GEORGE GERSHWIN

18981937

Der Sohn jüdischer Einwanderer aus Russland führt europäische Klassik und amerikanischen Jazz auf Augenhöhe zusammen und kreiert damit einen neuen mitreißenden Typus von Musik.

Es ist stickig in der Aeolian-Konzerthalle. Die Lüftung ist ausgefallen und einige Zuhörer kämpfen bereits mit dem Schlaf. Nur einer ist so aufgeregt, dass ihm sein eigener Herzschlag wie ein Trommelwirbel in den Ohren klingt: George Gershwin. Gleich ist er dran. Wird es dem jungen Komponisten gelingen, das Publikum noch einmal wachzurütteln? Und wie wird das Orchester mit einer Komposition zurechtkommen, die unter einem solchen Zeitdruck entstanden ist? Einem Stück, das nicht einmal richtig geprobt werden konnte, weil es erst in letzter Minute fertig geworden ist?

Der New Yorker Musiker George Gershwin ist 25 Jahre alt, als ihn Paul Whiteman, der musikalische Leiter der renommierten Aeolian Hall darum bittet, für einen ganz besonderen Konzertabend ein Stück zu schreiben. Gershwin, der gerade ein Broadway-Musical komponiert, lehnt den Auftrag aus Termingründen zunächst ab. Doch Whitemans Programm »Ein Experiment in moderner Musik« klingt so vielversprechend und spannend, dass die Feuilletons der großen New Yorker Zeitungen den 12. Februar 1924 schon vier Wochen vorher erwartungsvoll ankündigen.

George Gershwin ist kein Mann, der Herausforderungen aus dem Weg geht. Im Gegenteil. Schon als Kind hat er seine Kräfte gern ausgetobt und mit 16 Jahren ist er als jüngster »Song Plugger« der Musikgeschichte über den Broadway 6 ( F 4) gezogen. Er kennt sich aus mit dem Vorspielen. Und auch mit dem Komponieren hat er schon Erfahrungen gesammelt und bereits einige erfolgreiche Songs geschrieben. So lässt er sich von Whiteman doch noch überreden und macht sich mit Hochdruck an die Arbeit.

George Gershwin wird am 26. September 1898 als Sohn osteuropäischer Einwanderer in Brooklyn ( A/B 6/7) geboren. Beide Eltern kommen aus St. Petersburg. Gershwins Mutter Rose Bruskin ist die Tochter eines reichen russischen Pelzhändlers, auch die Familie seines Vaters Morris Gershovitz ist wirtschaftlich gut situiert. Antisemitische Pogrome in Osteuropa haben sie wie viele andere zur Flucht gezwungen. Zwei Millionen Juden wandern zwischen 1880 und 1924 nach New York aus. Wie fast alle fremdsprachigen Emigranten ändert auch Morris Gershovitz in der neuen Heimat seinen Namen.

Die Gershwins lassen sich zunächst in Brooklyn nieder, ziehen später aber häufig um, weil Morris eine Restaurant-Kette eröffnet und stets in der Nähe seines Arbeitsplatzes wohnen will. Als weltlich orientierte Juden sind sie frei von orthodoxen Glaubensregeln und passen sich rasch an den amerikanischen Lebensstil an. Als erstes Kind kommt Sohn Ira zur Welt, der später eng mit dem jüngeren George zusammenarbeiten wird.

Beide Brüder sind grundverschieden. Während sich der ruhige Ira in seinen Büchern vergräbt, tobt sich der temperamentvolle George beim Hockey oder Rollschuhfahren aus. In der Schule macht er sich und seinen Lehrern durch undiszipliniertes Verhalten das Leben schwer. Dennoch ist es George, dieser eigenwillige kleine »Schmock«, und nicht der sanftmütige Ira, der schon im zarten Alter von zehn Jahren seine prägende musische Erfahrung macht. Auf dem Schulhof, wo er mit Freunden Ball spielt, hört er eines Tages die Klänge einer Violine. Eine Musik, die ihm durch und durch geht. Ein Junge spielt hinter einem offenen Fenster die Humoreske von Antonín Dvořák. Der achtjährige Maxie Rosenzweig (Max Rosen), der später als Violinist bekannt wird, gilt schon damals als Wunderkind.

ER LERNT AUF DEM KLAVIER DES BRUDERS

George ist so beeindruckt, dass er die Adresse des kleinen Geigenspielers ausfindig macht und ihn zu Hause besucht. Die beiden werden Freunde. Maxie lässt den zwei Jahre älteren George auf seinem Klavier spielen und eröffnet ihm den Zugang zur klassischen Musik. Zwei Jahre später kauft Rose Gershwin für ihren ältesten Sohn Ira ein Klavier. Doch der verliert rasch das Interessen am Üben und überlässt seinem Bruder das Instrument. George nimmt Klavierstunden und macht so gute Fortschritte, dass der Pianist Charles Hambitzer auf ihn aufmerksam wird. Der erfahrene Lehrer erkennt sehr schnell das Potenzial des Jungen und macht ihn nicht nur ihn mit den Klassikern Bach, Beethoven, Liszt und Chopin, sondern auch mit modernen Komponisten wie Ravel und Debussy vertraut.

Zu Hause in der Familie spielt die resolute Rose die erste Geige. Als Prototyp einer jüdischen Mutter, die für ihre Kinder nur das Beste will, besteht sie darauf, dass George eine solide Ausbildung an einer Handelsschule abschließt. Dieser lässt dennoch keine Gelegenheit aus, Musik zu hören, er geht in Klassik-Konzerte, besucht die Jazzclubs in Harlem und die Revuen am Broadway ( F 4). Mit 16 Jahren schmeißt er die Schule und heuert in der Tin Pan Alley an. In der so genannten Blechpfannen-Allee auf der 28th Street residieren Anfang des 20. Jh. die Musikverlage, die die Songs für den Broadway vertreiben. Den Namen prägt ein Journalist des »New York Herald«, der einen Artikel über die New Yorker Musikszene verfasst und nach einer Darbietung auf einem blechernen Klavier süffisant verbreitet, die Melodien hätten wie das Klappern von Blechpfannen geklungen.

Auch George Gershwin macht jetzt also Bratpfannen-Musik. Er arbeitet als »Song Plugger« bei einem Musikverlag und spielt die Noten seines Verlags nicht nur auf der 28th Street vor, sondern klappert auch die Theater, Restaurants und Hotels auf dem Broadway ab. Der alte Indianerpfad, Dreh- und Angelpunkt der Theater- und Musicalszene, verläuft quer durch die Halbinsel Manhattan. Gershwin will den dort auftretenden Musikern die Songbücher seines Verlags schmackhaft machen und lernt dabei berühmte Kollegen wie Irving Caesar, Fred Astaire, Irving Berlin und Jerome Kern kennen.

Nebenbei bildet er sich in Harmonie- und Kompositionslehre weiter. Nach zwei Jahren hat er genug vom Vorspielen fremder Songs und kündigt, um selbst zu komponieren. Die Texte zu seinen Melodien schreibt sein literarisch interessierter Bruder Ira, der schon in der Schule gern gedichtet hat. Ihr erstes gemeinsames Musical »Lady, Be Good!« mit Fred und Adele Astaire in den Hauptrollen wird ein Riesenerfolg. Mitte der 20er-Jahren sind die Gershwin-Brüder auf dem besten Weg, zum führenden Songwriter-Gespann der amerikanischen Unterhaltungsindustrie zu werden.

Die Stimmung in der Aeolian Hall ist mittlerweile noch trüber geworden. Zwei Dutzend Aufführungen haben sich die Konzertgäste inzwischen angehört. Die Zuhörer, darunter die beiden russischen Komponisten Sergej Rachmaninow und Igor Strawinski, sind gelangweilt und enttäuscht. Unruhe macht sich breit. Und nun ist George Gershwin an der Reihe, um das vorletzte Stück vorzutragen. Er gibt sich einen Ruck, betritt die Bühne und setzt sich ans Klavier. Als der Klarinettist mit einem aufheulenden Glissando das Leitmotiv der Symphonie eröffnet, spürt er, wie die Spannung im Publikum wieder steigt. Er atmet tief durch, dann improvisiert er drauf los, lässt sich davontragen vom jazzigen Rhythmus seiner »Rhapsody in Blue«.

»Irgendwann in der Mitte der Aufführung habe ich angefangen zu weinen, als ich wieder zu mir kam, waren wir bereits zehn Notenblätter weiter. Ich kann mich bis heute nicht daran erinnern, was ich in der Zwischenzeit getan habe«, sagt George Gershwin über diesen legendären Abend, Kaum ist der letzte Ton verklungen, da springen die Zuhörer auf. Der ansteckende Rhythmus und die beschwingte Leichtigkeit haben sie schlagartig aus ihrer Lethargie gerissen. Der Abend ist gerettet, das Experiment, Klassik und Jazz auf Augenhöhe miteinander zu verbinden, ist geglückt. Damit ist ein neuer Musikstil entstanden, der aus dem Schatten der europäischen Klassik herausgetreten ist – und George Gershwin wird zu dessen Leitfigur.

SEINE MUSIK IST AMERIKA, WIE ES LEIBT UND LEBT

Am Tag nach der Aufführung rühmt die »New York Times« das »außergewöhnliche Talent« des jungen Komponisten, der mit dieser »höchst originellen Komposition« einen »eigenen, signifikanten Stil« erkennen lasse. Die »Rhapsody in Blue«, diese uramerikanische Jazz-Symphonie, wird bald darauf auch in den großen Konzertsälen von Paris, London, Brüssel und Monte Carlo gespielt und bleibt bis heute ein Publikumsmagnet. Der New Yorker Dirigent Leonard Bernstein, der die Symphonie viele Jahre später mit den New Yorker Philharmonikern aufführt, charakterisiert sie treffend: »Das ist Amerika, wie es leibt und lebt. Seine Menschen, sein Großstadtleben, das George so gut kannte, sein Lebensstil, seine Sehnsüchte, seine Stärke, seine Größe.« Eine ganz besondere Hommage wird der »Rhapsody in Blue« ein halbes Jahrhundert später von Woody Allen zuteil. Der prominente New Yorker Autor, Schauspieler und Regisseur, der selbst ein leidenschaftlicher Jazz-Fan und Klarinettist ist, leitet mit ihr seinen großartigen Schwarz-Weiß-Klassiker »Manhattan« ein.

Nach der »Rhapsody in Blue« schreibt Gershwin ein »Klavierkonzert in F-Dur« für die New Yorker Symphonische Gesellschaft und eine »Zweite Rhapsodie« für Klavier und Orchester. Zusammen mit Ira bringt er 1931 mit »Of Thee I Sing« heraus, die erste Musikkomödie, die einen Pulitzerpreis gewinnt. Andere Werke der Gershwin-Brüder, die auf der Beliebtheitsskala ganz oben stehen, sind »An American in Paris« (1928) und die Folk-Oper »Porgy and Bess« (1935). Sie wird 1959 mit Louis Armstrong und Ella Fitzgerald erfolgreich verfilmt.

1937 ist George Gershwin auf dem Höhepunkt seines Schaffens angelangt. Seine symphonischen Werke haben in das Standardrepertoire der internationalen Konzertsäle Eingang gefunden, seine Broadway-Songs verschaffen ihm immer größeren Ruhm. Doch seine Karriere endet abrupt. Im Juli bricht er in Kalifornien bei der Arbeit zusammen und stirbt kurz darauf im Alter von nur 38 Jahren an einem Gehirntumor.

Gershwins Musik lebt weiter. Die Evergreens »Summertime« und »I Got Plenty o’Nuttin« aus »Porgy and Bess« werden von Stars wie Barbra Streisand, Billy Steward und Janis Joplin interpretiert. Die Folk-Oper wird heute noch am Richard Rodgers Theatre 27 ( J 3) am Broadway aufgeführt. In New York gibt es zwei Gershwin Theater, eines am Broadway 15 ( J 3) und eines in Brooklyn.