Kapitel 32
Guten Morgen«, begrüße ich am Dienstag fröhlich Mrs. Morgan, als ich in die Küche komme. Außerdem drücke ich ihr noch einen Kuss auf die Wange.
Mr. Morgan blickt von seiner Zeitung auf. »Oho. Als du das letzte Mal so glücklich warst, ist Noah an der Tür aufgetaucht und hat sich verdächtig wie dein Freund benommen. Was kommt jetzt? Habt ihr euch verlobt?«
»Haha.« Ich beuge mich hinunter und küsse auch ihn auf die Wange. »Ich habe einfach nur gute Laune. Es ist ein wunderschöner Tag.« Ich hoffe, ich klinge nicht so falsch, wie ich mich fühle.
Mit dem heutigen Abend wird sich ihr Leben unwiderruflich ändern. Sie werden wissen, dass es ein Davor gab – eine Zeit, als sie zwei glückliche Kinder hatten – und ein Danach, als ihnen nur noch eines blieb. Sie werden auf das Davor zurückblicken und sich fragen, warum sie nicht jeden Moment ausgekostet haben. Sie werden sich fragen, warum sie sich je über belanglose Probleme Sorgen gemacht, warum sie nicht erkannt haben, wie gut es ihnen ging. Ich kann ihnen die Trauer, die sie empfinden werden, nicht ersparen, aber ich kann versuchen, sie mit guten Erinnerungen zu verlassen.
»Ich muss gehen«, sagt Mrs. Morgan und trinkt ihren Kaffee mit einem großen Schluck aus. »Ich habe zugesagt, heute früh im Büro zu sein.«
»Ich komme mit dir«, sagt Mr. Morgan und schiebt seinen Stuhl zurück.
Sie sind schon fast aus der Tür, als ich mich räuspere. »Mom, Dad?«
Erwartungsvoll drehen sie sich um.
»Ich will nur, dass ihr wisst, dass ich euch liebe. Zweifelt bitte nie daran.« Meine Stimme zittert.
Beide sehen überrascht, aber auch gerührt aus.
Mrs. Morgan breitet die Arme aus, und ich stürze mich hinein. »Nicht so sehr, wie wir dich lieben«, antwortet sie.
Nachdem die beiden zur Arbeit gefahren sind, kehre ich in Kaileys Zimmer zurück. Dies wird mein letzter Morgen hier sein. Ich hole den Rucksack aus seinem Versteck unter dem Bett und setze mich auf den limonengrünen Überwurf.
Ich sehe mich in dem Raum um, nehme alles in mich auf: Kaileys Bilder, die Fotos von ihr und ihren Freundinnen, ihre Kleidung, ihr Parfüm. Ich will ihr danken, dass ich hierbleiben und ihr Leben führen durfte, wenn auch nur für kurze Zeit. Das Zimmer in den Farben einer Pfauenfeder ist still, es hört mir zu. Es ist Kailey. Was würde ich zu ihr sagen, wenn ich könnte?
Kailey, ich habe dich nie persönlich kennengelernt, aber ich kenne dich. Ich habe in deinem Bett geschlafen und dein weißes Kleid getragen. Ich hoffe, dass du frei und glücklich bist, dass du die Farbe von Wasser hast – von türkisfarbenem Wasser, wie die Wände in deinem Zimmer. Dass der Wind warm ist und du ein Teil von ihm bist. Dass du deine Bilder vollenden kannst – der Himmel sei deine Leinwand – und sie den anderen Geistermädchen zeigst. Dass du noch mehr Windspiele anfertigst, dieses Mal jedoch das silberne Sternenlicht für deine Glocken benutzt. Ich hoffe, dass du sie an weichen grünen Weinranken befestigst, die immer blühen. Ich wünsche dir Frieden.
Ich nehme das Jasminparfüm und drehe es in der Hand hin und her. Es fühlt sich warm an. Ich halte es mir an die Nase und atme den süßen Duft ein. Dann packe ich die Flasche in meinen Rucksack – Kailey würde es verstehen.
Ich stehe auf und verlasse das Zimmer, schließe die Tür leise hinter mir. Dann gehe ich den Flur entlang.
Bryan sitzt an seinem Computer. Als ich den Kopf in sein Zimmer strecke, reißt er sich die Kopfhörer herunter.
»Hey«, begrüßt er mich. »Müssen wir los?«
»Nein, noch nicht.« Ich halte inne, bevor ich herausplatze: »Du solltest Leyla fragen, ob sie mit dir ausgeht.«
Er errötet. »Echt? Ich dachte, ich darf mich nicht mit deinen Freundinnen treffen.«
Ich gehe zu ihm und zerzause ihm das Haar. »Das Leben ist kurz«, erkläre ich. »Genieß es.«