PIETER STUYVESANT
1612–1672
Der einbeinige holländische Haudegen baute auf der Insel »Mannahatta« die Siedlung Neu-Amsterdam auf – bis die Engländer kamen und die aufblühende Kolonie einfach übernahmen.
Ob er den Jazz gemocht hätte, der heute in seiner Kirche gespielt wird, dem Gotteshaus St. Mark’s Church-in-the-Bowery 30 ( ▶ E 5), in dem er schließlich doch noch seine letzte Ruhe findet? Diese unorthodoxen Klangfolgen und Rhythmen, gespielt von schwarzen Männern, die er nur als Sklaven gekannt hat, mit deren Handel man sehr viel Geld verdienen konnte – aber nie und nimmer als freie Musiker, für deren Getrommel man eines Tages sogar Geld bezahlt? Nein, Pieter Stuyvesant hätte nichts mit so einer Musik anfangen können, wie sie aus der kleinen Kirche herausschallt. Dennoch verzieht der Gouverneur keine Miene, als die Trommler und Trompeter an ihm vorbei durch das eiserne Tor ins East Village ( ▶ E 6) hinaus strömen. Wie sollte er auch, wo er doch in Bronze gegossen bis in alle Ewigkeit dazu verdonnert ist, auf seinem Sockel stehen zu bleiben und stoisch geradeaus zu blicken.
Dabei beginnt die Geschichte schon im September 1609, fast vier Jahrzehnte vor Stuyvesants Ankunft in Neu-Amsterdam, dem heutigen New York. Damals, am 12. September 1609, als Henry Hudson zum Schutz vor den Altantikbrechern in die breite Bucht einbog und auf eine große, grüne Insel zusegelte, schwante dem britischen Seemann: Dies hier konnte unmöglich die richtige Seeroute nach China sein, die er, Kapitän Henry Hudson, im Auftrag der holländischen Regierung finden soll. Schon wieder hatte er die Westpassage verpasst!
Dann erkennt Hudson das Potenzial dieses zufällig entdeckten Naturhafens und lässt erst einmal Anker setzten. Die Insel ist bewohnt und die Segel des 80 Tonnen schweren Dreimasters haben ihre Bewohner angelockt. In Scharen strömen sie am Ufer zusammen, Männer, Frauen und Kinder, die den Neuankömmlingen in 28 Kanus entgegenrudern und die sich, wie später einer der Seeleute berichten wird, über den Besuch der Fremden freuen.
Heute kann man sich allenfalls im hügeligen Central Park ( ▶ K 3/4) noch vorstellen, was für eine üppig blühende Insel Henry Hudson vorfand: Astern wiegen sich im Wind, Gauklerblumen sprenkeln die Wiesen mit herbstlichem Gelb, über Seen und Sümpfe kreisen Fischadler. »Mannahatta«, Insel der vielen Hügel, so nennen die Lenape, die hier seit dem Ende der Steinzeit leben, ihr friedliches Biotop. Hudson ist äußerst angetan von dem, was er sieht. Dies hier sei »das angenehmste Land, das man betreten kann«, berichtet er seinen holländischen Auftraggebern. Ideal, um im Schutz eines Naturhafens einen Handelsstützpunkt zu errichten.
»Mannahatta«, das spätere Manhattan, mit seinen mehr als 500 Felsbuckeln, ist das Herz dieses Hafens. Die Insel ist von Laubwäldern mit Magnolien, Kastanien, Walnussbäumen, Eichen und Fichten überzogen, ein ideales Revier für Hirsche und Elche. An den Flussufern nisten Vögel, Biber bauen ihre Burgen. Heute erinnert eine Bronzeplastik im Morningside Park von Harlem an die Bären, die durch das Dickicht der holländischen Siedlung Neu-Haarlem streiften. Der Stamm der Lenape lebt von Landwirtschaft und Muscheln, die an der Küste gesammelt werden. Die Menschen legen Gärten mit Mais, Bohnen und Kürbis an.
Hudson kehrt zurück nach Amsterdam und berichtet dem König, dass er zwar nicht die Westroute nach China gefunden habe, dafür aber einen wunderbaren Hafen mit prächtigem Hinterland. Trotzdem dauert es 15 Jahre, bis das erste Schiff mit holländischen Kolonisten in der Hudson Bay eintrifft. Anders als Boston oder Philadelphia wird New York nicht von verfolgten Visionären gegründet, die religiöse Freiheit suchen, sondern als Handelsplatz. Die Niederländer sind allein am lukrativen Seehandel interessiert. Ihre Siedler roden Wälder, legen Sümpfe trocken und bauen Obst und Gemüse an. Sie gründen Neu-Haarlem, das heutige Harlem, und besiedeln das Bloemendael, (Tal der Blumen) an der Upper West Side. Die Insel »Mannahatta« untersteht nun der Niederländischen Westindiengesellschaft. Bald verlassen ihre mit Nerz-, Bären- und Biberfellen beladenen Schiffe viermal im Jahr den Hafen von Neu-Amsterdam in Richtung Heimat.
Dennoch kommt die Kolonie nicht richtig in Schwung. Für auswanderungswillige Holländer sind die Küsten von Fernost und Brasilien als Handelsplätze für Gold und Gewürze rentabler als der Pelzhandel. Außerdem fehlt es an Arbeitskräften, die Siedler fordern für ihre Farmen und zum Bau eines Forts Sklaven an. Schon kommt aus Angola das erste Schiff mit Zwangsarbeitern.
Im Jahr 1626 unterbreitet der Gouverneur Pieter Minuit den Ureinwohnern ein folgenschweres Angebot. Er will die Insel kaufen und bietet ihren Häuptlingen dafür 60 Gulden. Für den Gegenwert von zwei Monatslöhnen oder anderthalb Kühen, so brüstet sich später der Buchhalter der Handelsgesellschaft, sei der Tausch über die Bühne gegangen. In Wahrheit haben die Holländer statt der 60 Gulden (umgerechnet 24 Dollar) knapp 600 Dollar für 5700 Hektar fruchtbares Land bezahlt.
Weitaus weniger gut ist das Geschäft für die Indianer, die den Tauschhandel als vorübergehend betrachten. 1643 versucht ein Gouverneur, von ihnen Steuern zu kassieren. Als sich die Indianer weigern, brechen die Holländer einen Krieg vom Zaun. Soldaten überfallen zwei Dörfer und metzeln die Bewohner nieder.
Die Kolonie beginnt auseinanderzubrechen. Die Bevölkerung schrumpft, Aggressionen, Trunkenheit und Chaos machen sich breit. Um für Ordnung zu sorgen, schicken die Holländer Pieter Stuyvesant nach Neu-Amsterdam. Der 37 Jahre alte Ministersohn hat bis dahin auf der Karibikinsel Curaçao für die Westindische Kompanie gearbeitet und während eines Gefechts sein rechtes Bein verloren. Im Frühjahr 1647 tritt er sein Amt als neuer Gouverneur an. »Ich werde euch regieren wie ein Vater seine Kinder«, verspricht er seinen Untertanen und verbietet ihnen das Rasen auf dem Broadway 6 ( ▶ F 4), dem uralten und bis heute erhaltenen Indianerpfad, der sich anders als das später angelegte, strikt rechtwinklige Straßennetz schräg über die Insel schlängelt. Auch die »Unzucht mit Indianern« sowie der Besuch einer Bar am Kirchensonntag werden unter Strafe gestellt.
Pieter Stuyvesant räumt rasch und nachhaltig auf. Der Puritaner mit dem eisernen Willen und aufbrausenden Temperament ist nicht beliebt, aber effizient. Er baut eine Straße nach Neu-Haarlem, erweitert die Hafenanlagen und errichtet zum Schutz vor Indianern und Engländern einen 700 Meter langen Wall. Die Straße, die an ihm entlang führt, wird später als Finanzmeile Wall Street 42 ( ▶ B 5) weltberühmt.
Mit seiner Familie bezieht er im heutigen East Village in der kurzen Stuyvesant Street ( ▶ E 5) ein Haus, das erst 2010 der Spitzhacke zum Opfer fällt. Er macht den Sklavenhandel zur Chefsache und zur Haupteinnahme seiner Kolonie. Unterdessen nimmt die Bevölkerung von Neu-Amsterdam zu. Am Ende von Stuyvesants Regierungszeit wohnen 3000 Menschen in einer Siedlung mit 300 Reihenhäusern, Straßen, Kanälen, Windmühlen und Schulen. Das rückständige Hafennest hat sich zur Kleinstadt gemausert.
Inzwischen haben auch die Schweden Kolonien an der Ostküste gegründet, was den Niederländern überhaupt nicht passt. Pieter Stuyvesant zieht mit einer Streitmacht los, um die Skandinavier am Delaware River zu vertreiben bzw. ihre Kolonie Neu-Schweden zu annektieren. Das gelingt auch, allerdings ist zur gleichen Zeit in Neu-Amsterdam der Teufel los. Weil eine Indianerin einem weißen Siedler ein paar Pfirsiche gestohlen hatte und dafür erschossen wurde, kommt es zum »Pfirsichkrieg«. 500 Lenape nutzen die Abwesenheit der Stuyvesant-Truppen und greifen an. Sie töten über 100 Siedler und nehmen über 150 gefangen. Erst nach langen Verhandlungen gelingt es dem inzwischen zurückgekehrten Stuyvesant, die Gefangenen freizubekommen und 1658 Frieden mit dem Stamm zu schließen.
Dem bisweilen arg despotischen Gouverneur ist es jedoch nicht vergönnt, die Früchte seiner Arbeit zu genießen. Mittlerweile sind die Briten auf die Nachbar-Kolonie aufmerksam geworden. Für sie ist Neu-Amsterdam die fehlende Perle in ihrer immer dichter werdenden Siedlungskette entlang der Ostküste. Im August 1664 laufen vier Kanonenboote im Hafen ein. Obwohl die Eindringlinge in der Übermacht sind, ist Stuyvesant entschlossen, sein Fort bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Er klettert auf die Zinnen und bereitet den Kampf vor. »Lieber lasse ich mich töten, als kampflos ins Grab zu sinken«,soll er ausgerufen haben. Dann kommt alles anders. Eine Abordnung seiner Untertanen überreicht dem Gouverneur eine Petition. Sie ist von 93 führenden Händlern, darunter seinem eigenen Sohn, unterzeichnet und beschwört ihn, die Stadt friedlich zu übergeben. Stuyvesant weiß jetzt, dass keiner seiner Leute auch nur einen Finger zur Verteidigung der Stadt krümmen würde.
Was war passiert mit den holländischen Haudegen? Die Antwort ist einfach: New York hatte begonnen, New York zu werden. Unter Stuyvesant hatte sich die Bevölkerungsstruktur dramatisch verändert. Er selbst hatte neben Sklaven auch Arbeitskräfte aus anderen Ländern angeworben. Mitte des 17. Jh. wurden auf den Straßen von Neu-Amsterdam 18 Sprachen gesprochen, darunter französisch, deutsch, polnisch und portugiesisch. Als die Briten angriffen, waren die Niederländer zur Minderheit in ihrer eigenen, nunmehr kosmopolitisch zusammengewürfelten Kolonie geworden, der es egal war, unter welcher Flagge sie regiert wurde – Hauptsache, man konnte weiterhin unbehelligt Geld verdienen.
Begleitet von Pauken und Trompeten übergibt Stuyvesant am 27. August 1664 seine Kolonie den Engländern. Zwei Tage später wird aus Neu-Amsterdam offiziell New York, benannt nach dem Herzog von York. Stuyvesant bleibt und zieht sich auf eine Obstfarm im späteren Greenwich Village ( ▶ E/F 5) zurück. In seiner Grabkapelle St. Mark’s 30 ( ▶ E 5) findet Jahrhunderte später auch Allen Ginsberg, einer der wichtigsten Dichter der Beat Generation, seine letzte Ruhe.