sich immer mehr verdichtete. Permanent starrte er in den Spiegel, doch wir konnten nichts erkennen.«

Lilith und Rebekka wechselten einen besorgten Blick. Beide ahnten schon, worauf Andrés Erzählung hinauslaufen würde.

»Er besorgte sich unzählige Bücher über Magie, Geister und Totenbeschwörung, schloss sich in seinem Zimmer ein und las in ihnen Tag und Nacht, bis er schließlich meinen Bruder Nikolai und mich zu sich rufen ließ. Kreidebleich im Gesicht erzählte er uns, dass er nun wüsste, was der schwarze Nebel zu bedeuten habe: Es sei das Todesmal, das die Banshees bei Todgeweihten sehen.«

»Aber das können nur Todesfeen«, warf Rebekka ein.

»Genau das haben wir ihm auch gesagt, doch er beharrte darauf, das Todesmal zu sehen, und regte sich dabei so auf, dass er zusammenbrach und wir seine Ärzte holen mussten. Außer ihn ruhigzustellen und ihm viel Schlaf zu verordnen, konnten sie jedoch kaum etwas ausrichten. Abgesehen von den Halluzinationen und der Paranoia konnten sie keine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes feststellen, körperlich gesehen ist er gesund.«

»Warum Paranoia?«, hakte Lilith nach.

»Eigentlich glaubten wir, dass sein Zustand nicht mehr schlimmer werden könnte, doch seit einigen Tagen meint Vater, dass in der Ecke seines Zimmers ein schwarz gekleideter Sensenmann steht und seine fast geleerte Sanduhr in Händen hält. Er ist überzeugt, dass ihm jemand nach dem Leben trachtet und er in Kürze umgebracht werden soll. Außer Igor, seinem Leibarzt, mir und Nikolai lässt er niemanden mehr in seine Nähe.«

Lilith wusste nicht, wie sie auf Andrés Erzählung reagieren sollte. Nach dem, was sie gehört hatte, glaubte sie eher an eine schwere psychische Erkrankung als an eine übernatürliche Ursache. Sie hatte nicht erwartet, dass es so schlimm um Vadim stand.

»Aber wie sollte ich ihm helfen können?«, fragte sie vorsichtig.

»Du bist eine Banshee, ihr beide seid Banshees«, verbesserte André sich und warf Rebekka einen entschuldigenden Blick zu. »Wenn er tatsächlich im Sterben läge, würdet ihr ebenfalls den schwarzen Nebel erkennen, den er zu sehen glaubt. Vielleicht könnt ihr ihn von seiner fixen Idee abbringen, dass er dem Tode geweiht ist. Euch muss er glauben!«

André zuliebe versuchte Lilith, sich ihre Zweifel nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Ob Vadim ihnen in seinem Zustand überhaupt Gehör schenken würde? Er schien völlig von der Erscheinung des Todesmals überzeugt zu sein. Aber sie sah die Verzweiflung in Andrés Augen: Er wusste nicht mehr weiter und klammerte sich an seine letzte Hoffnung.

»Einen Versuch ist es wohl wert«, meinte Rebekka, doch auch sie klang wenig zuversichtlich.

In diesem Augenblick ging die Tür auf, durch die Igor verschwunden war, und ein Mann kam herein, der entfernte Ähnlichkeit mit André aufwies, auch wenn er eine Brille trug und deutlich älter zu sein schien. Allerdings war dies bei Vampiren schwer einzuschätzen, denn während sich der Alterungsprozess der Nocturi ab dem Zeitpunkt verlangsamte, in dem die Leistungskraft ihrer Körper den Höhepunkt erreichte, war bei den Vampiren auch von Bedeutung, wie lange ihre letzte Blutmahlzeit zurücklag. Sobald ihr Körper nicht mehr mit den Nährstoffen des fremden Blutes versorgt wurde, begann ein beschleunigter Alterungsprozess einzusetzen.

»Nikolai!« André sprang auf und runzelte beim Anblick der ernsten Miene seines Bruders die Stirn. »Ist etwas mit Vater?«

Im Gegensatz zu André durchzogen schon weiße Strähnen Nikolais dichtes schwarzes Haar und die ersten Falten zeichneten sich um Augen und Mund ab. Seine Haltung war stolz und aufrecht, sodass er größer und sehr präsent wirkte.

Erst als André neben ihm stand und Nikolai zu ihm aufsehen musste, fiel Lilith der Größenunterschied auf.

André erinnerte sich an seine Rolle als Gastgeber und stellte sie in aller Eile einander vor. Nikolai begrüßte die Besucher trotz der angespannten Stimmung ausgesucht freundlich und dankte ihnen für ihr Kommen. Einzig bei Matt, der sich – seit das Thema auf Vadims Gesundheitszustand gefallen war – diskret im Hintergrund hielt, konnte Nikolai seine Überraschung nicht verbergen. Der Besuch eines Sterblichen verblüffte ihn offensichtlich noch mehr als seinen Bruder.

»Wie geht es Vater?«, fragte André erneut. Als er Nikolais Zögern bemerkte, fügte er hinzu: »Sie wissen Bescheid, ich habe ihnen von Vaters Krankheit erzählt. Du kannst frei sprechen!«

Nikolai nickte, seufzte auf und fuhr sich mit der gleichen Handbewegung durchs Haar, die Lilith schon bei André beobachtet hatte. »Während du weg warst, hatte Vater wieder einen Anfall und die Ärzte meinen, dass er dringend Ruhe benötigt«, erzählte er mit einer beherrschten, kultiviert klingenden Stimme. »Sie haben ihm gerade ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht und er wird voraussichtlich bis morgen früh schlafen.«

André war sichtlich enttäuscht. »Dann müssen wir wohl noch warten, bis ich Lilith und Rebekka zu ihm bringen kann.«

Hinter sich hörte Lilith ein seltsames Kratzen, gefolgt von einem Geräusch, das wie zerreißender Stoff klang. Sie sah über die Schulter, konnte aber nichts entdecken.

»Was hat dieses Mal Vaters Anfall ausgelöst?«

Nikolais Miene verdüsterte sich noch mehr. »Er sagte, der Sensenmann käme auf ihn zu und er könne genau den verrinnenden Sand seiner Lebensuhr erkennen. Er war völlig außer sich und schrie, der Inhalt wäre nur noch ausreichend für ein oder zwei Tage. Seine Krankheit scheint ein neues Stadium erreicht zu haben, bei dessen rasantem Verlauf wir das Schlimmste befürchten müssen.«

Das Schweigen, das nun folgte, wog so schwer, dass Lilith automatisch die Luft anhielt, um nur keinen Laut zu verursachen. So schwerfällig und erschöpft wie ein alter Mann ließ André sich neben Rebekka auf das Sofa fallen.

»Ein oder zwei Tage …«, wiederholte er leise.

Rebekka legte ihm eine Hand auf den Arm. »Wenn er unter Halluzinationen leidet, bedeutet das doch nicht, dass in diesem Zeitraum tatsächlich etwas Schreckliches geschieht. Vielleicht lässt sich Vadim von mir überzeugen, dass er einem Trugbild aufgesessen ist, und findet zurück in die Realität.«

Trotz Rebekkas gut gemeinten Worten entging Lilith nicht, dass sie im Singular gesprochen hatte: Wenn eine Banshee Vadim zur Genesung verhelfen würde, so ging Rebekka wie selbstverständlich davon aus, dass sie die strahlende Retterin in der Not wäre. Liliths Groll mischte sich jedoch auch mit einem nagenden Gefühl der Sorge. Was wäre, wenn Vadims Prophezeiung stimmte und er tatsächlich in Gefahr schwebte? Dann hätte es fatale Folgen, dass sie ihm keinen Glauben schenkten. Seit Lilith nach Bonesdale gekommen war, hatte sie schließlich gelernt, dass selbst das scheinbar Unmögliche möglich war.

»Du hast recht, ich darf mich nicht in seine Welt hineinziehen lassen!« André atmete tief durch, um seine Fassung zurückzugewinnen, und legte dankbar seine Hand über Rebekkas. »Schauen wir nach vorne und hoffen, dass sich Vater von euch umstimmen lässt und dieser Albtraum bald ein Ende hat.«

Nikolai nickte zustimmend. »Gleich morgen früh bringen wir euch zu ihm!«

Aus den Augenwinkeln sah Lilith, wie in dem Sofaspalt zwischen Lehne und Sitzfläche exkrementenbraune Wurstfinger auftauchten und sich langsam in Aurels Richtung tasteten. Der Kater schlief tief und fest und schien von der nahenden Gefahr nichts zu ahnen. Der Anblick der scheinbar körperlosen Dämonenhand wäre gruslig gewesen, wenn Lilith nicht genau gewusst hätte, wem sie gehörte. Es war wieder einmal typisch für Strychnin, dass er nicht eine Spur von Feingefühl besaß und ausgerechnet in so einem Augenblick nichts Besseres zu tun hatte, als seinen niederen Instinkten nachzugehen. Nun wusste sie auch, was das Reißen des Stoffs zu bedeuten hatte: Strychnin hatte mit seinen Krallen die Rückseite des Sofas aufgeschlitzt! Sie konnte nur hoffen, dass der Schaden nicht allzu schlimm war.

Wie nebenbei legte Lilith den Arm auf die Sofalehne, ließ ihre Hand unauffällig nach hinten fallen und bekam ein paar lange Ohrhaare zu fassen, an denen sie kräftig zu ziehen begann. Als Antwort erhielt sie ein schmerzerfülltes Quieken und sofort zog sich die Dämonenhand ebenso unauffällig zurück, wie sie erschienen war.

»So ist es brav!«, wisperte Lilith über die Schulter. André hatte momentan schon genug zu verkraften und er wäre sicherlich nicht erfreut gewesen, wenn Strychnin versucht hätte, seinen Kater anzunagen.

»Zu Ehren eures Besuches haben wir heute Abend ein kleines Dinner geplant, bei dem die anderen sechs Adelsfamilien teilnehmen werden«, informierte Nikolai sie. »Es ist natürlich kein großer Empfang, aber wenn wir Gäste aus Bonesdale bei uns begrüßen dürfen, können wir das nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Wir haben verlautbaren lassen, dass ihr gekommen seid, um uns in diesen schweren Zeiten des Beistands der Nocturi zu versichern und zu überprüfen, ob wir gemeinsam den Schutzschild von Chavaleen verstärken können. Zwar hatten wir gehofft, dass Vater während des Essens für einige Minuten zu uns stoßen kann, doch nun muss André ihn an seiner statt vertreten. Wundert euch bitte nicht, wenn wir Vaters Krankheit etwas herunterspielen. Es wäre zum jetzigen Zeitpunkt, wo die Angst vor den Vanator wieder neu entfacht worden ist, unklug, wenn das Volk an den Führungsqualitäten des Amulettträgers zweifeln würde.«

Rebekka runzelte irritiert die Stirn. »Aber wir sind keine Magier, wie könnten wir denn euren Schutzschild verstärken?«

»Das ist ein Punkt, den ich später mit Lilith besprechen werde«, entgegnete er ausweichend.

Rebekka und Lilith wechselten einen erstaunten Blick, diese Sache hatte André mit keinem Wort erwähnt. Lilith war gespannt, was sie nach Nikolais ominöser Andeutung erwartete.

»Ich bringe euch auf euer Zimmer im Gästetrakt, dort warten auch schon Erfrischungen auf euch.« André erhob sich, nun wieder mit einem Lächeln im Gesicht. »Mit etwas Glück wurde euer Gepäck schon hergebracht, dann könnt ihr euch für das Abendessen umziehen.«

Lilith fragte sich, inwieweit Andrés freundliches Lächeln wohl seinen wahren Gefühlen entsprach. Vielleicht war dies einer der Vorteile, wenn man von Kindesbeinen an auf die Rolle des Anführers vorbereitet worden war: Man lernte, seine Gedanken und Emotionen zu verbergen und der Welt das Gesicht zu zeigen, das die anderen sehen wollten.

Nachdem Lilith sich frisch gemacht hatte, sah sie sich neugierig in ihrem Zimmer um. Wie im übrigen Regierungspalast hatte man auch hier nicht an Marmor, Wandteppichen und wuchtigen Antiquitäten gespart. In sich gewundene, mit Blättern verzierte Goldranken bildeten den Rahmen ihres Himmelbetts und das Gemälde gegenüber zeigte Rehe und Hirsche inmitten des rumänischen Waldes, während am glasblauen Himmel Schwalben umherflatterten. Für Liliths Geschmack war das etwas zu viel Romantik und Idylle, am liebsten hätte sie noch einen tödlichen Sumpf oder einen verirrten Zombie dazugemalt. Sie lächelte über sich selbst, als sie sich bei diesem Gedanken ertappte – es war fast schon erschreckend, wie gut sie sich mittlerweile in Bonesdale eingelebt hatte.

Zwar befanden sich ihre Koffer doch noch nicht auf ihren Zimmern, aber dafür entdeckte Lilith in ihrem Schrank zahlreiche Kleidungsstücke im Stil der Chavaleener Bevölkerung, sogar in ihrer Größe. Kurze Zeit später hörte sie trotz der dicken Steinwände aus dem Nebenzimmer einen glückseligen Jubelschrei, woraus Lilith schloss, dass Rebekka ebenfalls einen Blick in ihren Schrank geworfen hatte. Sie entschied sich für ein warmes bordeauxfarbenes Kleid, das mit schwarzen und goldenen Ranken bestickt war und das sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte. Sie hoffte, dass dies für ein Dinner im Kreise adliger Vampire die passende Garderobe war. Nun war sie dankbar für Isadoras und Melindas Unterricht in höfischen Umgangsformen, denn so musste sie sich wenigstens nicht darum sorgen, ob sie beim Essen das falsche Besteck benutzte oder sich unpassend verhielt. Vom Anblick des schönen Kleides motiviert, setzte sie sich an den Schminktisch und versuchte, die kunstvolle Frisur, die Melinda und Rebekka ihr an Emmas Prüfungsabend verpasst hatten, selbst hinzubekommen, was sich jedoch als erstaunlich schwierig herausstellte. Ihr Ergebnis erinnerte eher an die Haare einer Moderatorin, die live von einer schweren Sturmfront berichtete.

»Okay, Friseurin werde ich später wohl nicht«, murmelte sie, zupfte sich frustriert die Nadeln aus dem Haar und legte sie zurück in die Schublade.

Es klopfte an ihrer Tür und Rebekka streckte den Kopf herein. »Bist du fertig? Wir müssen los, das Dinner beginnt jeden Moment.«

Überrascht wandte Lilith sich um, denn eigentlich hatte sie erwartet, dass Rebekka wie üblich als Letzte fertig sein würde. Dieses Essen schien ihr wirklich wichtig zu sein.

»Ich komme gleich, ich muss mir nur noch schnell die Haare bürsten.«

Rebekka trat ein und knetete nervös ihre Finger. »Wie sehe ich aus?«

Lilith warf einen Blick über die Schulter. »Sehr schön!«

Rebekka hatte sich für ein kobaltblaues Kleid entschieden, das einen etwas gewagten Ausschnitt hatte, dafür aber wunderbar die Farbe ihrer Augen unterstrich. Ausnahmsweise hatte sie sich nur dezent geschminkt, was ihre Gesichtszüge sehr viel weicher erscheinen ließ.

»Also ich bin so weit!« Strychnin kam mit dunkelroten Lippen aus dem angrenzenden Badezimmer, in der Hand einen Lippenstift schwenkend. »Was meint ihr, ist das meine Farbe? Die haben hier für ihre Gäste bestimmt fünfzehn Stück zur Auswahl, da fällt die Entscheidung natürlich schwer. Geschmacklich sind sie jedenfalls köstlich.« Er biss den Rest des Lippenstifts ab und kaute genüsslich.

»Du willst ihn doch nicht etwa mitnehmen?«, fragte Rebekka fassungslos. »Die führenden Persönlichkeiten Chavaleens werden anwesend sein und dein Dämon ist alles andere als gesellschaftsfähig.«

»Ich habe keine andere Wahl«, gestand Lilith ihr kleinlaut. »Wenn er mich begleitet, habe ich ihn wenigstens ein bisschen unter Kontrolle.« Sie legte die Bürste zurück. »Gut, gehen wir! Hast du Matt Bescheid gesagt?«

»Den willst du auch noch mitnehmen?«, fragte Rebekka händeringend. »Aber er ist ein völlig unwichtiger Sterblicher! Matt hat bei diesem Essen nichts verloren.«

Lilith kniff verärgert die Lippen zusammen, während sie an Rebekka vorbei in den Flur marschierte. »Natürlich kommt er mit! Er ist genauso ein Gast von André wie wir und ich lasse ihn heute Abend bestimmt nicht alleine in seinem Zimmer sitzen.«

»Ach, mach doch, was du willst!«, zischte sie. »Aber für das, was heute Abend geschieht, übernehme ich keine Verantwortung.« Rebekka drehte auf dem Absatz um und ließ sie einfach stehen.

»Die ist wohl sauer«, murmelte Lilith. Schulterzuckend wandte sie sich um und klopfte an Matts Zimmertür, vernahm jedoch keine Antwort. Als sie trotzdem eintrat, fand sie ihn mit hängenden Schultern auf dem Bett sitzen und gedankenverloren mit seinem iPod herumspielen. Auch er hatte sich aus dem Kleiderfundus seines Schrankes bedient und trug nun ein schwarzes Seidenhemd mit einer dazu passenden Stoffhose, was ihm beides ausgesprochen gut stand.

Sie setzte sich neben ihn aufs Bett, woraufhin er erschrocken zusammenfuhr und sich die Ohrstöpsel herauszog. »Meine Güte, willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme?«

»Ich habe geklopft, aber du hast mich nicht gehört. Ist irgendwas mit dir?«, fragte sie stirnrunzelnd.

»Nö, nö«, wiegelte er ab. Leider hatte er seine Gesichtszüge nicht ganz so gut trainiert wie André und die Lüge war ihm sofort anzusehen.

»Das kannst du jemand anderem erzählen, los, raus mit der Sprache!«

»Ich … ich frage mich nur, was ich hier eigentlich mache«, erzählte er stockend. »Ich dachte, dieser Ausflug nach Chavaleen wird ein tolles Abenteuer und eine Erfahrung, die ich nie vergessen werde, aber jetzt, wo ich hier bin, komme ich mir so fehl am Platz vor.«

»Aber warum denn?«

»André hat selbst gesagt, dass Menschen bei ihnen eigentlich nicht erwünscht sind, und auch Nikolai wurde so komisch, als er bemerkte, dass ich ein Mensch bin. Wenn ich beim Dinner die anderen Vampire treffe, wird das bestimmt nicht anders. Wenn ich Pech habe, trinken sie mein Blut zum Abendessen und ab morgen friste ich mein Dasein als Vampir.«

»Falls dich das beruhigt: Menschen können nicht verwandelt werden, als Vampir wird man geboren. Es ist wie eine Erbkrankheit, quasi eine extreme Form der Anämie.«

Matt lachte freudlos auf. »Siehst du, ich kann mich nicht einmal zu einem Vampir wandeln, ich bin und bleibe nur ein Mensch, der eigentlich nichts in eurer Welt verloren hat.« Er blickte sie mit ernster Miene an. »Weißt du, meine Mutter sagt immer, in ihren Romanen sei die Lebenserwartung jeder Figur von Anfang an vorherbestimmt, sogar die Reihenfolge ihres Todes. Als Erstes erwischt es meistens den namenlosen Hilfsträger oder einen unwichtigen Wissenschaftler.«

»Und du meinst, das ist in der Realität genauso?«

»Ich weiß nicht, ich frage mich nur, was für eine Rolle ich spiele.« Er zog verunsichert die Schultern in die Höhe. »Ich bin kein Nocturi, kein Vampir und besitze keine übernatürlichen Fähigkeiten. Vielleicht bin ich nur der nette, schwächliche Trottel, der als Nächstes sterben wird?«

»Also erstens muss hier überhaupt niemand sterben«, widersprach sie im Brustton der Überzeugung, »und zweitens nimmst du nicht die Rolle eines schwächlichen Trottels ein. Erinnerst du dich noch an die Nacht im Kindermoor mit Belial?«

»Wie könnte ich die vergessen?« Er setzte ein schiefes Lächeln auf. »Es war das erste Mal, dass ich einem Erzdämon die Haare ausgerissen habe.«

Liliths Blick fiel neben sich auf die Bettdecke, wo ihre Hand fast Matts berührte. Am liebsten hätte sie diese scheinbar so geringe Entfernung überwunden oder wenigstens ihr Gewicht verlagert, sodass ihre Finger aneinanderstoßen würden. Aber etwas hielt sie zurück – der Gedanke an Emma. Sie räusperte sich und fuhr fort: »Du hast damals selbst gesagt, dass du mir wie ein echter Held erst in letzter Sekunde zu Hilfe gekommen bist, als die Gefahr am größten war. Damit hast du großen Mut bewiesen, und seither warst du immer an meiner Seite, wenn es brenzlig wurde. Natürlich kann ich verstehen, wenn du nicht hierbleiben willst, weil es dir zu gefährlich ist, und ich möchte auch nicht, dass du dich unwohl fühlst. Aber du solltest wissen, dass ich froh wäre, wenn du bleibst. Ich brauche dich nämlich.«

Matt warf ihr einen zweifelnden Blick zu. »Du brauchst mich? Wozu denn?«

»Zum Beispiel um mir gegen meine böse Tante Rebekka beizustehen«, erwiderte sie inbrünstig. »Außerdem brauche ich jemanden, dem ich meine immens wichtigen Gedanken mitteilen kann.«

»Und was für immens wichtige Gedanken wären das?«

Lilith sah ein leichtes Schmunzeln auf seinen Lippen liegen. Was seine Frage betraf, musste sie nicht lange überlegen, denn diese Sache beschäftigte sie seit dem Gespräch mit André und Nikolai. »Ich frage mich, ob wir Vadims Halluzinationen nicht ernster nehmen sollten. Ein Herrscher der Vampire könnte genügend und sogar berechtigte Gründe finden, einen Verfolgungswahn zu entwickeln, doch Vadim kommt auf die völlig abwegige Idee, das Todesmal und einen wartenden Sensenmann zu sehen, obwohl er vorher noch nie Anzeichen von Wahnsinn gezeigt hat. Vielleicht ist es doch eine Art Zauber und ihm trachtet jemand nach dem Leben.«

»Ein interessanter Gedanke«, stimmte Matt ihr zu. »Allerdings stellt sich dann die Frage nach dem möglichen Motiv. Wahrscheinlich hörst du das nicht gerne, aber mir fällt nur einer ein, der von Vadims Tod profitieren würde: André.«

Lilith wandte ihm erstaunt den Kopf zu. »Warum sollte ich das nicht gerne hören?«

»Nun ja, du scheinst André sehr zu mögen«, sagte er in seltsam bedeutungsvollem Tonfall.

»Natürlich, wieso auch nicht?«, gab sie irritiert zurück. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass er etwas mit der Krankheit seines Vaters zu tun hat, aber wir dürfen niemanden ausschließen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Vadim tatsächlich verrückt geworden ist, aber wir sollten trotzdem die Augen offen halten. Vielleicht entdecken wir in Vadims näherer Umgebung jemanden, der ebenfalls ein Motiv hätte.«

»Dazu brauchen wir aber mehr Informationen über die anderen Adelsfamilien.« Matts Gesicht hellte sich auf. »Die zufällig alle gerade auf dem Weg zu einem Dinner sind. Hast du auch schon so großen Hunger wie ich?« Er stand auf und hielt ihr gentlemanlike den Arm hin. »Darf ich bitten, Mylady?«

Lilith zog ihr Kleid über dem Knie in die Breite und deutete einen Knicks an. »Sehr gerne, Mylord!«

Sie schritten gemeinsam zur Tür und Lilith hatte dabei das Gefühl, wie auf Wolken zu schweben. Wenn Matt seine Meinung wegen des Dinners geändert hatte, bedeutete das nicht, dass er hierbleiben wollte?

»Sollen wir bei Rebekka klopfen?«, fragte er. »Es besteht immerhin eine geringe Chance, dass sie schon fertig ist.«

»Du wirst es nicht glauben, sie ist schon dort! Anscheinend konnte sie es kaum erwarten hinzukommen.«

»Ich glaube, ich weiß, warum.«

»Ich auch«, knurrte Lilith. »Weil sie im Mittelpunkt stehen möchte!«

»Das ist sicher nicht der einzige Grund.« Matt schüttelte amüsiert den Kopf und blickte sich um. »Wo ist eigentlich Strychnin?«

Lilith stöhnte auf, ihren kleinen Dämon hatte sie völlig vergessen. »STRYCHNIN?«, brüllte sie ganz undamenhaft. »Wo steckst du schon wieder?«

»Ich komme, Eure Ladyschaft!« Er robbte unter dem Bett hervor, eine Staubfluse klebte ihm auf der Wange und in der Hand hielt er Matts iPod, den er unbemerkt entwendet hatte. Aus eigener Erfahrung wusste Lilith, dass ein Ohrstöpsel, der einmal in Kontakt mit seinem Ohrenschmalz gekommen war, für den Rest der Welt unbrauchbar geworden war.

Strychnin watschelte hinter ihnen her und brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig rhythmisch mit den Hüften zu wackeln. »Love is in the air, o-o-oh«, sang er verzückt.

Matt wurde knallrot im Gesicht, während sie den Korridor entlangliefen. »Das ist nicht der Song, den ich vorhin gehört habe, ich schwöre! Meine Mutter hat einige ihrer alten Lieder aufgespielt, weil sie sich den Player manchmal ausleiht.«

»Aha«, gab Lilith gespielt ungläubig zurück, woraufhin Matt ihr einen freundschaftlichen Schubs versetzte. Sie war wirklich froh, dass er – wenigstens fürs Erste – bei ihr bleiben würde.

Im Salon standen die Vampire mit Gläsern in der Hand beieinander und unterhielten sich in gedämpftem Ton, während ein Streichquartett in der Ecke für die passende Hintergrundmusik sorgte. Tatsächlich war die Zahl der Gäste überschaubar, denn es waren nur etwa ein Dutzend Leute anwesend. André saß auf einem Sofa und war so sehr in ein Gespräch mit Rebekka vertieft, dass er Liliths und Matts Ankunft nicht einmal bemerkte. Auch er hatte sich mittlerweile umgezogen, wahrscheinlich war ihm die farbenfrohe Kleidung Chavaleens an der Oberfläche zu auffällig gewesen. Aurel hatte es sich auf Rebekkas Schoß gemütlich gemacht und Rebekka streichelte ihn mit stolzer Miene, was dieser sichtlich genoss. Die Auswahlkriterien, aufgrund derer Katzen einem Menschen ihre Gunst gewährten, waren Lilith absolut schleierhaft.

Hinter einer Bar entdeckte sie Igor, und da Lilith unbedingt etwas mit ihm besprechen wollte, sagte sie zu Matt: »Ich hol uns schnell etwas zu trinken!«

Sie trat vor den Tresen und betrachtete skeptisch die lange Reihe von Flaschen, die sich an der verspiegelten Wand aneinanderreihten.

»Darf ich Ihnen einen Aperitif anbieten, junge Dame?«, fragte Igor.

»Haben Sie auch etwas ohne Alkohol?«

»Wie wäre es mit einem Eistee aus eigener Herstellung? Das Rezept ist von meinem Großvater und als Geheimzutat füge ich einen Sud aus rumänischen Tannennadeln hinzu.«

»Das klingt interessant«, gab sie zaghaft zurück. »Machen Sie mir bitte zwei Gläser.«

»Sehr wohl!« Mit zittriger Hand schenkte er eine grünliche Flüssigkeit in ein Kristallglas.

»Igor, ich muss Ihnen ein Geständnis machen.« Sie beugte sich so weit wie möglich über den Tresen und flüsterte: »Die Sache ist mir etwas unangenehm: Im schwarzen Sofa in Vadims Salon ist ein Schlitz, für den ich die Verantwortung übernehmen muss.«

Er blinzelte sie verständnislos an. »Was für ein Witz, junge Dame?«

»Nein, kein Witz.« Sie sah sich nervös nach den anderen Gästen um. »Ein Schlitz.«

»Wie Sie wünschen!« Igor nickte ergeben. »Gehen ein Vampir, ein Kraghul und ein Grottenolm durch einen Tunnel, fragt der Grottenolm: ›Na, habt ihr auch so einen Kohldampf?‹, worauf der Kraghul …«

»Schon gut, schon gut!« Lilith winkte ab und nahm die Gläser entgegen. »Danke, Igor.«

Sie ging zurück zu Matt, der sich gerade mit Nikolai unterhielt, und tröstete sich damit, dass die Alexandrescus momentan größere Sorgen hatten als ein aufgeschlitztes Sofa. Abgesehen davon schienen sie nicht unter Geldsorgen zu leiden, ganz im Gegensatz zu den Nocturi, die seltsamerweise immer knapp bei Kasse waren. Wenn die Vampire das nächste Mal die Magier um Hilfe baten, sollten die Nocturi im Gegenzug vielleicht deren Finanzberater anfordern.

»Einen schönen guten Abend«, begrüßte Nikolai sie. »Ist dein Zimmer zu deiner Zufriedenheit?«

»Natürlich, es ist fantastisch, ihr habt an alles gedacht. Ich glaube, in unseren Gästezimmern in Nightfallcastle werden unsere Besucher höchstens ein paar Handtücher und zahlreiche Spinnennetze als Dekoration vorfinden.«

»Auch Minimalismus hat seinen Charme«, erwiderte er mit taktvollem Lächeln.

Matt probierte den Eistee und verzog angewidert das Gesicht. »Igitt, das schmeckt ja wie ein Saunaaufguss!«

Erschrocken sah er zu Nikolai. »Oh, Entschuldigung, ich wollte nicht unhöflich sein.«

Doch Nikolai stieß ein amüsiertes Lachen aus. »Ich finde, du hast den Geschmack exakt beschrieben. Der Eistee würde ohne Igors Geheimzutat weitaus größeren Anklang finden. Jetzt mache ich euch aber endlich mit einigen Gästen bekannt. Die meisten können es wahrscheinlich kaum erwarten, die Trägerin des Bernstein-Amuletts persönlich kennenzulernen.«

Lilith spürte, wie sich ihr Magen sofort zu einem Klumpen zusammenzog; genau vor solchen Augenblicken fürchtete sie sich. Sie hatte immer das Gefühl, die Leute erwarteten etwas Besonderes von ihr, dass sie etwas außergewöhnlich Kluges oder Bedeutungsvolles von sich gab. Doch schließlich war sie in Wahrheit niemand Besonderes, nur Lilith Parker. Wo war eigentlich Rebekka, wenn man sie brauchte?

»Afina!«, rief Nikolai einer älteren, äußerst hageren Frau zu, die mit leerem Teller und gerunzelter Stirn an einem Tisch mit Appetithäppchen stand. »Darf ich dich mit Lilith und Matt aus Bonesdale bekannt machen? Lilith ist die Enkelin von Baron Nephelius und die Amulettträgerin der Nocturi«, stellte er sie vor. »Lilith, das ist Baronin Afina Theodosiu. Sie regelt die Belange des Stadtteils Zochat, einem äußerst wichtigen Bezirk Chavaleens, der für die öffentliche Ordnung zuständig ist und in dem sich unsere Ämter und das Gericht befinden.«

Die Baronin musterte sie von oben bis unten, ehe sie Lilith ihre Hand reichte, die nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien. »Angenehm!«, sagte sie mit einer harten, freudlosen Stimme. »Du bist die neue Trägerin des Bernstein-Amuletts?«

»Das stimmt«, gab Lilith zurück. Sie überlegte fieberhaft, was sie als Gegenfrage erwidern konnte, und mit Bedauern musste sie feststellen, dass das Wetter als Gesprächsthema in Chavaleen leider wegfiel.

Doch Liliths knappe Antwort hatte anscheinend ausgereicht, um das Missfallen der Baronin zu erregen. Denn diese zog nun pikiert ihre Augenbrauen hoch, die nur aus zwei dünnen Strichen bestanden. »Dann ist das somit dein Dämon, der seine Finger in die Horsd’œuvre bohrt?«

Erst jetzt bemerkte Lilith, dass Strychnin ebenfalls am Tisch stand und ihr mit ein paar russischen Eiern über jedem Finger fröhlich zuwinkte.

Sie schloss gequält die Augen und wünschte sich, im Erdboden zu versinken. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, wenn sie auf Rebekka gehört und Strychnin im Gästezimmer eingesperrt hätte. Auf der anderen Seite, so schaltete sich Liliths durch und durch rationale Stimme ein, würde sie Strychnin im Grunde nicht als ihr persönliches Eigentum bezeichnen, denn er war ein freier, eigenständiger Dämon, oder nicht?

»Nein, der gehört mir nicht«, schwindelte sie absolut wahrheitsgetreu.

»Doch, das tue ich!« Strychnin nickte eifrig. »Ich bin meiner Ladyschaft vom Ohrhaar bis zum Fußpilz treu ergeben. Wir haben sogar gemeinsam gegen den Erzdämon gekämpft!«

»Soso.« Am abschätzigen Blick der Baronin merkte man, dass sie Strychnin nicht nur zutiefst verabscheute, sondern ihm auch kein Wort glaubte. »Du scheinst jedenfalls die gleiche Einstellung zur Wahrheit zu pflegen wie deine Herrin.«

Hilfe suchend sah Lilith zu Matt, der eine wegwerfende Handbewegung machte und ihr aufmunternd zulächelte. Wahrscheinlich wollte er ihr damit signalisieren, dass sie locker bleiben sollte.

»Du solltest nicht so streng urteilen, Afina!«, schaltete sich Nikolai ein. »Schließlich wissen wir alle, wie unberechenbar Dämonen sind, und dieses Exemplar scheint trotz seines Auftretens auch seine guten Seiten zu haben. Wir Vampire heißen auch die Diener unserer Gäste in unseren Hallen immer herzlich willkommen, nicht wahr?« Trotz seines Lächelns spürte Lilith die unterschwellige Ermahnung, die in seinen Worten lag. Die Baronin versteifte sich unwillkürlich und versuchte sich zum ersten Mal an einer freundlichen Miene.

»Natürlich, Nikolai«, erwiderte sie noch förmlicher als zuvor. »Mein Arbeitsgebiet bringt es leider mit sich, dass ich auch im Privatleben zur Strenge neige. Ich bitte, dies zu entschuldigen!« Sie nickte ihnen vornehm zu, legte sich einige Trauben auf ihren Teller und entfernte sich.

Betreten wandte sich Lilith Nikolai zu. »Tut mir leid, das lief wohl nicht so toll.«

»Ich muss mich entschuldigen!«, widersprach ihr Nikolai. »Afina gehört nicht zu den umgänglichsten Frauen und ich hätte euch vorwarnen sollen. Als Nächstes wähle ich jemand Passenderes aus, versprochen!«

Während er sich suchend im Raum umsah, trat Matt neben sie und raunte ihr ins Ohr: »Nun kannst du wenigstens sagen, dass du die schlimmste Begegnung schon hinter dir hast.«

»Hoffentlich!«, seufzte Lilith.

Sie hörte ein Kichern und in Erwartung der nächsten Katastrophe warf sie einen Blick auf Strychnin, neben dem nun ein blasses Mädchen mit langen blonden Locken stand. Sie starrte den Dämon fasziniert an, doch zugleich spiegelte sich in ihren Augen eine unendliche Traurigkeit, von der Lilith ahnte, dass sie das Mädchen Tag und Nacht begleite.

»Willst du ein Ei?« Strychnin wackelte mit seinen Fingern vor ihrem Gesicht herum.

Sie kicherte erneut und nahm sich ein Ei herunter, das sie wie einen Schatz in Händen hielt.

Lilith spürte die besondere Aura, die das Mädchen umgab, und wenn sie nicht mitten unter Vampiren gewesen wäre, hätte sie schwören können, dass dieses Mädchen magische Kräfte besaß.

»Ich kann sogar die Hautfarbe wechseln, willst du mal sehen?«, fragte Strychnin, woraufhin die Kleine begeistert nickte.

»Meine Tochter Elodia scheint deinen Dämon zu mögen«, sagte ein Mann, der dem Mädchen gefolgt war. Seine blonden Haare wirkten zersaust, als habe er vergessen, sich zu kämmen, und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. »Zum ersten Mal seit langer Zeit sehe ich sie lächeln.«

»Oh, Marius, du bist auch hier?«, rief Nikolai überrascht aus. »Ich hatte nicht erwartet, dass ihr unserer Einladung folgt. Wir alle hätten verstanden, wenn ihr nicht gekommen wärt.«

»Danke, Nikolai, aber wie man an Elodia sieht, kann etwas Ablenkung durchaus hilfreich sein.« Er streichelte seiner Tochter, die immer noch verblüfft Strychnins Hautfarbenwechsel beobachtete, liebevoll über den Kopf.

»Der Name Ihrer Tochter ist außergewöhnlich schön!«, bemerkte Matt freundlich. »Hat er etwas mit dem Namen der Höhle Eloda Lasi zu tun?«

»Elodia bedeutet ›kleine Perle‹«, bestätigte der Vater. »Vor Elodias Geburt haben wir uns den Kopf über einen passenden Namen zerbrochen, doch als meine Frau sie zum ersten Mal in Händen hielt, wusste sie sofort, dass dieses wunderschöne kleine Wesen unsere Perle sein wird.« Seine Stimme hatte zu zittern begonnen und er flüchtete sich in ein lang gezogenes Räuspern. »Schön, dass dir der Name gefällt …« Er sah Matt fragend an und Nikolai erinnerte sich wieder an seine Pflichten als Gastgeber.

»Entschuldigt, Lilith, Matt, das ist Marius Stefanescu! Er regelt die Belange des Stadtteils Ravenna, einem äußerst wichtigen Bezirk Chavaleens, der für die Lebensmittelversorgung zuständig ist. Seine Frau Valeria ist bedauerlicherweise diejenige, die kürzlich von den Vanator …« Er brach ab und schluckte schwer.

»Getötet wurde«, beendete Marius tonlos den Satz. »Es war ein großer Schock für uns alle, doch am meisten hat es Elodia getroffen. Seit dem Tod ihrer Mutter spricht sie nicht mehr.«

»Das tut mir leid«, sagte Lilith ehrlich betroffen. Sie erinnerte sich, wie sie vor ein paar Wochen von dem schrecklichen Mord erfahren hatte, und schon damals hatte sie kalte Wut auf die Vanator erfasst. Nun jedoch vor ihrem trauernden Kind und Ehemann zu stehen, gab dem Ganzen eine viel realere Bedeutung, die kaum zu ertragen war.

Lilith ging in die Knie, um mit Elodia auf Augenhöhe zu sein. »Der Dämon mit den Eierfingern ist Strychnin und ich bin Lilith aus Bonesdale. Es freut mich, dich kennenzulernen!«

Elodia blickte sie aus großen Augen an und nur ihr schüchternes Lächeln verriet, dass sie Lilith verstanden hatte. Ihr Blick fiel auf das Bernstein-Amulett um Liliths Hals und sie streckte zaghaft eine Hand danach aus, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne.

»Es leuchtet wie eine kleine Sonne, nicht?« Lilith öffnete den Verschluss und hielt die Kette in die Höhe, sodass Elodia den Bernstein besser sehen konnte. »Das Amulett hat mich vor fast einem Jahr zur Führerin der Nocturi erwählt und ich bin schon lange auf der Suche nach einer Assistentin. Möchtest du es einmal anlegen, um mich ein bisschen zu entlasten?«

Elodia sog vor Begeisterung laut die Luft ein und warf einen flehentlichen Blick zu ihrem Vater.

»Wenn dich die Trägerin des Bernstein-Amuletts darum bittet, kannst du natürlich nicht ablehnen«, meinte Marius schmunzelnd.

Elodia schob ihre Locken beiseite und Lilith legte ihr die Kette feierlich um den Hals, hielt die beiden Enden jedoch hinten zusammen. Zwar wusste sie aus eigener Erfahrung, dass der magische Verschluss sich erst nach einigen Tagen aktivierte, doch sie wollte kein Risiko eingehen. Abgesehen davon verhinderte ihre Berührung, dass das Licht des Bernsteins erlosch. Voller Ehrfurcht strich Elodia über das Amulett und formte mit dem Mund ein stummes »Oh«.

»Es steht dir sogar besser als mir«, meinte Lilith anerkennend. »Es passt perfekt zu deinem blonden Haar, du gibst eine bildschöne Assistentin ab.«

Das Mädchen strahlte sie an und für einen Augenblick schien sogar die Traurigkeit in ihren Augen verschwunden.

»Elodia, bedankst du dich bei Lilith?«, bat ihr Vater sie. »Es ist eine große Ehre, ein Amulett der Vier tragen zu dürfen, so etwas geschieht nicht oft.«

Die Kleine nickte eifrig, trat näher und Lilith wollte ihr schon die Hand entgegenstrecken, doch stattdessen schlang Elodia ihre dünnen Arme um Liliths Hals. Gerührt streichelte Lilith ihr über den Rücken und ertappte sich bei dem Gedanken, dass es schön gewesen wäre, eine kleine Schwester wie sie zu haben. In diesem Moment spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Elodias Körper wurde unter ihren Händen stocksteif und Krämpfe durchzuckten ihn. Lilith schob sie von sich und geschockt stellte sie fest, dass sich der Gesichtsausdruck des Mädchens vollkommen verändert hatte. Ihre Lippen waren fest zusammengepresst und die Augen verdreht, bis nur noch das Weiß zu sehen war. Die Magie, die von ihr ausging, war so intensiv, dass sich Liliths Nackenhaare aufstellten.

»Was hat sie?«, rief sie erschrocken. Lilith packte sie an der Schulter, um sie zu stützen. War sie etwa schuld an Elodias Zustand? Ehe das Mädchen ihr zu nahe gekommen war, ging es ihr blendend. Hatte Lilith unbewusst irgendwelche Dämonenkräfte angewandt? Natürlich, durchfuhr es sie bitter, sie war schließlich ein Monster! In ihr lauerte das pure Böse und Lilith hatte keine Ahnung, wie sie es kontrollieren konnte …

Marius trat neben sie, nahm Elodia in seine Arme und hob sie hoch. Doch anstatt bestürzt zu sein oder Lilith Vorwürfe zu machen, warf er ihr einen beruhigenden Blick zu.

»Keine Sorge, sie hat nur eine Vision, das geschieht oft beim ersten körperlichen Kontakt mit Fremden.« Er bettete Elodia auf das nächstgelegene Sofa und augenblicklich ließen ihre Zuckungen nach. »Sie ist eine Seherin und seit dem Tod ihrer Mutter hat sich ihre Gabe verstärkt, denn übermächtige Emotionen wie Trauer fördern die seherischen Kräfte. Du kannst nichts dafür, Lilith! Auch wenn eine Vision qualvoll zu sein scheint, kann ich dir versichern, dass Elodia dabei nicht leidet. Wenn sie wieder aufwacht, wird sie nur etwas erschöpft sein.«

Obwohl Elodia nun völlig entspannt auf dem Sofa lag und zu schlafen schien, steckte Lilith der Schreck noch tief in den Gliedern. Sie sank auf einen Stuhl, beugte sich vor und fuhr sich mit zittrigen Fingern durch die Haare. Immerhin konnte sie sich damit trösten, dass ihre dämonische Seite weiterhin unentdeckt bleiben würde, denn gerade hatte sie erleben müssen, wie schnell sie an sich selbst zu zweifeln begann. Sie konnte gut darauf verzichten, dieses Misstrauen beim nächsten mysteriösen Vorfall auch noch in den Augen anderer ablesen zu müssen.

»Ich … ich dachte, Vampire besitzen keine magische Begabung?«, stammelte sie verwirrt.

»Tun wir auch nicht, doch selbst in Chavaleen gibt es Mischehen zwischen Vampiren und magisch begabten Wesen. Genau wie in unserer Familie, aber leider hat mich die Gabe übersprungen. Anders als meine Mutter sieht Elodia nur für eine kurze Zeitspanne in die Zukunft und meist sind es lediglich unscharfe Bildfragmente, viel öfter handeln Elodias Visionen von der Vergangenheit des Menschen, den sie berührt hat. Ein Erlebnis, das denjenigen außergewöhnlich aufgewühlt hat und ihn nach wie vor verfolgt.«

»Oh«, entfuhr es ihr unheilschwanger. »Aber da sie nicht spricht, werde ich wahrscheinlich nie von ihrer Vision erfahren.«

Die Erleichterung darüber war Lilith deutlich anzuhören.

»Schon vor dem Tod ihrer Mutter hat Elodia ihre Visionen immer nur gezeichnet«, entgegnete Marius. »Elodia meint, es sei leichter, sie zu malen, als in Worte zu fassen. Wenn dich ihre Vision interessiert, kann ich dir ihr Bild gerne zukommen lassen, sobald es fertig ist. Sie zeichnet für ihr Alter ausgesprochen gut.«

Lilith schluckte schwer und nickte mechanisch. »Gerne, das wäre sehr nett.«

»Aber Elodia ist nicht einmal annähernd dreizehn Jahre alt«, schaltete sich Matt ein, der neben Lilith getreten war. »Wie kann sie schon jetzt so starke Fähigkeiten besitzen?«

»Ihre Urgroßmutter war eine Moiraja«, erklärte Marius. »Sie zählen zu den Schicksalsfeen und tragen kaum menschliche Gene in sich, weswegen sie der Altersgrenze der Nocturi nicht unterworfen sind. Entweder sie haben die Kräfte schon bei der Geburt oder überhaupt nicht.«

Nikolai nippte an seinem Rotwein und nickte zustimmend, während das Streichquartett im Hintergrund Bartóks rumänische Volkstänze anstimmte. »Darüber hat Baron Nephelius übrigens eine wissenschaftliche Abhandlung geschrieben, auf der seine Forderung nach reinblütigen Ehebündnissen beruhte. Im Rahmen meiner Studien der vampirischen Abstammungsforschung habe ich mich auch mit dieser These befasst. Der Baron vertrat die Meinung, dass die Nocturi ehemals von den reinmagischen Wesen wie beispielsweise den Moiraja abstammten. Schon damals Arten von verschwindend geringer Population, die mittlerweile gänzlich ausgestorben sind. Laut dem Baron wurden die Fähigkeiten der Nocturi im Laufe der Jahrhunderte immer schwächer, weil sie sich mit Socor oder sogar Menschen verbunden haben. Eine Verwässerung unseres hochwertigen Blutes mit dem Dreck der Unwürdigen muss vermieden werden, um die Zukunft der Nocturi zu sichern«, verkündete er, und als er Matts empörten Blick auffing, hob er sofort entschuldigend die Hand. »Pardon, das war nur ein Zitat aus seinem Werk. Auch wenn ich dem Baron aus wissenschaftlicher Sicht grundsätzlich recht gebe, lag es mir fern, Anwesende zu beleidigen.«

Missmutig presste Lilith ihre Lippen aufeinander. Nicht einmal hier, weit entfernt von Bonesdale und tief unter der Erde, war man vor den Rassentheorien ihres Großvaters sicher. Hoffentlich erwartete Nikolai nicht von ihr, dass sie sich dazu äußerte, denn Lilith fand die Einstellung ihres Großvaters nicht nur verabscheuungswürdig, sondern auch heuchlerisch. Die Existenz Rebekkas zeugte schließlich davon, wie wenig sich der Baron an seine eigenen Regeln gehalten hatte.

Mittlerweile war Elodia wieder zu sich gekommen und rieb sich müde über die Augen. Wie ihr Vater vorhergesagt hatte, schien sie die Vision problemlos verkraftet zu haben, und zu Liliths grenzenloser Beruhigung starrte das kleine Mädchen sie auch nicht angsterfüllt an. Sie wagte zu hoffen, dass Elodia doch nicht das gesehen hatte, was sie insgeheim befürchtete …

»Geht es dir gut, mein Schatz?«, fragte Marius und als Antwort kuschelte Elodia sich in seinen Arm.

»Ich denke, es wäre besser, wenn ich sie nach Hause bringe«, meinte er mit entschuldigender Miene. »Ich hoffe, ihr nehmt es uns nicht übel, wenn wir den Empfang schon wieder verlassen?«

»Natürlich nicht«, versicherte Nikolai ihm. »Das Wohl deiner Tochter steht an erster Stelle! So entgeht ihr Glücklichen wenigstens Igors Abendessen. Apropos: Lilith, Matt, wir sollten uns so langsam zu Tisch begeben!«

Sie verabschiedeten sich voneinander, Strychnin schenkte Elodia für den Heimweg ein weiteres Ei, und gerade als Nikolai sie zum angrenzenden Speisezimmer führen wollte, stellte sich ihnen ein bulliger Mann mit kurz geschorenen rotblonden Haaren in den Weg. Er trug eine graue Uniform und an seinem Gürtel hatte er mehrere, gefährlich aussehende Waffen befestigt.

Irritiert fragte sich Lilith, wozu dieser Mann mitten in Chavaleen einen Elektroschocker und eine Peitsche gebrauchen konnte.

»Gibt es bei euch irgendwelche Probleme?«, bellte er mit mürrischer Stimme. Seine Augenbrauen und Wimpern waren von einem so farblosen Blond, dass sie fast nicht vorhanden schienen. »Igor erwartet uns zum Essen, er hat schon zwei Mal zu Tisch gebeten.«

Tatsächlich hatten sich die restlichen Gäste bereits im Speisezimmer eingefunden. André und Rebekka waren wohl zu beschäftigt gewesen, um an Matt, Lilith und Nikolai zu denken …

»Wir wollten euch nicht warten lassen, Razvan!« Zwar hatte Lilith Nikolai erst vor wenigen Stunden kennengelernt, doch sie glaubte, in seiner Miene eine gewisse Abneigung Razvan gegenüber ablesen zu können. »Wir müssen Igor überhört haben, weil wir durch eine Vision Elodias in Atem gehalten wurden. Darf ich dich mit Lilith und Matt bekannt machen? Das ist Graf Razvan Vondru, unser Großonkel. Solange André oder ich keine Kinder haben, steht er an dritter Stelle in der Erbfolge der Regentenfamilie und regelt die Belange des Stadtteils Roskov, einem äußerst wichtigen Stadtteil Chavaleens, der für die Verteidigung zuständig ist.«

Innerlich schmunzelte Lilith, während sie Razvans höfliches Kopfnicken erwiderte. Ihr war nicht entgangen, dass Nikolai jeden der bisherigen Stadtteile als »äußerst wichtig« bezeichnet hatte, was wohl für seine diplomatischen Fähigkeiten sprach.

»Sehr erfreut!«, sagte der Graf in einem Tonfall, der seine Worte Lügen strafte. »Ich hoffe, dass sich während eures Aufenthalts die Gelegenheit für ein Gespräch ergibt, denn ich wollte schon lange die Verantwortlichen aus Bonesdale darüber informieren, dass meiner Meinung nach die Sicherheitseinrichtungen um das Schattenportal geradezu lächerlich unzureichend sind. Und wie man hört, scheint den Nocturi sehr daran gelegen zu sein, die Dämonen fernzuhalten.«

Lilith runzelte die Stirn und fragte sich, wie Razvan seine letzte Bemerkung gemeint haben mochte. War es ihm etwa gleichgültig, ob die Dämonen in ihre Welt eindringen konnten? Doch gerade als sie nachhaken wollte, begann unvermittelt das Licht zu flackern.

Augenblicklich verstummten die Musik und alle Gespräche, eine unheimliche Stille breitete sich aus und alle starrten auf den großen Kronleuchter. In schneller Folge war der Palast von undurchdringlicher Schwärze und dann wieder von goldener Helligkeit erfüllt. Lilith sah besorgt zu Matt, doch sie konnte sein Gesicht nur schemenhaft erkennen. Was hatte das zu bedeuten? Hoffentlich fiel das Licht nicht komplett aus, denn der Gedanke, so tief unter der Erde in völliger Dunkelheit sitzen zu müssen, behagte ihr ganz und gar nicht. Beiläufig wischte sich Lilith einen merkwürdig schleimigen Tropfen vom Arm und blickte wieder zum flackernden Kronleuchter.

»Partieller Stromausfall.« Razvans abgehackte Art zu sprechen passte sich fast perfekt dem zuckenden Lichtschein an. »Das geschieht häufig, denn wir erzeugen unseren Strom selbst, um unabhängig zu sein. In der Regel ist das Problem aber schnell behoben.«

»Ausgenommen von den paar Malen, an denen wir mehrere Tage ohne Strom auskommen mussten«, murmelte Nikolai bitter.

Schon wieder traf Lilith ein Tropfen, dieses Mal auf der Wange. Es war ein zäher Faden, den sie sich angewidert abwischte. Sie legte den Kopf in den Nacken, und was sie über sich an der Decke sitzen sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Wie eine monströse Fliege klebte dort oben ein menschengroßes Vieh mit einem bleichen, haarlosen Körper und spitzen Hörnern auf der Stirn. Sein Schwanz schwang wie eine Peitsche hin und her, es hatte den Kopf verdreht und fixierte Lilith mit weit aufgerissenem Maul, aus dem lange Speichelfäden tropften. Dies und die angespannte Körperhaltung ließen keinen Zweifel daran, dass diese Bestie Lilith zu ihrer nächsten Mahlzeit auserkoren hatte. Ihr entwich ein spitzer Schrei, gerade als das Flackern abebbte und die Stromversorgung wiederhergestellt war.

Nikolai folgte ihrem Blick und wurde kreidebleich im Gesicht. »Razvan!«, rief er wütend aus. »Was sucht dein Kraghul hier? Dieses Vieh hat bei einem Empfang nichts verloren.«

»Dragomir, komm her!«, rief Razvan ungerührt. Das Monster gehorchte und huschte mithilfe seiner langen Krallen über die Decke, die Wände hinab und zu seinem Herrn. Unwillkürlich wichen Lilith und Matt zurück, während sich Strychnin kreischend hinter das nächste Sofa flüchtete. Ihre Vorsicht schien jedoch begründet zu sein, denn auch Nikolai trat einen respektvollen Schritt beiseite. Dort, wo die Augen des Kraghuls hätten sein sollen, prangten nur mit schwarzem Nebel gefüllte Löcher und seine graue wächserne Haut war mit walnussgroßen Beulen übersät. Zuerst glaubte Lilith, sie hätte sich getäuscht, doch einige der Beulen schienen sich tatsächlich zu bewegen; eine lief dem Kraghul sogar geradewegs über das Gesicht und schnurstracks seinen Hals hinunter. Irgendetwas Lebendiges hatte sich offenbar ins Innere des Kraghuls gegraben.

»Was ist denn das, um Himmels willen?«, spie Matt angeekelt aus.

Der Graf nahm eine eiserne Kette von seinem Gürtel und befestigte sie an dem Eisenband, das der Kraghul um den Hals trug. Dies schien dem Monster nicht besonders zu gefallen, denn nun fletschte es seine spitzen Zähne, grub seine Krallen in den Marmorboden und fauchte aggressiv.

»Du hättest Dragomir nicht mitbringen dürfen«, sagte Nikolai verärgert. »Sperr ihn sofort weg!«

Razvan winkte ab, anscheinend schien ihn Nikolais Unmut nicht zu kümmern. »Du weißt, dass ich Dragomir unter Kontrolle habe und er mir treu ergeben ist. Seit Jahrhunderten halten sich adlige Vampire wie wir Kraghuls, und gerade in Zeiten wie diesen möchte ich Dragomir an meiner Seite wissen. Du solltest mir dankbar sein, dass ich ihn mitgebracht habe, schließlich weiß man nie, was die Vanator als Nächstes geplant haben!«

Es sah so aus, als ob Nikolai nur mühsam seine Fassung bewahren konnte, und Lilith hoffte insgeheim, dass er Razvan nun kräftig die Meinung sagen würde. Nikolai konnte doch nicht dulden, dass Razvan seinen Wunsch einfach missachtete und sie in Gegenwart dieses unberechenbaren Ungeheuers zu Abend essen mussten?

In diesem Moment kam André aus dem Speisezimmer und erfasste die Situation in Sekundenschnelle. Das freundliche Lächeln gefror in seinem Gesicht und er maß Razvan mit einem so stechenden Blick, wie Lilith ihn noch nie bei ihm gesehen hatte.

»Razvan, du kennst die Regeln unseres Hauses«, sagte er mit kalter Stimme. »Auch wenn mein Vater heute Abend leider unpässlich ist, möchte ich ihm nicht berichten müssen, dass du seine Gastfreundschaft mit Füßen getreten hast. Ich bestehe darauf, dass du deinen Kraghul wegsperrst! Wie du weißt, haben wir im Eingangsbereich eine Kammer, die dafür geeignet ist.«

Der Graf knirschte hörbar mit den Zähnen, wagte jedoch nicht, dem zukünftigen Träger des Blutstein-Amuletts zu widersprechen. »Na schön. Komm, Dragomir!«

Er zerrte unwillig an der Eisenkette und entfernte sich mit dem wild fauchenden Dragomir in Richtung Eingangshalle.

Kaum war er außer Sichtweite, verwandelte sich Andrés Miene wieder in die des freundlichen Gastgebers. »Lilith, Matt, entschuldigt, dass ich mich bis jetzt nicht um euch gekümmert habe. Rebekka und ich waren in ein so anregendes Gespräch vertieft, dass ich völlig die Zeit vergessen habe.«

»Ernsthaft?«, rutschte es Lilith überrascht heraus. Sie hatte mit Rebekka noch nie ein anregendes Gespräch geführt, aber vielleicht hatte sie André auch ganz falsch eingeschätzt und er interessierte sich in Wahrheit für bösartige Intrigen, Nagellackfarben und bauchfreie Tops?

»Zur Wiedergutmachung bringe ich euch nach dem Dinner in eine nette Bar am Hadesboulevard, sie heißt ›Zum Blutbad‹. Dort ist heute Karaokeabend, das wird bestimmt lustig!«, meinte er vergnügt und führte sie zu ihren Plätzen an der lang gezogenen Tafel, während er sie im Vorübergehen den restlichen Gästen vorstellte.

Igor hatte bereits eine grünliche Suppe serviert und Lilith hoffte, dass sie besser schmeckte, als sie aussah. Zwar hatte sie auf ihrem Zimmer ein prall gefüllter Obstkorb erwartet, doch ein Apfel und ein paar Trauben waren nicht gerade magenfüllend.

»Was für ein schreckliches Viech war das eigentlich?«, fragte Matt, während er sich setzte.

André nahm am Kopfende der Tafel Platz, und erst als er seinen Löffel zur Hand nahm, begannen auch die anderen Gäste mit dem Essen. »Früher hielt sich jeder adlige Vampir zu seinem Schutz so ein ›Haustier‹, aber zum Glück sind die Kraghuls völlig aus der Mode gekommen, vor allem weil es so viele Unglücksfälle gab.«

»Unglücksfälle?«, fragte Rebekka, die Lilith gegenübersaß.

»Nun ja, Todesfälle«, gestand André ihr. »Diese Kraghuls sind unglaublich aggressiv und blutgierig, natürlich nicht gegenüber ihrem Herrn, dem sind sie treu ergeben und würden bis zu ihrem letzten Blutstropfen für ihn kämpfen. Doch ansonsten beißen sie alles, was ihnen zu nahe kommt, und es wurden schon einige Bedienstete vom Kraghul ihres Herrn zerfleischt. Für Razvan ist das nur der Beweis, dass diese Bestien die beste Waffe sind, die sich ein hochrangiger Vampir wünschen kann. Dabei hat sich im Laufe der Zeit die Prägung der Kraghuls auf ihren Herrn als großes Problem dargestellt.«

Lilith probierte die Suppe und hatte den unangenehmen Geschmack einer frisch gemähten Wiese auf der Zunge. Melinda und Isadora hatten ihr zwar beigebracht, dass es unhöflich war, eine Mahlzeit unangetastet zu lassen, doch Lilith hatte keine Ahnung, wie sie ihren Teller auch nur zur Hälfte leer bekommen sollte.

Matt erging es wohl ähnlich, denn er spielte auf dem Tisch gedankenverloren mit seinem Löffel und führte lieber die Unterhaltung über die Kraghuls fort: »Wieso wurde die Prägung zu einem Problem?«

»Weil auch ein Vampir irgendwann einmal sterben muss und danach ist der Kraghul ohne einen Herrn, was gleichzeitig bedeutet, dass er nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist. Sie müssen getötet werden, ehe sie in der Bevölkerung ein Blutbad anrichten können.« André hob abwehrend die Hände. »Bitte seht mich nicht so schockiert an. Mein Vater hat schon einen Gesetzesentwurf ausgearbeitet, der die Haltung der Kraghuls endgültig verbietet. Traditionalisten wie Razvan wollen das natürlich verhindern, trotz der Gefahr, die von denjenigen Kraghuls ausgeht, die nach dem Tod ihres Herrn entkommen sind.«

Lilith schnappte nach Luft. »Sie sind in Freiheit?«

André nickte bekümmert und sah reflexartig zum Fenster, das in Richtung des Hadesboulevards zeigte. »Sie sind irgendwo da draußen im Höhlensystem außerhalb Chavaleens. Aber keine Angst, sie können nicht hierhergelangen! Zwar kann man die Stadt trotz des Schutzschildes verlassen, aber es hält jeden Eindringling fern, egal ob Vanator oder Kraghul. Trotzdem können wir froh sein, dass diese Viecher Hybriden sind und sich nicht ohne unser Eingreifen fortpflanzen können.«

Als Razvan wieder mit missmutiger Miene hereinkam und sich setzte, begann Igor gerade die Vorspeise abzuräumen.

»Hat die Suppe nicht geschmeckt, Mylady?«, fragte der Diener bestürzt.

»Doch, natürlich«, beteuerte Lilith und spürte, wie sie bei der Lüge errötete. »Bedauerlicherweise habe ich kaum Hunger. Darf ich fragen, was Sie uns da für eine schmackhafte Suppe serviert haben?«

»Gerstengrassuppe!«, erklärte Igor stolz, anscheinend wurde sein Essen nur selten gelobt. »Es enthält viermal mehr Eisen als Spinat, und wie Sie vielleicht wissen, ist eine eisenhaltige Ernährung der Gesundheit eines Vampirs sehr zuträglich. Ich vertrete sogar die Meinung, dass der Bedarf an frischem Blut erheblich verringert wird.«

»Das sehe ich aber anders«, raunte Matt ihr zu. »Wenn er noch mehr von diesem ungenießbaren Zeug serviert, werde ich als Dessert für die Vampire wahrscheinlich immer verlockender.«

Der Hauptgang wurde serviert, zu Ehren der Gäste eine rumänische Spezialität namens Pastram, die aus geräuchertem Rindfleisch im Paprikamantel bestand, und zu Liliths Erleichterung sogar äußerst lecker war.

»Wie gefällt es dir in Chavaleen, Lilith?«, fragte Tatjana Codrea, eine freundliche ältere Dame, die gemeinsam mit ihrem Mann einen weiteren Stadtteil Chavaleens verwaltete.

»Es ist sehr beeindruckend«, antwortete Lilith ehrlich begeistert. »Offen gestanden hat es mich überrascht, wie modern die Stadt ist und wie aufgeschlossen ihre Bewohner. In Bonesdale steht man technischen Neuerungen eher skeptisch gegenüber, und bevor es dort ein Kino gibt, vergehen wohl noch ein-, zweihundert Jahre.« Sie stieß bedauernd die Luft aus. »Alles in allem geht es bei uns sehr viel verschnarchter zu.«

»Lilith«, rügte Rebekka sie pikiert. Sie wandte sich an Tatjana Codrea. »Sie wollte damit sagen, dass wir in Bonesdale das beschauliche Leben vorziehen.«

»Aber das ist doch nichts für junge Menschen, die voller Leben sind!«, entgegnete Tatjana Codrea inbrünstig und zwinkerte Lilith verständnisvoll zu. »Im Norden Russlands lebt ein weiterer Vampirstamm, den es wegen der Dunkelheit und Kälte dorthin gezogen hat. Ich habe gehört, dass es bei ihnen ebenfalls sehr viel ruhiger zugeht und die einzige Freizeitbeschäftigung darin besteht, fallende Schneeflocken zu zählen. Um nichts in der Welt würde ich dorthin auswandern!«

Baronin Afina Theodosiu, die neben Razvan saß, stocherte in ihrem Essen, das sie in winzige Stücke zerteilt hatte. Anscheinend war sie auf der Suche nach dem Bissen, der am wenigsten Kalorien versprach. »Wie schade, André, dass euer Vater heute Abend nicht anwesend ist«, flötete sie. »Ich hoffe, er ist nicht ernsthaft erkrankt?«

Lilith hätte erwartet, dass André peinlich berührt auf seinen Teller blickte oder sich in ein verschämtes Räuspern flüchtete, doch er hielt dem Blick der Baronin ungerührt stand. »Keine Sorge, Afina, es ist nur ein leichtes Unwohlsein. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde er sicherlich hier an meiner Stelle sitzen, doch er musste sich dem Willen seiner besorgten Söhne beugen. Schließlich wollen Nikolai und ich unseren Vater noch lange Zeit an unserer Seite wissen, genau wie ihr, oder?«

»Natürlich«, entgegnete sie hastig und griff so schnell nach ihrem Weinglas, dass sie es fast umstieß. »Auf Vadim! Möge er noch lange leben.«

Die anderen erhoben ebenfalls ihre Gläser und wiederholten ihren Trinkspruch.

»Und warum, wenn man fragen darf, wurden unsere Gäste aus Bonesdale hergebeten?«, fragte Razvan mürrisch. »Außer diesen ominösen Andeutungen bezüglich des Schutzschildes habe ich bisher nichts zu hören bekommen, obwohl die Verteidigung Chavaleens eigentlich in meinen Bereich fällt.«

»Genau, der Schutzschild!« André nickte ihm versöhnlich zu und machte eine auffordernde Handbewegung zu seinem Bruder. »Nikolai hat sich mit diesem Thema im Rahmen seiner diversen Studien beschäftigt und kann euch sicher besser erklären, worum wir Lilith Parker bitten wollen!«

Sofort verkrampfte sich Lilith und sah mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube zu Nikolai.

Sie hatte nicht einmal die Spur einer Ahnung, was die beiden Brüder geplant hatten und worin ihre Hilfe bestehen sollte.

Nikolai, der seit dem Vorfall mit Razvan ungewöhnlich still gewesen war, rückte seine Brille zurecht und begann zu erklären: »Wie ihr wisst, habe ich mich wegen der zahlreichen Todesfälle ausgiebig mit dem Blutstein-Amulett beschäftigt. Zu meinem großen Bedauern konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen, warum so viele Thronanwärter pulverisiert wurden, doch während meiner Recherchen bin ich auf die Niederschriften der Magier und Weisen gestoßen, die damals die Amulette schufen. Sogar leibhaftige Dämonen aus dem Schattenreich waren an ihrer Herstellung beteiligt, sodass die Amulette meiner Meinung nach viel mehr Zauberkraft in sich tragen, als wir angenommen haben. Man kann durch das Zusammenlegen von nur zwei Amuletten einen mächtigen Zauber wirken beziehungsweise vorhandene Zauber verstärken.«

Razvan zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. »Und wie soll uns das helfen?«

»Wie ihr wisst, ist der Altar, auf dem die vier Amulette beim großen Eid zusammengelegt wurden, in unserem Besitz, und wenn wir Vaters und Liliths Amulett zusammenfügen, sollte sich das positiv auf unseren Schutzschild auswirken. Natürlich müssen wir zusätzlich noch eine Formel sprechen, doch das Amulett der Nocturi dürfte schon allein beim Kontakt mit dem Blutstein-Amulett die Zauber, die ihre Magier in unseren Höhlen ausgesprochen haben, verstärken.«

Razvan schüttelte unwillig den Kopf. »Aber das ist alles reine Theorie, angelesenes Zeug aus deinen staubigen Unterlagen! Wir wissen nicht, was wirklich geschieht, wenn die Amulette zusammengelegt werden, oder? Genauso gut könnte der Schutzschild zusammenbrechen. Wozu sollten wir das Risiko eingehen? Die Vanator irren da draußen im Höhlensystem herum und haben keine Chance, in unsere Stadt einzudringen.«

»Vater und ich hegen großes Vertrauen in Nikolais wissenschaftliche Arbeit«, ergriff André für seinen Bruder Partei. »Ich beneide ihn schon seit jeher für seine Intelligenz und seine scharfe Auffassungsgabe, die sich schon als äußerst hilfreich erwiesen hat. Da Nikolai davon überzeugt ist, dass der bestehende Schutzschild keinen Schaden nehmen wird, vertraue ich ihm und denke, dass wir einen Versuch wagen sollten. Denn je sicherer der Schutzschild ist, umso beruhigter ist die Bevölkerung. Vater und ich wollen alles dafür tun, dass jeder in dieser Stadt unbesorgt zu Bett gehen kann und keine Angst haben muss, im Schlaf von den Vanator getötet zu werden.« Er wandte sich an Lilith. »Aber natürlich werden wir die Zeremonie nur durchführen, wenn du damit einverstanden bist.«

»Selbstverständlich helfen wir den Vampiren!«, entgegnete Rebekka, ehe Lilith etwas erwidern konnte. »Wir sind gekommen, um euch in diesen harten Zeiten als Verbündete zur Seite zu stehen, und wenn wir mit unserem Amulett etwas Gutes bewirken können, umso besser.«

Da, Rebekka hatte es schon wieder getan! Lilith biss sich auf die Lippen und kämpfte mit ihrer aufsteigenden Wut. Das war ihr Amulett und somit allein ihre Entscheidung! Natürlich hätte sie ebenfalls dem Versuch zugestimmt, aber es ärgerte sie, dass Rebekka sie einfach überging.

»… immer das Gleiche, diese verdammten Amulette …«, schnappte sie in diesem Moment eine geflüsterte Unterhaltung von der anderen Tischseite auf, wo Baronin Afina Theodosiu und Graf Razvan Vondru die Köpfe zusammengesteckt hatten.

»Wie bitte?«, fragte Lilith laut, obwohl es wahrscheinlich klüger gewesen wäre, sich nicht einzumischen und die Bemerkung einfach zu ignorieren. »Haben Sie gerade etwas von ›verdammte Amulette‹ gesagt?«

Augenblicklich wurde es still am Tisch und die Baronin fuhr erschrocken herum. Zu Liliths Erstaunen reckte sie dann jedoch ihr Kinn und gestand frei heraus: »Ja, du hast richtig gehört. Ich halte die große Übereinkunft für nicht mehr zeitgemäß und das ist die Meinung vieler hier.«

»Nicht mehr zeitgemäß?«, wiederholte Rebekka verständnislos. Genau wie Lilith schien sie keine Ahnung zu haben, was Afina damit meinte.

»Wir sollten uns nicht vor den Sterblichen verstecken müssen wie verängstigte Ratten«, erklärte Razvan säuerlich. »Vor Jahrhunderten sind sie auf uns aufmerksam geworden, weil die Hexen diesem undankbaren Menschengesocks helfen und ihre Krankheiten heilen wollten, deswegen haben sie sich ihnen offenbart. Damals konnten die Menschen uns verfolgen und viele von uns töten, weil wir getrennt voneinander lebten und es schwer war, Kontakt zueinander aufzunehmen. Doch heute sehen die Dinge anders aus: Heute wären wir auf einen Kampf vorbereitet, wir hätten die Mittel, zu einem Gegenschlag auszuholen. Wir sind vernetzt, können mit jedem Mitglied aus der Welt der Untoten Kontakt aufnehmen, egal wie abgelegen der Ort auch sein mag. Wenn wir alle mobilisieren, sind wir den Menschen mit unseren Fähigkeiten überlegen!«

Von dieser flammenden Rede völlig überrumpelt, starrte Lilith ihn entgeistert an. »Aber wozu denn?«

»Um nicht mehr in dauernder Angst vor Entdeckung leben zu müssen«, rief die Baronin. »Um endlich frei zu sein! Wenn wir uns der Welt offenbaren und nicht mehr an die Geheimhaltung gebunden sind, können wir uns gegen die Vanator verteidigen, ihnen das zurückzahlen, was sie uns angetan haben.«

Nach der heutigen Verfolgungsjagd und nachdem Lilith den Schmerz in Elodias Augen gesehen hatte, konnte ein Teil von ihr sogar den Zorn der Baronin nachvollziehen. Dieser Gefahr jeden Tag aufs Neue ausgeliefert zu sein und diejenigen, die man liebte, durch die Hand der Vanator zu verlieren, zermürbte mit der Zeit wahrscheinlich selbst den friedliebendsten Charakter.

»Euch geht es doch wahrscheinlich nicht anders«, meinte Razvan an Lilith und Rebekka gewandt. »Meine Güte, ihr seid Nocturi, eure Macht verstärkt sich in der Nacht, doch ihr habt euch an den Rhythmus der Menschen angepasst und schlaft, wenn sie schlafen. Das widerspricht eurer Natur! Der Pakt der Vier verdammt euch zu einem Leben, das eure Kräfte reduziert, nur weil ihr Angst vor den schwächlichen Menschen habt. Deswegen ist es meine tiefste Überzeugung, dass wir uns erheben und gegen die Vanator gnadenlos vorgehen sollten, damit wir endlich …«

»Schluss jetzt!«, fiel André ihm unwillig ins Wort. »Ich dulde nicht, dass wir den heutigen Abend mit dieser müßigen Diskussion verschwenden. Lilith und Rebekka sind eure Argumente sicher hinlänglich bekannt, deswegen müssen wir das nicht weiter erörtern.«

»In Bonesdale hat es offen gestanden noch nie eine Diskussion darüber gegeben«, räumte Lilith ein. »Bei uns zweifelt niemand daran, dass ein Leben unentdeckt unter den Menschen die beste Lösung wäre.«

Ein überraschtes Raunen ging durch den Raum, selbst die freundliche Tatjana Codrea blinzelte Lilith mit geöffnetem Mund an. Anscheinend war die Einstellung der Nocturi für alle Anwesenden kaum nachvollziehbar und erst jetzt verstand Lilith die wahre Bedeutung von Andrés Äußerung, als er bei ihrem Telefongespräch meinte, die Stimmung in Chavaleen sei angespannt und es würde sich beruhigend auf das Volk auswirken, wenn ein weiterer Amulettträger anwesend wäre.

Lilith bekam so langsam den Eindruck, dass die Alexandrescus nur noch mit Mühe ihre Stellung halten und die unzufriedenen Vampire jederzeit zu einer Revolution aufrufen konnten.

»Umso mehr bestehe ich darauf, dass wir uns nun einem anderen Gesprächsthema zuwenden, denn einige scheinen vergessen zu haben, dass der Beschluss meines Vaters nicht zur Debatte steht: Wir halten uns an den Pakt der Vier, komme, was da …«

Ein ohrenbetäubendes Donnern lief durch den Palast, Gläser fielen um, der Kronleuchter über ihnen schwankte und die meisten Gäste klammerten sich Halt suchend an der Tischkante fest. An ihren panischen, angstverzerrten Mienen konnte Lilith ablesen, dass das, was gerade geschah, nicht zum normalen Alltag der Vampire gehörte. Alles im Raum, sogar der Fußboden, schien in Bewegung zu sein, und Lilith sah, wie sich an der gegenüberliegenden Wand ein langer Riss bildete.

Rebekka klammerte sich Schutz suchend an André, während Matt reflexartig Liliths Hand ergriff und sie drückte. Genau wie damals auf dem Friedhof spürte sie, wie sich ihr Herzschlag zu beruhigen begann und sich ein fast schon magisches Band zwischen ihnen entfaltete. »Ein Erdbeben?«, fragte sie ihn, doch nicht einmal sie selbst konnte bei dem herrschenden Krach ihre Stimme hören.

Endlich ließen die Erschütterungen nach, der Lärm verebbte und zurück blieb allein das Stöhnen und ehrfürchtige Flüstern der Gäste.

»Alles in Ordnung?«, fragte André, nachdem er sich wieder gefangen hatte. »Ist jemand verletzt?«

»Ja, ich!«, quäkte eine Stimme voller Selbstmitleid. Strychnin kam schwankend auf Lilith zu und hielt sich den Kopf. »Ich war gerade auf der Jagd nach Kat… öhm, Ratten und bin die Treppe runtergefallen.«

Lilith tätschelte mit zittrigen Fingern seinen Rücken. »Das wird schon wieder!«

»War heute eine Sprengung vorgesehen?«, fragte Nikolai an Razvan gewandt.

Der Graf schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ich bin mir absolut sicher! Besonders nicht zu dieser späten Stunde und in direkter Nähe des Nebikon.«

»Die Vanator«, rief André alarmiert und wurde bleich. »Sie sind an unseren Grenzen und versuchen einen Durchbruch!«