Kapitel 34
Ich warte lange, bis ich zur Tat schreite. Ich muss erst sicher sein, dass Noah weit genug von Kaileys Todesort entfernt ist, damit er unter keinen Umständen mit dem Unglück in Verbindung gebracht wird.
Schließlich trete ich an das Geländer und lausche auf das Wasser unter mir. Ich stelle mir vor, tatsächlich zu fallen, wie die Arme der Wellen mich willkommen heißen, wenn sie mich nach unten ziehen, in eine Welt der Schiffswracks und der glänzenden silbernen Fische.
Sei nicht albern, rufe ich mich zur Ordnung. Das Wasser hätte ganz und gar nichts Weiches an sich.
Wenn ich springe, wird mich der Wind vielleicht auffangen wie einen Vogel, oder ich breite die Schwingen aus und fliege wie Kailey auf ihrem Selbstporträt als Engel. Es ist fast Zeit, Kaileys Mutter eine Nachricht zu schicken. Aber noch nicht ganz. Ich schließe die Augen, warte und denke an die einzige Person, von der ich weiß, dass sie tatsächlich fliegen kann: Amelia.
Es war in Brooklyn, 1913. Cyrus hat mich in den Zirkus mitgenommen. Ich habe den Atem angehalten, als eine winzige blonde Akrobatin von einem schwingenden Trapez sprang und auf dem Hochseil landete, das auf der anderen Seite des Zeltdaches befestigt war. Die Menge applaudierte begeistert, als der Zirkusdirektor verkündete: »Die schöne, die wunderbare Lady Amelia, die dem Tod trotzt! Sehen Sie nur, wie sie ohne Flügel fliegt!«
»Ich wünschte, er wäre still«, knurrte Cyrus neben mir.
»Ja. Was, wenn der Lärm sie ablenkt und sie fällt?«
»Unmöglich«, sagte Cyrus atemlos. »Sie ist wirklich ein Vogel.«
Als ob sie uns gehört hätte, spannte Amelia die Muskeln an, sprang mit einem Rückwärtssalto von dem Seil, bevor sie im Stand auf dem Boden aufkam. Ich kniff die Augen zusammen – sie hatte tatsächlich Federn im Haar, ebenso an den Schläfen und an den schmalen Handgelenken.
Nach der Vorstellung zog Cyrus mich über den staubigen Jahrmarkt, bis wir ihren Wohnwagen gefunden hatten. Er war an der Seite mit einer geflügelten Frau bemalt, die in einem riesigen Nest ruhte. Als wir klopften, öffnete Amelia uns in einem glänzenden seidenen Morgenrock, der zwischen Lila und Grün schillerte. An der Art, wie sie schnurrend Cyrus’ Namen aussprach, erkannte ich, dass die beiden sich schon einmal begegnet waren.
Aus der Entfernung hatte ich sie zuerst für ein Kind gehalten. Sie war sicher nicht größer als einen Meter fünfzig, mit unglaublich schlanken Gliedmaßen und feinen, ausgeprägten Gesichtszügen. Ihr stufig geschnittenes weißblondes Haar umrahmte ihr Gesicht. Ich berührte mein weiches kastanienbraunes Haar, sorgfältig in Wasserwellen gelegt. Ich fühlte mich zu frisiert, zu erdgebunden. Amelia war ein wildes Lebewesen, und ich wollte sein wie sie.
Sie huschte im Wohnwagen hin und her und mixte uns Drinks, die nach Melone mit einem Hauch Bitterkeit schmeckten.
Cyrus lehnte sich auf einem Berg von perlenbesetzten Schals zurück und betrachtete uns Frauen. »Amelia«, sagte er, »Sera hat deine Vorstellung heute sehr gut gefallen.«
Die Artistin saß auf einer Kiste, die schmalen Füße unter den Morgenrock gezogen. Sie legte den Kopf schief, sah mich an und lächelte. »Danke«, sagte sie, »das ist sehr nett.«
»Es war wunderbar. Es hat wirklich so ausgesehen, als könntest du fliegen. Wie lange bist du schon Trapezkünstlerin?«
Ihr Gesichtsausdruck wurde ernst. »Zu lange. Ich werde alt. Ich werde nicht mehr lange bei dem Zirkus bleiben können – nur was soll ich dann tun?«
Cyrus lächelte. »Deshalb sind wir hier, Amelia. Wir wollen genauso wenig wie du, dass du alt wirst.« Er öffnete die obersten zwei Knöpfe seines Hemdes und zog die Phiole hervor, die er stets an einer silbernen Kette trug. »Du kannst bei uns leben, Amelia. Wenn du es wünschst, kannst du sogar für immer jung bleiben.«
Man sah ihrem Gesicht an, dass sie nur zu gern daran glauben wollte. »Wie denn? Mit Magie?«
»Nein«, erwiderte Cyrus, öffnete die Phiole und schnupperte daran. »Mit Alchemie.«
Ich reiße mich von meinen Erinnerungen los. Genug Zeit ist vergangen. Noah dürfte mittlerweile zu Hause angekommen sein. Ich schüttele den Kopf, um ihn von den Geistern der Vergangenheit zu befreien, hole Kaileys iPhone hervor und rufe mir ein Taxi, das mich zum Busbahnhof bringen soll, wo ich in einen Bus Richtung Texas einsteigen werde. Dort werde ich vielleicht versuchen, die Grenze nach Mexiko zu überqueren. »Ich warte auf dem Parkplatz an der Golden Gate Bridge«, erkläre ich der Frau in der Taxizentrale. Die Vermittlerin teilt mir mit, dass der Wagen in fünf Minuten bei mir sein werde.
Ich haste in die Mitte der Brücke. Dort gibt es zwar Überwachungskameras, aber der Nebel wird die Aufnahmen verschleiern. Zitternd ziehe ich meine Jacke aus und stecke Kaileys Führerschein in die Tasche, bevor ich sie über das Geländer hänge. Dann hole ich das Handy erneut hervor, um eine SMS an Kaileys Familie zu tippen:
Mom, Dad, Bryan – ich habe mit einer Lüge gelebt. Es tut mir schrecklich leid, aber ich kann mich nicht länger verstellen. Glaubt mir, wenn ich euch sage, dass ich mich an einem besseren Ort befinde und dass ich euch sehr liebe. K.
Ich will schon auf »Senden« tippen, doch dann zögere ich. Sagen die Zeilen genügend aus? Der Text sollte noch besser sein, er sollte die Liebe ausdrücken, die ich ehrlich für sie empfinde. Die Trauer, die ich mit ihnen teile. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Nur noch zwei Minuten bis zur Ankunft des Taxis, und ich stehe noch nicht einmal auf dem Parkplatz. Ich seufze. Es muss reichen.
Bevor ich jedoch auf »Senden« drücken kann, bekomme ich eine SMS von Leyla.
Eine Gänsehaut überzieht meinen Rücken.
Die Nachricht lautet:
Mr. Shaw ist tot.