PATTI SMITH
geb. 1946
ROBERT MAPPLETHORPE
19461989

»Es gab regenschwere Tage, an denen die Straßen von Brooklyn ein Foto wert waren und jedes Fenster das Objektiv einer Leica war«, schreibt die Sängerin über ihre New Yorker Jahre mit dem Fotografen.

Es ist der Sommer, in dem der Jazz-Saxophonist John Coltrane stirbt und Jimi Hendrix in Monterey seine Gitarre in Brand steckt. Patti Smith ist 20 Jahre alt, als sie 1967 mit dem Bus aus Camden, New Jersey, in New York eintrifft. Schlaksig, schmalhüftig und hoch aufgeschossen wie ein Junge, verträumt, lesehungrig – und wild entschlossen, hier ein Leben als Künstlerin zu führen, einen Künstler zu lieben und mit ihm zusammen zu leben. Sie trägt Jeans, einen schwarzen Rollkragenpullover, einen Regenmantel und ein gelb-rot kariertes Köfferchen, das neben ein paar Kleidungsstücken und Familienfotos ein Notizbuch und Arthur Rimbauds Gedichtband »Illuminationen« enthält. Das Buch hat sie als Teenager an einem Bahnhofsständer geklaut und gierig verschlungen. Seither ist der französische Poet »ihr Erzengel«, ihre Inspiration zum Schreiben. Seine Gedichte haben sie getröstet, als sie drei Jahre später gleich beim ersten ernsthaften Herumfummeln schwanger wird, im Alleingang ihr Kind austrägt, zur Adaption freigibt und vom College fliegt.

Gleich nach ihrer Ankunft stolpert Patti Smith in Brooklyn ( A/B 6/7) über einen blassen, dünnen Jungen mit dunklen Locken, geschickten Fingern und Glasperlenketten um den Hals. Es ist Robert Mapplethorpe aus Long Island, Sohn eines ehemaligen Offiziers, mit dem er sich überworfen hat, weil er anstatt seine Grafikerausbildung zu beenden lieber mit LSD experimentiert und fantasievollen Schmuck bastelt. Die Begegnung ist flüchtig.

In ihren ersten Wochen schlägt sich Patti Smith allein durch. Ohne Ausbildung, ohne einen Cent in der Tasche, klappert sie die Buchläden ab, um einen Job zu finden. Nachts schläft sie auf Parkbänken im Central Park ( K 3/4) oder in Subway-Stationen. Angst hat sie keine, denn sie strahlt aus, dass es bei ihr nichts zu stehlen gibt.

Im Rückblick schreibt sie: »Die Großstadt war eine echte Großstadt, unstet und sexuell. Ich wurde hierhin und dahin geschubst von kleinen Horden erhitzter junger Matrosen, die auf der Forty-Second Street, auf der sich Pornokinos, ordinäre Frauen, glitzernde Souvenirläden und Hot Dog-Stände aneinanderreihten, nach Action suchten. Ich lungerte in den Kinoräumen herum und spähte durch die Fenster in die großartige, ausladende Grant’s Bar, in der dicht gedrängt Männer in schwarzen Mänteln haufenweise frische Austern schlürften. Die Wolkenkratzer waren wunderschön. Sie wirkten gar nicht wie bloße Hüllen für Großkonzerne. Sie waren Monumente der arroganten, aber philanthropischen amerikanischen Gesinnung.«

Die Pornokinos auf der 42nd Street sind heute verschwunden. Die Atmosphäre im East Village ( E 6) dagegen, durch dessen Straßen und Parks Patti Smith stundenlang streift, hat sich kaum verändert. Sie schlendert über den St. Mark’s Place 31 ( E 5) und staunt über die langhaarigen Jungen in gestreiften Schlaghosen und Uniformjacken und die Mädchen in Batikkleidern. Die Straßen sind tapeziert mit Flyern, Haschischschwaden würzen die Luft. Noch heute ist hier die Alternativszene zu Hause, mit Tattoo-, Piercing- und Esoterikläden und marokkanischen Billigrestaurants, in denen ergraute Hippies von ihren Trips nach Marrakesch schwärmen.

BEGEGNUNG AUF DEM TOMPKINS SQUARE

Zurück ins Jahr 1967, als die Hippies noch jung und revolutionär sind und ihrem Protest gegen den Vietnamkrieg mit Musik und Marihuana Nachdruck verleihen. In einer Buchhandlung, in der Patti als Kassiererin arbeitet, trifft sie den Jungen aus Brooklyn ( A/B 6/7) wieder. Sie verkauft ihm eine persische Halskette und bittet ihn spontan, die Kette niemandem außer ihr zu schenken. Er verspricht es. Erst beim dritten zufälligen Treffen im Tompkins Square Park 37 ( E 6), unter dessen Bäumen damals wie heute Gitarrenspieler ihre Akkorde üben, kommen Patti und Robert zusammen. Sie, notorisch hungrig und knapp bei Kasse, hat sich von einem Science Fiction-Autor zum Abendessen einladen lassen und sucht nun verzweifelt einen Vorwand, um den Mann loszuwerden. In diesem Moment läuft ihr der dünne, dunkelhaarige Junge aus Brooklyn wieder über den Weg. Sie erkennt ihn schon von weitem an seinem leicht o-beinigen Gang, stürzt ihm entgegen, zerrt ihn zu ihrem Date und gibt ihn als ihren Freund aus.

Von diesem Tag an sind Patti Smith und Robert Mapplethorpe unzertrennlich. Die erste gemeinsame Nacht verbringen sie in Roberts WG in Brooklyn, in der sie sich an Pattis erstem New York-Tag begegnet sind. Robert zeigt ihr einige seiner Zeichnungen, sie erkennt in seiner sanften, fürsorglichen Art eine verwandte Seele. »Wir blätterten in Büchern über Dada und Surrealismus und ließen die Nacht in die Betrachtung von Michelangelos Sklaven versunken ausklingen. Wortlos sogen wir die Gedanken des anderen auf und schliefen bei Tagesanbruch eng umschlungen ein. Als wir aufwachten, begrüßte mich sein schiefes Lächeln und ich wusste, er war mein Ritter … Wir wichen einander nicht von der Seite, außer um zur Arbeit zu gehen. Es gab keine Absprachen; wir verstanden uns auch so.«

Ihre erste Wohnung liegt in einem dreistöckigen Brownstone, einem jener typischen Backsteinhäuser, die noch heute die Straßen von Brooklyn säumen, sie kostet 80 Dollar Miete im Monat. Sie schrubben Schimmel und psychedelische Graffiti von den Wänden und räumten Spritzen aus dem Ofen. Ihre Möbel klauben sie sich aus dem Sperrmüll zusammen oder basteln sie selbst. Geduldig fädelt Robert Perlenvorhänge auf, baut Lampenschirme und verziert sie mit selbst entworfenen Mustern. Die Wände drapierte er mit seinen Zeichnungen und indianischen Stoffen. Patti heftet Porträts von Rimbaud, Bob Dylan, Edith Piaf und John Lennon über ein Pult, auf dem sie ihre Schreibfedern arrangiert. Robert jobbt als Schaufensterdekorateur und studiert am Pratt Institute Kunst, Patti restauriert im Argosy Book Store 2 ( K 5), einem heute noch existierenden Antiquaritat, verstaubte Folianten.

Ihre freien Nachmittage verbringen sie am Washington Square 43 ( E 4), wo sie sich Kaffee aus der Thermoskanne teilen und den Musikern am Brunnen zuhören. Damals wie heute zieht der weitläufige Platz mit dem Triumphbogen Studenten der nahen Universität und Liebespaare an. Lediglich die Thermoskannen sind durch Coffee-to-go-Becher mit geschäumtem Milchkaffee aus biologischem Anbau ersetzt worden. An sonnigen Sonntagen begeistert manchmal ein Pianist an seinem Flügel die Passanten.

An einem Spätsommertag geraten Robert, behängt mit bunten Glasperlen und einer weißen Schafwollweste über dem nackten Oberkörper, und Patti, in löchrigen Schals und Beatnik-Sandalen, ins Visier eines älteren Touristenpaars. »Das sind bestimmt Künstler«, mutmaßt die Frau. »Unsinn, das sind Kids wie alle anderen«, antwortet ihr Begleiter. »Just Kids« – die flapsige Floskel wird mehr als 30 Jahre später zum Titel von Pattis Smiths Erinnerungsbuch an ihre New Yorker Jahre mit dem 1989 an Aids verstorbenen Fotografen Robert Mapplethorpe.

Wie viele Künstler ziehen Robert und Patti Anfang der 70er-Jahre ins legendäre Chelsea Hotel 11 ( G 3), wo sie im Tausch für Roberts Bilder ein billiges Zimmer bekommen. Die Toilette auf dem Flur teilen sie sich mit anderen. Sie treffen den Beat-Dichter William Burroughs, »todschick im dunklen Gabardinemantel und grauen Anzug«, dem Patti jedes Mal, wenn er übernächtigt aus der Kneipe in die Lobby torkelt, die Krawatte zurechtrückt.

Die Liebesbeziehung zwischen ihr und Robert, der inzwischen seine homosexuellen Neigungen auslebt, geht in Freundschaft über: zwei verwandte Künstlerseelen, die sich gegenseitig befruchten. »Das Chesea war wie ein Puppenhaus in der Twilight Zone, mit Hunderten von Zimmern, von denen jedes ein eigenes kleines Universum barg. Ich liebte dieses Hotel, seine schäbige Eleganz und die Geschichte, die es so eifersüchtig bewahrte … So viele Menschen hatten in den Zimmern dieses viktorianischen Puppenhauses geschrieben, gesprochen, sich vor Schmerzen oder Lachen gewunden. So viele Röcke waren raschelnd über die ausgetretenen Marmorstufen geglitten. So viele unstete Seelen hatten sich hier vermählt, sich hier verewigt und kapituliert. Wenn ich von Stockwerk zu Stockwerk huschte, schnüffelte ich ihrem Geist hinterher und sehnte mich nach Gesprächen mit dieser dahingegangenen Prozession rauchender Raupen.«, schreibt Patti Smith über diese Zeit.

PATTI SMITH – IKONE DER FRAUENBEWEGUNG

Mitte der 70er wird sie mit ihrer LP »Horses« zur Zentralfigur der New Yorker Punkbewegung. Auf dem Cover mit der berühmten Fotografie von Robert Mapplethorpe posiert die Rebellin in einem weißen Herrenhemd, mit herausforderndem Blick und Amphetamin-mager. Drei Jahre später bringt sie ihre Fans mit dem gemeinsam mit Bruce Springsteen entstandenen Hit »Because the Night« zum Toben. Mit ihren zärtlich-zornigen Texten und ihrer unkonventionellen Lebensweise wird sie zu einer Ikone der Frauenbewegung. 1980 heiratet Patti Smith den Gitarristen Fred Smith und zieht mit ihm nach Detroit, wo sie zusammen zwei Kinder bekommen. 1994 stirbt ihr Mann, zwei Jahre später steht die Patin des Punk mit dem Album »Gone Again« zum ersten Mal wieder auf der Bühne. Seither geht sie wieder auf Tournee.

Robert Mapplethorpe macht sich in den 80er-Jahren in den Galerien von SoHo als Fotograf von Porträts und sinnlichen Blumenstillleben einen Namen. Andy Warhol, den er als künstlerisches Vorbild verehrt, Richard Gere, Grace Jones und Peter Gabriel lassen sich von ihm porträtieren. Wegen seines exzessiven Lebens und seiner homoerotischen Fotos wird Mapplethorpe bewundert und angefeindet. 1988, ein Jahr vor seinem Tod, widmet ihm das Whitney Museum of American Art eine erste große Retrospektive.