TOM WOLFE
geb. 1931
In seinem brillanten Roman »Fegefeuer der Eitelkeiten« von 1987 beschreibt er die Gier und den Größenwahn der Wall Street. Eine Sozialskizze, die nichts an Sprengkraft verloren hat.
Fast hätte er seine New Yorker Karriere als promovierter Laufbursche begonnen, beim Boulevardblatt »Daily News«, für 50 Dollar wöchentlich, was selbst Ende der 50er-Jahre ein unverschämter Hungerlohn ist. Keine besonders prickelnde Aussicht nach zehn Jahren an der Elite-Universität Yale, aber wenigstens ein Einstieg. Erstens bei einer Tageszeitung – und da will er hin, unbedingt – und zweitens in New York, der Stadt aller Städte. Nach dem Vorstellungsgespräch hört er einen der Redakteure lachen: »Jetzt haben wir hier einen promovierten Kopierjungen.« Das war’s dann. Von solchen Schnöseln will er sich nicht herumscheuchen lassen. »Hey Doc, hol mir mal ’nen Kaffee!« No way! Dann doch lieber erst einmal Provinz.
Sechs Jahre später ist es geschafft. 1962 hat der aus Richmond in Virginia stammende Journalist genügend Erfahrungen bei der »Springfield Union« und der »Washington Post« gesammelt. Jetzt ist er gewappnet für New York, die aufregendste Metropole der Welt! Nach einer Abschiedsparty am Abend zuvor landet Wolfe, der eigentlich Thomas Kennerly Wolfe jr. heißt, hundemüde, aber glücklich in der Stadt seiner Träume. Er fühlt sich sehr romantisch, reckt seine Faust zu den Wolkenkratzern hoch und jubelt: »Jetzt krieg ich dich!« Sein erstes Frühstück nimmt er nicht bei Tiffany 35 ( ▶ K 4) ein, sondern in einem billigen Coffeeshop. Kaffee, Eier und Schinken, alles gleich gelblich, holt er sich aus dem Automaten. Er fühlt sich großartig als einsamer Cowboy in der großen Stadt.
Auf dem Weg zur Redaktion trifft er zufällig eine alte Bekannte aus der Heimat, die ihn zu einer Party einlädt, die am selben Abend in einer Wohnung am Central Park stattfindet. Die Gäste, die Musik – alles brasilianisch, viel Alkohol, viel Gefühl, schnelle Verbrüderung. »Und aus war es mit meiner romantischen Vorstellung, mich heldenhaft und allein durch den New Yorker Großstadtdschungel zu schlagen«, erinnert sich Tom Wolfe selbstironisch. »Ähnlich ernüchternd ging es dann weiter. In den nächsten Monaten stellte ich fest, wie unromantisch es ist, in einer vollen U-Bahn eingeklemmt zu sein.« Wenigstens sind die im New York der 60er-Jahre noch vergleichsweise sicher, und selbst die Bronx, die Wolfe 20 Jahre später als Vorhof zur Hölle beschreiben wird, ist für weiße Greenhorns noch gefahrlos zu betreten.
Beim »Herald Tribune« ist Wolfe für die Spätschicht von 14 bis 22 Uhr eingeteilt. So kann er ausschlafen und nach Redaktionsschluss ins Nachtleben starten. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, die mit ihren Familien in einem Vorort wohnen und sich beeilen müssen, an der Grand Central Station den letzten Zug zu erwischen, wohnt er in Manhattan am Gramercy Park ( ▶ G 4). Ein paar Blocks weiter, in der 7th Avenue, findet er einen Italiener, der ihm bis drei Uhr morgens Pizza serviert.
Aber die Großstadt hält auch Fallen bereit für den Provinzler aus dem verschlafenen Richmond, das die meisten Amerikaner nur wegen seiner Tabakindustrie kennen. Eines Abends steigt der junge Großstadtreporter in ein Taxi. Unterwegs stellt er fest, dass er nur ein paar Münzen dabei hat – insgesamt einen Dollar und einen Cent. Also nimmt er sich vor, den Fahrer beim Kilometerstand von 85 Cent zu stoppen. So kann er ein anständiges Trinkgeld geben und den Rest des Weges zu Fuß gehen.
Doch dann verpasst er den Moment, der Tachometer springt auf 90 Cent. Nun ist alles egal, denkt er sich und lässt den gelben Wagen bis zum exakten Stand von einem Dollar weiterfahren. Dann kramt er seine Münzen aus der Hosentasche, drückt sie dem Fahrer in die Hand und verschwindet rasch in der Einbahnstraße. Geschafft, denkt er in naiver Verkennung der Mentalität eines New Yorker Taxlers. Der setzt blitzschnell rückwärts, bis er den geizigen Fahrgast eingeholt hat. Dann schmeißt er ihm die Münzen ins Gesicht und gibt Gas. Kleinlaut kriecht Wolfe über das nasse Straßenpflaster und sammelt seine Cents wieder ein.
20 Jahre später hat sich Tom Wolfe in New York bestens eingelebt. Inzwischen trägt er obligatorisch weiße Anzüge, dazu den gleichfarbenen Hut und Spazierstock, den typischen Sonntagsstaat eines Plantagenbesitzers seiner Heimat, mit dem ostentativen Stolz eines Mannes, der sich längst eine eigene Kleiderordnung leisten kann – für Wolfe eine mehr als snobistische Kluft: ein Alleinstellungsmerkmal.
In der Tat hat er sich als Journalist einen Namen gemacht. Zusammen mit Norman Mailer, seinem Intimfeind, Truman Capote, Hunter S. Thompson und Gay Talese begründet Wolfe den »New Journalism«. Einen literarischen, subjektiv geprägten Reportagestil, der Recherche und romanhaften Erzählstil miteinander verbindet, und intelligent, spannend und unterhaltsam informiert. Mit seinem ersten Buch »Das bonbonfarbene, tangerinrot-gespritzte Stromlinienbaby« dokumentiert Wolfe die LSD-Trips der 60er-Jahre und den Flirt der Boheme mit der Black-Power-Bewegung. Mit seinem New York-Roman »Fegefeuer der Eitelkeiten«, einer brillanten Schilderung der allgegenwärtigen Gier in einer auseinanderdriftenden multikulturellen Gesellschaft, trifft Wolfe Ende der 80er den Nerv der Zeit. Die »New York Times« widmet nun dem verhinderten Kopierjungen eine Cover-Story.
Das Buch wird zunächst als Episodenstory im »Rolling Stone« veröffentlicht und später von Brian de Palma – leider sehr mittelmäßig – verfilmt. Im »Fegefeuer der Eitelkeiten« schildert Wolfe scharfsinnig und beklemmend die gesellschaftspolitschen Verhältnisse der Stadt. Mit feinem Gespür für ihre Menschen seziert er die ethnischen Milieus und Mentalitäten: die privilegierten weißen, anglo-sächsischen Protestanten (WASP), die grobschlächtigen irisch-katholischen Cops, ehrgeizige jüdische Staatsanwälte, bigotte schwarze Prediger und eine sensationslüsterne Meute von Boulevardjournalisten. Der Großstadt-Reporter Wolfe verschont nichts und niemanden. Er entlarvt die trügerische Selbstüberschätzung der Alphatiere an der New York Stock Exchange 20 ( ▶ B 4) in der Wall Street ebenso wie die Habgier der Habenichtse in der Bronx. Jeder kämpft mit seinen eigenen Mitteln um ein Stück vom großen Kuchen. Es ist derselbe uralte Konflikt um Kapitalismus und Klassenkampf, der 2011 im Zuccotti Park 44 ( ▶ B 4) die nach mehr Gerechtigkeit schreienden Aktivisten der »Occupy Wall Street«-Bewegung auf den Plan rufen wird.
Im Zentrum der Story steht der Börsenmakler Sherman McCoy, ein Broker mit »aristokratischem Kinn« und einem sündhaft teuren Apartment in der exklusiven Park Avenue ( ▶ J 5), für das er sich bei den Banken hoch verschuldet hat: vier Meter hohe Decken, Marmorboden, ein eigener Trakt für das Personal. Neben dem obligatorischen Doorman und einer »makellos ausgemergelten« Ehefrau hält sich McCoy auch einen Hund, mit dem er abends Gassi geht und dabei die Gelegenheit nutzt, seine Geliebte anzurufen.
Kurzum: McCoy, reich, erfolgsverwöhnt und selbstverliebt, hält sich für einen »Master of the Universe«. Selbst seine kleine Tochter Campbell dient ihm noch als Accessoire für glanzvolle öffentliche Auftritte: »Ein vollkommenes Engelchen in Privatschuluniform«, das er, »der Vater des Engelchens, ein vielseitig begabter Mann«, frühmorgens zum Schulbus bringt und sich dabei in den bewundernden Blicken der Fußgänger, Autofahrer und Society-Mütter sonnt. In dieses arrivierte Upper East Side-Leben bricht unvermittelt das andere New York in seiner krassesten Form ein: die Bronx. Als sich McCoy eines Abends zufällig dorthin verfährt, landet er in einem Großstadtschungel mit eigenen Gesetzen. Er wird der Fahrerflucht angeklagt, von einer Meute korrupter Politiker, Prediger und Sensationsjournalisten gehetzt und schließlich in der Bronx vor Gericht gestellt. Dort, wo schwarze Ghetto-Kids im »Pimp Roll«, dem Zuhältergang, auf vibrierenden Gummisohlen durch den Saal schlendern und hilflosen, jüdischen Unterstaatsanwälten ihre Coolness demonstrieren.
Der Gefangenentransporter, der ihn in das Gericht fährt, wird gelenkt von einem fetten, gedrungenen, dunkelhäutigen Fahrer, »in irgendso einem grau-schmerbäuchigen Alter«. Selbst dieser arme »Staatdienst-Lebenslängliche« scheint inzwischen fast so etwas wie Mitleid mit dem unschuldig Angeklagten zu haben. Mit dem »ureigenen Achselzucken der Straßen von New York« – Schultern hoch, Handflächen nach oben, die Mundwinkel nach unten – zeigt er seine eigene Hilflosigkeit. Es war, schreibt Wolfe, »der uralte New Yorker Schrei nach Erbarmen, unwiderlegbar und unbestreitbar«.
»Fegefeuer der Eitelkeiten«, der spannendste New York-Roman des 20. Jh., liest sich wie eine soziologisch-phänomenologische Studie, nur ungleich lebendiger und eindringlicher. Doch egal, ob unter den Wall-Street-Hyänen oder in der Bronx: Die Stadt kommt einem überall hart vor. Die Subway zu benutzen, war wie »freiwillig in ein Verlies hinabzusteigen … Rußiger Beton und schwarze Gitter überall, Käfig hinter Käfig, Stockwerk auf Stockwerk, ein durch schwarzes Gitter erblicktes Delirium in jeder Richtung. Jedes Mal, wenn ein Zug in die Station hinein- oder herausfuhr, gab es ein ohrenbetäubendes, metallisches Kreischen, als würde irgendein riesiges Stahlskelett durch einen Hebel von unvorstellbarer Kraft auseinandergerissen«.
Auch wenn die New Yorker U-Bahn seither sicherer geworden ist, an ihren Geräuschen hat sich nicht viel geändert. Und Männer wie McCoy gibt es heute nicht nur an der Wall Street 42 ( ▶ B 5). Einer der modernen »Master of the Universe« ist Donald Trump, der weltberühmte Selfmademan, der stets auch makellos ausgemergelte Frauen ehelicht. Auch dieser weltweit tätige Immobilien-Tycoon stellt seinen Reichtum gern zur Schau. Sein Trump Tower 38 ( ▶ K 4) auf der Fifth Avenue ( ▶ E 4–K 4), ein glitzerndes, messingglänzendes Monument der Macht, verkündet aus unzähligen ineinander verspiegelten Spiegeln: »Look, I have made it!« Ich habe es geschafft!
Es gibt aber auch Unterschiede: Während sein Alter Ego McCoy das Haar glatt nach hinten kämmt und seine graublauen Kammgarnanzüge in England maßanfertigen lässt, lässt Trump, Jahrgang 1946, seine schüttere und auffällig blonde Mähne tief in die Stirn hängen und verkauft im Tower seine eigene bunte Krawattenkollektion. Derweil schnürt Tom Wolfe, der unbestechliche Beobachter, wie ein in die Jahre gekommener Dandy mit Hut und Stock durch die Stadt, stets die schillernde Faszination von New York und dessen Verderben im Blick.