Kapitel 7

Taryn läuft genau vor mir her, mal mehr und mal weniger deutlich im Nebel zu sehen. Rote und orangefarbene Lichter beleuchten ihre dünne Gestalt von hinten. Sie stolpert, verliert das Gleichgewicht – betrunken, wenn nicht zugedröhnt.

Ich halte mich im Schatten und folge ihr leise, während die Straßen auf den Oakland Estuary zulaufen, jene Bucht, die Oakland und Alameda trennt. Kein Mensch ist weit und breit zu sehen, trotz der neu gebauten Wohnkomplexe, die unverkauft über den verrottenden Lagerhäusern aufragen.

Das Mädchen geht unsicher auf einen der stählernen Verladekräne zu. Sie sehen eher wie Tiere denn wie Maschinen aus, mit ihren vier Beinen und dem langen Arm über dem Wasser, der einem Kopf ähnelt, der auf das Meer hinausblickt.

Taryn beginnt, die Leiter emporzuklettern, und rutscht immer wieder ab, bis sie endlich oben angekommen ist. Sie nähert sich dem Rand des Krans, hoch über dem trüben Wasser. Einen Herzschlag später folge ich ihr, was mich nahezu übermenschliche Kraft kostet.

Der Wind ist stark hier oben, er peitscht mir die Haare ums Gesicht und dämpft meine Schritte. Ich bin unsicher auf den Beinen, aber ich will das Mädchen unbedingt heil wieder auf den Boden zurückbringen.

»Taryn?«, frage ich leise, als ich sie erreicht habe. Früher hätte ich sie verfolgt, heute hoffe ich, sie retten zu können.

Sie dreht sich abrupt um, auf ihrem Gesicht leise Überraschung. Ihre Wangen sind eingefallen, ihre Augen riesengroß. Früher muss sie richtig hübsch gewesen sein.

»Was willst du?«, fragt Taryn und schlingt die Arme um den Oberkörper.

Nach einem Moment antworte ich: »Wirst du springen?«

Taryn lässt langsam den Atem entweichen und die Schultern sinken. »Was kümmert’s dich?« Tränen schimmern in ihren grünen Augen.

Ich suche in meinem Herzen, will das Richtige sagen. Doch mir fallen nur sechshundert Jahre Plattitüden ein, weshalb ich mit einer Frage antworte, die ich mir selbst auch gestellt habe, als ich beschloss zu sterben. »Brauche ich denn einen Grund?«

Sie dreht sich weg, und ich folge ihrem Blick über das Wasser. Die funkelnden Lichter von San Francisco durchdringen kaum den Nebel, verwaschen und verschwommen wie die Milchstraße sehen sie aus. Als ich klein war, lagen meine Mutter und ich oft im Gras hinter unserem Haus in London und schrieben meinen Namen in den Himmel, wie ein Bild, bei dem man Punkte verbinden musste. Seraphina heißt Engel, hat sie mir immer gesagt. Siehst du es nicht in den Sternen geschrieben?

»Hast du eine Familie?«, frage ich und trete so nahe an Taryn heran, dass ich sie berühren könnte.

»Ich habe niemanden«, erwidert sie, während ihre Haare im Wind flattern.

Ich strecke die Hand nach ihrer dünnen Schulter aus, berühre sie und sehe ihr tief in die grünen Augen. »Nicht einmal den Jungen in der Bar?«

»Den schon gar nicht«, erwidert Taryn mit Nachdruck.

Ich nicke verstehend. »Der Tod wird dir keinen Frieden bringen«, verheiße ich ihr. »Er ist bloß eine große Leere, ein Nichts. Du willst nur dann wirklich sterben, wenn du dich nach diesem Nichts sehnst. Wenn du dagegen nicht allein sein willst, heißt das, dass du noch am Leben bist. Dass es noch Hoffnung gibt.«

»Wer bist du?«, fragt sie, und ich kann ihre Stimme im Wind kaum hören.

Ich denke an mein unnatürlich langes Leben zurück – meine Kindheit in London, das Schwimmen im Meer in Südfrankreich, meine Ankunft in San Francisco in den sechziger Jahren – und all die Namen, die ich getragen habe, von Seraphina bis Jennifer. Dann sehe ich ihr in die Augen. »Ich bin niemand.«

Sie tritt einen Schritt zurück, näher an den Rand. Ich blicke nach unten auf den harten, glänzenden Asphalt etwa zwölf Meter unter uns, der vor Feuchtigkeit glitzert.

»Taryn«, sage ich eindringlich. »Du kannst nicht fliegen. Die Sterne sind nicht deine Freunde. Kletter wieder runter, geh zurück in die Bar. Lern neue Leute kennen.«

Sie zögert, kaut unsicher auf ihrer Unterlippe. Ich sehe, wie ihr Widerstand nachlässt. »Ich kann dir allerdings nicht versprechen, dass ich nicht später wieder hier stehe.«

»Das ist okay. Du lebst von einem Augenblick zum anderen. Wenn die Zeit zu sterben gekommen ist, wirst du es wissen.«

Taryn kehrt zu mir zurück, und wieder lege ich ihr die Hand auf die Schulter. Zum ersten Mal sehe ich Angst in ihren Augen. Gut. Angst bedeutet Lebenswillen.

»Kletter runter«, sage ich und stoße sie leicht an.

Sie gehorcht, greift mit ihren kleinen Händen nach den Sprossen und bewegt sich langsam und vorsichtig nach unten.

Mit der Hand an der Stirn beobachte ich, wie Taryn in der nebligen Nacht verschwindet, wie ihr rotes T-Shirt wie ein Herz entschlüpft. Als sie außer Sicht ist, atme ich erleichtert aus. Heute Nacht habe ich ein Leben gerettet. Zwei sogar, wenn ich Claudia dazurechne. Das macht zwar längst nicht all die Leben wett, die ich genommen habe, und auch nicht all die geliehene Zeit, mit der ich gelebt habe. Aber es ist besser als nichts.

Ich gehe einen Schritt auf den Rand zu, trete in Taryns Fußstapfen. Wenn ich mit Anlauf springe, sollte ich das Wasser erreichen können. Zuerst jedoch hole ich das Buch von Cyrus und ein Feuerzeug aus meiner Tasche. Dieses Wissen wird mit mir sterben. Der Einband ist aus leuchtend blauem Leder. Er erinnert mich an Cyrus’ Augen, die ich schon in jeder Blauschattierung gesehen habe. Zurzeit sind sie eisblau, wie der schneebedeckte Teil eines Gletschers. Als ich ihn damals in London kennenlernte, hatten sie die Farbe dieses Bucheinbandes. Das tiefe Blau des Morgenhimmels vor dem Sonnenaufgang. Mit einer fließenden Bewegung schlage ich das Buch zwischen meinen Füßen gegen die Metallplattform, und das Schloss bricht auf.

Die Seiten bestehen aus dickem, weichem Pergament. Der Geruch katapultiert mich zurück in die Zeit, als ich mit meinem Vater in seinem Arbeitszimmer saß, während er seine Bilanzen führte. Dann erkenne ich mit sinkendem Mut, dass die Seiten nicht brennen werden. Mein Vater hat mir erklärt, dass Pergament aus Tierhaut hergestellt wird und nicht wie modernes Papier aus Pflanzenfasern. Daher hat das Buch, das mindestens so alt ist wie Cyrus, die Jahrhunderte so gut überstanden.

Ich lasse die Hand über die Seiten gleiten. Sie beinhalten Texte auf Latein, Altgriechisch, Altenglisch und in einigen anderen Sprachen, die ich nicht erkenne, illustriert mit astrologischen und wissenschaftlichen Symbolen: das Ergebnis von Cyrus’ alchemistischen Studien. Auf einer Seite befindet sich eine grobe Skizze zweier Gestalten, die sich gegenüberstehen und durch eine geflochtene Schnur am Bauchnabel verbunden sind. Sie ist sorgfältig mit Tinte schraffiert. Ich erkenne es sofort: die silberne Schnur, die unsere Seele mit unserem Körper verbindet.

Ich kann das Buch nicht verbrennen, aber ich kann es mit ins Meer nehmen. Das Wasser wird das Seinige tun und die Tinte fortwaschen. Das Buch fest an die Brust gedrückt, kneife ich die Augen zusammen und vergieße ein paar Tränen, als ich meine Abschiedsworte spreche – an meine Ersatzfamilie, die Wiedergeborenen, Charlotte und meine Mutter gerichtet, von der ich mich bei meinem ersten Tod nicht verabschieden konnte. Ich koste den Moment voll und ganz aus, während der Wind wie eine Hymne durch den Kran pfeift.

Ein letztes Mal denke ich an die Dinge, die mir während meines langen Daseins am wichtigsten waren.

Ich bin bereit.

Bevor ich mich in die Luft werfen kann, höre ich das Kreischen von über den Asphalt schlitternden Autoreifen und das Splittern von Glas durch die Nacht hallen wie einen Gewehrschuss. Eine verängstigte Mädchenstimme schreit laut auf. Ich wirbele herum, blicke panisch in die Dunkelheit. Nur eines kann solche Geräusche verursachen: ein Autounfall – ein tödlicher.

Taryn.

Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman
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