Die Romane des Schriftstellerpaares sind eine fantasievolle New-York-Lektüre. Die meisten ihrer Bücher spielen an realen Schauplätzen. Man kann ihnen folgen wie einem Führer.
Ihr Revier ist die Upper West Side von Manhattan: die renommierte Columbia University, der Riverside Park, die Amsterdam Avenue und ihre Querstraßen im Nordwesten des Central Parks ( ▶ K 3/4). Hier spielt sich der Alltag der Literaturstudentin Iris Vegan ab, die gerade aus dem Mittleren Westen nach New York gezogen ist und nun in einem One-Bedroom-Apartment in der 109th Street West lebt.
Tagsüber schreibt Iris in der Butler Library an ihrer Doktorarbeit, nachts liegt sie oft wach, weil die Hitze sie nicht schlafen lässt. Dann lauscht sie den Geräuschen der Stadt oder beobachtet durch ein vergittertes Fenster über dem Luftschacht ihre Nachbarn. Um ihr Studium zu finanzieren, jobbt sie als Kellnerin oder tänzelt als Hausmannequin bei Bloomingdale’s 5 ( ▶ K 5) in einem Overall aus roter Fallschirmseide durch die Abteilungen. Manchmal besucht Iris Restaurants in Chinatown und ärgert sich über ihren Freund Stephan, der sich nicht nur erheblich verspätet, sondern auch noch von hinten anschleicht.
In ihrem 1992 veröffentlichten Roman »Die unsichtbare Frau« schickt die hochattraktive New Yorker Autorin Siri Hustvedt ihre weibliche Hauptfigur durch ein exakt beschriebenes Manhattan, in dem selbst die Namen der Subway-Bahnhöfe genannt werden. »Als der Zug aus der Station Seventy Second-Street herausrumpelt«, küsst der oft etwas distanzierte Stephan seine Freundin. »Es lag Wut in dem Kuss, und für diese kurze Zeit genoss ich meine Macht«, geht Siri Hustvedts Romanfigur Iris in diesem Moment durch den Kopf.
Das Paar hat gerade einen gemeinsamen Bekannten in dessen Dachterrassenwohnung am Broadway 6 ( ▶ F 4) besucht. »Wir blickten über eine andere Landschaft der Stadt – gleißende Teerflächen, geheimnisvolle Stromleitungen, rostige Rohre und merkwürdige kleine Verschläge. Wir waren schlapp vom Essen und redeten wenig.« Eine Stadtimpression, die jeder wiedererkennt, der vom oberen Stock eines Hochhauses über Manhattan schaut. Und ein Hinweis darauf, dass neben den Höhen auch die Untiefen der Stadt und die ihrer Protagonisten ausgelotet werden.
George – so heißt der Bewohner des »weißen, fast leeren Loft« – ist Fotograf. Er und Iris haben sich im Hungarian Pastry Shop auf der Amsterdam Avenue kennengelernt, einem preiswerten Bistro, vor dem man im Sommer draußen sitzen und das Studentenleben beobachten kann. Nachts schleicht er durch die schmalen Straßen und klettert auf Feuerleitern, um, »hinter Mülltonnen versteckt, in der Dunkelheit Fotos zu erbeuten«. Auch von Iris macht George Aufnahmen, darunter ein merkwürdig verhuschtes Porträt, das er zu ihrem Entsetzen in einer Galerie ausstellt. Ebenfalls in der Amsterdam Avenue liegt das Mietshaus mit dem kaputten Aufzug und die mit Bücherregalen vollgestellte Wohnung des verschrobenen Mr. Morning, der die notorisch unter Geldmangel leidende Literaturstudentin mit der rätselhaften Beschreibung von Alltagsgegenständen beauftragt.
Neben dem Wiedererkennungswert der geschilderten Schauplätze wirkt auch die Biographie der Iris Vegan seltsam vertraut. Kein Wunder, hat doch deren geistige Schöpferin sehr viel mit ihrer Protagonistin gemeinsam: Auch Siri Hustvedt stammt aus dem Mittleren Westen. Sie wurde am 19. Februar 1955 in Northfield, Minnesota, als Tochter der Norwegerin Ester Vegan und Lloyd Merlyn Husvedt, eines Professors für norwegische und amerikanische Geschichte, geboren. Sie wächst zweisprachig auf und will Schriftstellerin werden. Mit nur wenig Geld und voller Hunger auf die Geheimnisse der Großstadt, zieht sie, genau wie ihre Romanfigur, zum Literaturstudium nach New York. Sie promoviert an der Columbia University über Sprache und Identität bei Charles Dickens und lernt 1981 bei einer Dichterlesung den am 3. Februar 1947 in New Jersey geborenen Schriftsteller Paul Auster kennen.
Auch Auster, dessen jüdische Großeltern aus Galizien und der Ukraine eingewandert sind, hat an der Columbia Literatur studiert. Danach lebte er drei Jahre in Paris, wo er als Übersetzer arbeitete und Samuel Beckett kennenlernte. Zurück in New York übernahm er einen Lehrauftrag und schrieb seine ersten literarischen Texte. Als er Siri Hustvedt trifft, hat er sich gerade von seiner ersten Frau Lydia Davis getrennt hat und ist nach Brooklyn ( ▶ A/B 6/7) gezogen. Die beiden heiraten 1982 und bekommen eine gemeinsame Tochter, die sie nach Sophie Fanshawe, einer der weiblichen Figuren aus Paul Austers New-York-Trilogie, Sophie nennen.
Die Gemeinsamkeiten in der Lebensgeschichte und den Romanen der beiden Schriftsteller sind bei näherem Hinsehen spannend und frappierend. Denn auch Paul Austers inzwischen gut 30 Romane, Erzählungen und Drehbücher spielen in New York. Die Protagonisten seiner existenzialistisch inspirierten Werke sind Schriftsteller wie er selbst und unermüdlich unterwegs auf der Suche nach Sinn und Identität. Biographie und Fiktion verschmelzen bis zur Unkenntlichkeit.
Der Hauptakteur seines 1985 erschienenen Romans »Stadt aus Glas«, dem ersten Buch seiner berühmten New-York-Trilogie, ist der nach einem Schicksalsschlag gebrochene Schriftsteller Quinn. Durch einen mysteriösen Telefonanruf erhält er den Auftrag, das Leben eines anderen zu observieren und gerät dadurch in ein verwirrendes Versteckspiel, das in verstörenden Grenzgängen durch ein penibel vermessenes New Yorker Straßennetz kulminiert. Virtuos spielt Auster dabei mit seinen Figuren, deren Doppelgängern, Künstlernamen, Pseudonymen und Identitäten.
Quinn übernimmt seine kriminalistischen Ermittlungen unter dem Namen Paul Auster und lernt dabei nicht nur einen Autor namens Paul Auster kennen, sondern auch dessen Frau Siri Hustvedt: »Er blickte auf und sah zuerst die Frau. Dieser eine kurze Augenblick reichte aus, um ihn innerlich aufzuwühlen. Sie war eine große schlanke Blondine, strahlend schön, von einer Energie und einem Glück, die alles um sie herum unsichtbar zu machen schienen.« Eine treffende Beschreibung der echten Siri Hustvedt und eine literarische Liebeserklärung par excellence. Kein Wunder, dass die beiden Schriftsteller in Deutschland und Frankreich, wo ihre Romane populärer sind als in Amerika, als das literarische Traumpaar von New York gelten.
In Austers Trilogie spielt die Stadt am Hudson nicht nur im Titel eine zentrale Rolle. New York definiert geographisch wie existenziell die Schicksale seiner Romanfiguren. Für sein Alter Ego Quinn ist New York »ein unerschöpflicher Raum, ein Labyrinth von endlosen Schritten, und so weit er auch ging, so gut er seine Viertel und Straßen auch kennenlernte, es hinterließ in ihm immer das Gefühl, verloren zu sein … New York war das Nirgendwo, das er um sich aufgebaut hatte, und es war ihm bewusst, dass er nicht die Absicht hatte, es jemals wieder zu verlassen.«
Nach ausholenden Parcours quer durch Manhattan – eine Route, die man auf einem Stadtplan nachzeichnen und in einem halben Tag ablaufen kann – lässt sich Quinn auf einer Bank vor dem United Nations Headquarter 41 ( ▶ J 5/6) nieder und notiert, was er unterwegs gesehen hat: einen blinden Bleistiftverkäufer, einen alten, Stepp tanzenden Schwarzen, Saxophonisten, Gitarristen, Geiger und einen Klarinettisten mit zwei aufziehbaren Affen, »Verrückte, die sich in ihren Wahnsinn eingeschlossen haben und mit sich selbst reden, murmeln, schreien, fluchen, stöhnen«, Menschen, die sich selbst Geschichten erzählen, als hörte ihnen jemand zu.
»Da sind die Frauen mit ihren Einkaufstüten und die Männer mit ihren Pappkartons, die ihre Habseligkeiten von einem Ort zum anderen tragen, immer unterwegs, als ob es von Bedeutung wäre, wo sie sind. Der Mann, der sich in eine amerikanische Flagge eingehüllt hat. Die Frau mit einer Halloween-Maske vor dem Gesicht.«
Mit der Schilderung dieser Gescheiterten spiegelt die »Stadt aus Glas« die Schattenseiten von New York. Als der Roman 1987 erscheint, steht die Stadt kurz vor dem Kollaps, in den Straßen sind Armut und Verwahrlosung unübersehbar.
Die soziale Schere klafft damals wesentlich augenfälliger auseinander als heute. »Die Zerbrochenheit ist allgegenwärtig, die Unordnung universal … Die zerbrochenen Menschen, die zerbrochenen Dinge, die zerbrochenen Gedanken.«
Am Ende dieser, wie der Autor selbst sagt, »undurchsichtigen Geschichte« meldet sich deren Schöpfer, der echte Paul Auster, zu Wort, um seine Leser ein letztes Mal in die Irre zu führen. »Ich kehrte im Februar von meiner Afrikareise zurück, wenige Stunden bevor ein Schneesturm New York heimsuchte. Ich rief an diesem Abend meinen Freund Auster an, und er bat mich eindringlich, ihn aufzusuchen, so rasch ich konnte.«
Eine andere Art von literarischem Versteckspiel spielt Siri Hustvedt. Ihre »unsichtbare Frau« Iris schlüpft, zunächst spielerisch, dann immer zwanghafter – in die Rolle eines Mannes. An Halloween, den Oktobertagen, an denen ganz New York mit ausgehöhlten Kürbissen dekoriert ist, verkleidet sie sich für eine Kostümparty in einer Lagerhalle in Tribeca. Nachdem sie Gefallen an ihrem Rollentausch gefunden hat, lässt sie sich einen Bürstenhaarschnitt machen. Angeregt durch die Hauptfigur eines Romans, den sie für ihren Professor übersetzt, zieht Iris von nun an als »Klaus« durch die Kneipen.
Die Stadtschreiber Auster und Hustvedt wohnen in Brooklyn ( ▶ A/B 6/7). Auster, von der »Neuen Züricher Zeitung« als »charismatischer Dirigent einer mächtigen Musik des Zufalls« gerühmt, hat seinem Viertel in »Die Brooklyn Revue« (2005) und mit dem Drehbuch zu »Smoke« (1995) ein Denkmal gesetzt. Zwölf Jahre lang fotografiert der Zigarrenverkäufer Auggie, verkörpert durch Harvey Keitel, jeden Morgen die Straßenkreuzung Ecke Atlantic Avenue/Clinton Streetund dokumentiert damit den Wandel alles Vergänglichen. »Es heißt immer, um die Welt zu sehen, muss man verreisen. Aber wenn du hier bleibst und die Augen offen hältst, siehst du wirklich mehr als genug.«