Kapitel 2
Ich glaube, ich nehme Kaffee. Oder vielleicht Pistazie. Oder … ach, ich weiß nicht, Grüntee.«
Charlotte fasst ihre Locken zu einem losen Knoten zusammen. »Du kannst alle haben. Schließlich bekommst du morgen einen neuen Körper. Es gibt keinen Grund, sich gesund zu ernähren.«
»Stimmt«, erwidere ich. »In dem Fall sollte ich wohl auch noch Karamell nehmen.«
Der letzte Abend vor meiner Party ist warm, mondhell und klar. Ich hake mich bei Charlotte unter und ziehe sie mit einem kleinen Hüpfer, soweit es meine schmerzenden Muskeln zulassen, auf das Michael’s zu, meine Lieblings-Eisdiele in San Francisco – vielleicht sogar auf der ganzen Welt.
Auch wenn es in meiner Kindheit noch kein Eis gab, haben meine Mutter und ich oft Sahne mit Obst und Kräutern aus unserem Garten gemischt, vor allem wenn mein Vater verreist war. Dann standen wir im Nachthemd in der Küche und verspeisten es gemeinsam. Ein Jahrhundert später, nachdem ich einmal geäußert hatte, meine Mutter zu vermissen, gab Cyrus mir meinen ersten Löffel Eiscreme zu essen und lachte angesichts meiner Verzückung triumphierend. »Siehst du? Warum sich nach etwas aus der Vergangenheit sehnen, wenn die Zukunft so viel Besseres bringt?«, fragte er.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass Cyrus dich am Abend vor deiner Wandlung aus den Augen lässt«, sagt Charlotte, als wir um die Ecke biegen und auf die Eisdiele zulaufen.
Ich kneife die Augen zusammen, um die Neonschrift im Schaufenster mit den Tagesspezialitäten zu lesen – Haselnuss, Himbeerstrudel und Minze.
»Er muss eben lernen, auch ab und zu mal ohne mich auszukommen«, erwidere ich beiläufig. Ab morgen, füge ich im Stillen hinzu.
Er wollte nicht, dass ich heute Abend weggehe – »Für die Party ist noch einiges zu organisieren, Sera«, hat er gesagt –, aber dann hat er meinen Bitten doch nachgegeben. Er kann nie lange widerstehen, wenn ich die Unterlippe auf diese ganz bestimmte Art vorschiebe. Kindisch, ich weiß, aber es hat funktioniert, und ich brauche einfach einen letzten Abend mit meiner besten Freundin.
Als wir die Eisdiele betreten, hüllt mich der kalte, süße Geruch sofort ein. Das Michael’s sieht aus, als hätte ein Tornado es aus dem Mittleren Westen nach San Francisco getragen. Bemalte Holzlaubsägefiguren von Hühnern, Kühen und Mais säumen die Wände, und an der Decke hängt eine Kette aus rostigen Zinnmelkeimern. Außer uns befindet sich nur das Mädchen hinter dem Tresen im Raum. Ihr Haar hat die Farbe des Blue-Moon-Sorbets, und zwei kleine Piercings stechen wie Fangzähne aus ihrer Unterlippe heraus. Sie unterbricht ihr geflüstertes Handytelefonat gerade so lange, um uns die beiden Eistüten auszuhändigen.
Charlotte und ich setzen uns an unseren Stammplatz, zwei Stühle mit Sicht durch die Frontscheibe, damit wir die Passanten beobachten können.
»Gerald, 1913«, sagt sie plötzlich und deutet auf einen Mann Mitte vierzig mit einem Doppelkinn und dicken Haarbüscheln in den Ohren.
Dieses Spiel spielen wir ständig. Auch wenn wir unseres Wissens nach die einzigen Wiedergeborenen auf der Welt sind, fragen wir uns immer, ob es nicht noch einen anderen Weg in die Unsterblichkeit gibt, vielleicht durch einen Stein der Weisen, der es einem erlaubt, seinen ursprünglichen Körper zu behalten. Wir beobachten die Menschen auf der Straße und im Fernsehen und überlegen, wer aus unserer Vergangenheit sie sein könnten.
Ich runzele die Stirn. »Nein, Gerald hatte Nasenhaare.«
»Ah, stimmt«, erwidert Charlotte schnaubend und nimmt einen Bissen von ihrem Mokka-Schokolade-Eis.
Da Freitagabend ist, zieht ein stetiger Strom an Wollmützen tragenden Teenagern und Singles auf dem Weg zu ihren Dates an uns vorbei, doch niemand kommt uns bekannt vor.
Nach ein paar Minuten spreche ich die Frage laut aus, die mich seit meiner Entscheidung zu sterben verfolgt. »Glaubst du an wirkliche Wiedergeburt?«
Charlotte sieht mich mit ihren haselnussbraunen Augen an. »Was meinst du damit?«
»Was passiert deiner Meinung nach mit den Seelen der Menschen, wenn sie sterben? Verpuffen sie einfach, oder werden sie in neuen Körpern wiedergeboren, ohne eine Erinnerung an ihre Vergangenheit? Uns gibt es schon so lange, würden unsere Seelen überhaupt wissen, wie sie weiterzuwandern hätten?«
Charlotte beißt von ihrer Waffel ab und kaut nachdenklich. »Du weißt, was Cyrus dazu sagt.«
Das weiß ich in der Tat. Er hat mir seine Theorie 1666 dargelegt, als wir während des großen Brandes in London in einem Boot auf der Themse saßen. Während wir zusahen, wie die Welt um uns herum brannte, gestand ich ihm, manchmal sterben zu wollen, um zu meinen Eltern in den Himmel zu kommen. Da flammte seine Wut plötzlich auf, das Feuer loderte in seinen Augen, und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich wirklich Angst vor ihm.
»Die Seele ist nur eine Konzentration von Energie, die durch den Willen oder in unserem Fall durch jahrelange Übung zusammengehalten wird«, sagte er mit Nachdruck. »Unsere wiedergeborenen Seelen sind nicht wie die menschlichen. Sie sind stärker.«
»Aber …«, setzte ich an.
Seine Fingernägel bohrten sich so fest in meinen Arm, dass die Wunden zu bluten begannen. »Es gibt für Menschen kein Leben nach dem Tod, aber deine Seele ist stark. Viel zu stark. Wenn du getötet wirst, Seraphina, wird deine Seele weiterwandern wollen, aber nach all den Jahren, in denen sie nicht vollständig war, wird sie nicht wissen, was sie tun soll. Du wirst zu einem hungrigen Geist werden, der nicht mit der realen Welt in Verbindung treten kann.«
Die Vorstellung, als Geistwesen auf der Erde zu bleiben, erschreckte mich, und ich drängte mich schutzsuchend an Cyrus, während meine Heimatstadt um mich herum zerfiel.
Doch jetzt, da ich meiner eigenen Sterblichkeit ins Auge blicke, muss ich mich fragen: Woher will er wissen, was danach kommt? Hat er das alles nur gesagt, damit ich aus Angst bei ihm bleibe und er nicht allein ist?
»Es ist mir egal, was Cyrus sagt«, antworte ich, während ich ein junges Paar beobachte, das sich kurz unter einer Straßenlaterne küsst. »Ich will wissen, was du denkst.«
In der Fensterscheibe sehe ich, wie Charlotte die Mundwinkel nach unten zieht. Wir machen uns nur selten über Cyrus lustig, selbst wenn er nicht anwesend ist, und auch jetzt ist es ihr nicht recht.
Dennoch antwortet sie: »Ich vermute, alles ist möglich.« Sie schlägt die Augen nieder und flüstert: »Manchmal hoffe ich, dass Jack immer noch irgendwo da draußen ist.«
Ich berühre ihren Arm. »Ich suche auch nach meiner Mutter.«
Schweigend essen wir unser Eis, hören dem Brummen der Gefriertruhen zu und dem Mädchen hinter dem Tresen, das fröhlich in sein Telefon kichert und sich der Tatsache nicht bewusst ist, dass zwei erfahrene Mörderinnen mit ihr im Raum sind.
Dann deutet Charlotte nach draußen. »Seamus aus Irland, 1878!«
Ich runzele die Stirn. »Was, das Eichhörnchen?«
»Ja! Er hat immer Essen gehortet. Und seine Schneidezähne waren ungewöhnlich lang«, sagt sie schadenfroh.
»Du bist schrecklich«, erwidere ich lachend.
»Aber du liebst mich trotzdem.« Sie wird ernst. »Sera, ich weiß, dass du wegen morgen nervös bist. Alles wird gutgehen, das verspreche ich dir.«
Auf einmal sitzt mir ein Kloß in der Kehle, und ich sehe sie nicht an, aus Angst, ich könnte mich sonst verraten.
»Du hast das doch schon hundertmal gemacht«, fährt sie fort. »Cyrus wird dafür sorgen, dass dein neuer Körper perfekt ist.«
»Findest du denn nicht, dass es falsch ist?«, forsche ich weiter. »Wieso sollte es uns zustehen, über Leben und Tod von anderen zu entscheiden?«
»Weil wir sind, was wir sind, Sera. Diese Wahl treffen wir alle. Ich wünschte, jeder wäre so wie wir.« Eines sagt sie allerdings nicht, nämlich: »Ich wünschte, Jack hätte wie wir sein können.« Es war schon schwer genug, Cyrus dazu zu bewegen, Charlotte zu verwandeln. Ihren Bruder hätte er niemals akzeptiert.
»Hm«, erwidere ich nur, weil ich an unserem letzten gemeinsamen Abend nicht mit ihr streiten will. Ich habe sechshundert Jahre gebraucht, um mich mit dem Tod abzufinden. Es steht mir nicht zu, Charlotte zu drängen. »Los, gehen wir heim. Ich hätte Lust, Während du schliefst anzuschauen.«
»Oh bitte, nicht schon wieder«, stöhnt Charlotte.
»Doch! Es ist mein Lieblingsfilm.« Ich stelle mich mühsam auf meine zitternden Beine und winke dem blauhaarigen Mädchen zum Abschied zu.
Sie ist so in ihr Telefongespräch vertieft, dass sie unseren Aufbruch erst bemerkt, als die Kuhglocke über der Tür laut klingelt. »Kommt bald wieder!«, ruft sie uns nach, wie sie es bei jedem Kunden macht.
Der Wind hat aufgefrischt und bringt einen leisen Hauch von Herbst mit sich, ein Geruch, den ich immer schon mit allerlei Möglichkeiten assoziiert habe.
»Na gut«, lenkt Charlotte ein und läuft raschelnd durch einen Laubhaufen auf dem Gehsteig. »Schauen wir eben Während du schliefst, aber danach will ich Casablanca sehen.«
»Wie, schon wieder?«, ziehe ich sie auf. Ihr Ellbogen landet freundschaftlich in meiner Seite, und wir lachen. Ich hake mich wieder bei ihr ein und ziehe sie an mich. »Man weiß es nicht, Char. Vielleicht ist Jack in diesem Moment ja bei uns.«
Charlotte hebt eine rote Augenbraue und lächelt wehmütig. »Vielleicht.«
Während wir nach Hause gehen und ich mich auf meine Freundin stütze, wünsche ich mir, dass diese Nacht, ebenso wie unsere Freundschaft, niemals zu Ende gehen möge. Doch dann konzentriere ich mich wieder auf den Moment. Denn auch wenn ich sechshundert Jahre dafür gebraucht habe, weiß ich es jetzt besser. Man kann die Zeit nicht überlisten. Alles – selbst ich und eines Tages sogar Charlotte – muss einmal ein Ende haben.