Kapitel 3
Am nächsten Morgen, dem Tag meiner Party, wache ich in einem leeren Haus auf. Ich habe nicht gut geschlafen, konnte einfach keine bequeme Schlafposition finden. Zu sehr ähnelt die kühle graue Bettwäsche meiner kränklich blassen Haut, außerdem stehen meine Knochen seltsam hervor.
Ich ziehe den weißen Frotteemorgenmantel über und gehe langsam durch die Wohnung. Sie ist modern eingerichtet, in neutralen Farbtönen, und ich passe nur zu gut hierher. In der Küche steht eine Kanne mit heißem Kaffee, daneben meine Tasse sowie eine schmale, hohe Vase mit einer einzelnen lilasamtenen Trichterwindenblüte. Sie ist der einzige Farbfleck in der gesamten Wohnung. Unter einem glänzenden silbernen Teelöffel liegt eine Nachricht. Mit steifen Fingern falte ich sie auf und erkenne Charlottes zarte Handschrift:
Guten Morgen, S., ich bin mit Amelia unterwegs. Die Männer sind im Club. Wollen wir uns später zusammen fertig machen?
Char
Ich nippe an meinem Kaffee und genieße die Wärme, die durch meinen Körper strömt. In Cyrus’ und meinem Badezimmer stehe ich vor dem Spiegel, lasse den Morgenmantel zu Boden fallen und betrachte mich emotionslos. Ich bin viel zu dünn, die Rippen treten deutlich hervor, und unter den Schlüsselbeinen liegen dunkle Höhlen. Ich sehe krank aus. Schwach. Dennoch verziehen sich meine spröden Lippen zu einem Lächeln. Sterben ist das Tapferste, Menschlichste, was ich in den sechshundert Jahren getan habe.
Nach einer heißen Dusche ziehe ich meine grüne, abgewetzte Lieblingshose und einen flauschigen Kapuzenpulli an und gehe in die Bibliothek. Sie ist verschlossen – niemand von uns hat es bisher gewagt, sie ohne die Erlaubnis von Cyrus zu betreten –, doch ich weiß, wo er den Schlüssel versteckt.
Die Bibliothek ist der einzige Raum im Haus, der nicht glatt und modern ist. Bücherregale bedecken die Wände vom Boden bis zur Decke. Sie enthalten ein Durcheinander aus handgebundenen Werken, genähten koptischen Buchrücken und uralten ledergebundenen Folianten. Ein Perserteppich in Rot und Türkis bedeckt den Boden, ein Souvenir aus dem Jahr, das wir im Iran verbracht haben. Das Zimmer riecht nach altem Papier und einem Hauch von Cyrus’ Seife, Vetiver und Zedernholz.
Das ist seine ganz persönliche Sammlung, ein Beleg für sein über Jahrhunderte hinweg angesammeltes Wissen. Sosehr Cyrus Fortschritt und Technik schätzt, kann doch nichts diese alten Bände ersetzen. Sie sind für ihn so etwas wie Glücksbringer, weshalb niemand von uns den Raum betreten darf. Die Bibliothek haben wir bei jedem unserer Umzüge in eine neue Stadt mitgenommen. Ich schaudere beim Gedanken an den Ärger, den wir damit auf der Reise von Barbados nach New Amsterdam hatten. Mindestens ein Mensch ist wegen dieser Bücher gestorben.
Ich lasse die Finger über die Buchrücken gleiten, bis ich das Gesuchte finde und einen schmalen Band aus dem Regal nehme. Er ist mit einem Schloss versehen, wie ein Tagebuch. Ich muss es nicht lesen, denn ich kenne den Inhalt schon: die Formel für das Elixier. Als Sohn eines Alchemisten hat Cyrus gelernt, den Trank herzustellen, mit dem man das silberne Band durchtrennt, das unsere Seelen an unsere Körper fesselt. Er trägt immer eine damit gefüllte Phiole um den Hals. Nur wenige Tropfen sind nötig, um einen Menschen in einen von uns zu verwandeln, einen Wiedergeborenen, eine Seele, losgelöst von einem bestimmten Körper und unsterblich, weil sie Leben nehmen kann. Wir brauchen das Elixier nur ein einziges Mal – danach können wir uns nach Belieben einen neuen Körper suchen.
Cyrus hat sich die Formel sicher eingeprägt. Vielleicht auch nicht – immerhin hat er seit beinahe hundert Jahren niemanden mehr verwandelt. Diese geringe Chance reicht mir.
Ich setze mich an seinen Schreibtisch und nehme einen cremeweißen Bogen Briefpapier zur Hand.
Lieber Cyrus,
ich habe dich einmal von ganzem Herzen geliebt und bin deshalb jahrhundertelang am Leben geblieben, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, von dir getrennt zu sein. Aber die Jahre haben uns verändert und leider nicht zum Besseren. Jeder Tod, für den wir verantwortlich sind, hat unsere Liebe Stück für Stück absterben lassen. Ich kann keinen Menschen mehr töten, nur damit ich weiterlebe. Wenn mein derzeitiger Körper stirbt, werde auch ich für immer gehen.
Bis zum nächsten Leben
Seraphina
Zurück in meinem Zimmer, falte ich das Blatt zusammen und verstaue es in der Tasche des Kleides, das ich heute Abend tragen werde. Alles ist an Ort und Stelle. Türen öffnen sich, Türen schließen sich. Ich muss nur hindurchgehen.
Als der Abend anbricht, ist der Nebel so dick, dass ich keine zehn Meter weit sehen kann. Die Straßenlaternen leuchten bernsteinfarben durch den Schleier und erinnern mich an Minerale in einem Feuer. Cyrus hat mich einmal mit bunten Flammen anstatt Blumen überrascht, und nichts deutete auf die leuchtenden Farben hin, die das blasse Pulver in seiner Handfläche in das Feuer zaubern würde. Sie kamen mir wie Magie vor, diese kleinen Flammen, die rot und lila glühten wie die Augen einer Katze auf ihrem nächtlichen Streifzug. Dabei war es nichts als Chemie – Borax, Kupferchlorid und Kaliumsulfat. Jetzt weiß ich es.
Kurz vor zehn Uhr abends treffen Charlotte und ich im Emerald City ein. Die anderen sind schon den ganzen Tag dort und bereiten alles vor. Vor den Türen hat sich bereits eine ansehnliche Menschenmenge versammelt und hofft auf die Gnade der Türsteher, die gewissenhaft die Gästeliste überprüfen. Jared wirft mir einen anerkennenden Blick zu und macht uns den Weg frei.
Ich friere in meinem austernfarbenen Seidenkleid, einer modernen Variante jenes Kleides, in dem mein ursprünglicher Körper vor so vielen Jahren gestorben ist. Ich war immer ein Fan von Symmetrie, und meine Garderobe für den Abend scheint mir ein passender Tribut an meine erste Verwandlung zu sein. An der Innenseite meines BH-Trägers ist ein kleiner Autoschlüssel befestigt, der flach über dem Herzen liegt. Ich trage keinen Schmuck, bis auf den Giftring, in dessen Geheimfach sich mein Abschiedsgeschenk für Cyrus befindet.
Als ich den Club betrete, bin ich sofort umhüllt von lauten Stimmen und dröhnenden Bässen. Langsam gehe ich die Treppen hinauf, mein Herz schlägt nur noch schwach. Charlotte legt mir stützend eine Hand auf den Rücken.
»Sera, du solltest wirklich nicht mehr lange warten, bis du dir einen Körper aussuchst«, flüstert sie besorgt. »Du lässt es darauf ankommen.«
»Du kennst mich doch«, sage ich mit einem gezwungenen Lachen. »Ich suche immer das Risiko.«
Cyrus wartet beim Eingang auf uns. Seine Augen funkeln erwartungsvoll unter den niedrig hängenden Lampen. »Seraphina, du bist so wunderschön«, raunt er, als er mich mit seinen starken Armen an sich zieht. Sein würziger Duft umgibt mich. Die Erinnerung an den Maskenball steigt in mir auf, aber ich verdränge sie sofort wieder. Die Nostalgie ist mein Feind. Ich darf nicht zurückblicken.
»Es ist überwältigend«, sagt Charlotte und streicht ihr grünes, mit Pailletten besetztes Kleid glatt. »Ich war noch nie hier.«
Der Club ist ganz in Grüntönen gehalten – samtbezogene Sofas in der Farbe feuchter Kiefernnadeln, aufwendig bemalte Glaskronleuchter in hellem Gelbgrün, Tapeten in Türkis. Bedienungen tragen Tabletts mit Absinth und Midori-Melonenlikör in kleinen Kristallgläsern umher.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich eine Party wie diese in vollen Zügen genossen – bis in den Morgen hinein tanzen, durch die Menge gleiten, Augenkontakt mit Cyrus aufnehmen und zusammen entscheiden, wer mein nächstes Opfer sein soll. Dieser Part ist unleugbar aufregend. Das Versprechen, meinen Körper um jeden Preis ändern zu können. Als neuer Mensch den Tag begrüßen, der Welt ein völlig unbekanntes Gesicht präsentieren. Wenn doch nur meine Erinnerungen ebenso leicht abzuwerfen wären.
»Dein Kleid passt sehr gut hierher«, sage ich zu Charlotte. »Im ersten Band von Der Zauberer von Oz ist die Smaragdstadt nicht grün. Der Zauberer verpasst allen Leuten Brillen mit grünen Gläsern, deshalb denken sie, es wäre so.«
Cyrus runzelt die Stirn, als ob ich ihn für seine Wahl der Lokalität kritisiert hätte.
Rasch lege ich ihm die Hand auf den Arm. »Ich hole mir mal ein Glas Champagner.«
Seine Miene hellt sich auf. »Ja, hol dir einen Drink und vergiss nicht … dich umzusehen.« Ein träges Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus, begleitet von einem wissenden Blick.
Mein Magen krampft sich zusammen, aber ich zwinge mich dazu, sein Lächeln zu erwidern.
Charlotte und ich überqueren die Tanzfläche, auf der sich die Leiber im Takt der Musik bewegen. Der DJ spielt einen Remix des alten Neil-Young-Songs »Heart of Gold«, der mich unsäglich traurig macht.
I crossed the ocean for a heart of gold … And I’m getting old.
Charlotte sieht sich um, ob ich ihr auch folge. »Sollen wir nach dem Lied tanzen?«, ruft sie laut.
Ich packe ihre Hand und drücke sie. Ja.
Sie bestellt beim Barkeeper zwei Midori Sour mit Melonenscheiben, und wir prosten uns zu. »Auf Neuanfänge und alte Freunde«, sagt sie.
»Zum Wohl«, erwidere ich lächelnd, und wir stoßen an. »Freundinnen für immer.«
Die kalte, fruchtige Süße des Melonenlikörs fließt prickelnd durch meine Kehle, und ich erinnere mich an den Sommer, den wir in Alabama verbracht haben. Cyrus hat uns ein verfallenes Farmhaus besorgt mit einem leuchtend roten Stall und einem riesigen Melonenfeld. Charlotte und ich haben Stunden im kühlen Schatten des Stalls verbracht, umgeben vom Duft nach Heu und Pferden, eine Wassermelone nach der anderen verzehrt und uns bei jedem klebrigen schwarzen Kern etwas gewünscht.
Ich wünsche mir, mich zu verlieben.
Ich wünsche mir, für immer zu leben.
Ich wünsche mir, dass wir für immer Freundinnen bleiben.
Jetzt habe ich nur einen Wunsch für Charlotte. Ich umfasse ihr Handgelenk und sehe sie eindringlich an. »Charlotte, du musst Sébastien sagen, was du für ihn empfindest. Versprich mir das.«
Ihr Lächeln verblasst. »Sera, du weißt, was Cyrus dazu sagen würde.«
»Vergiss Cyrus.« Als ich ihren schockierten Gesichtsausdruck bemerke, spreche ich sanfter weiter. »Was ist denn schon ein ewiges Leben ohne Liebe?«
Cyrus gesellt sich zu uns und legt mir den Arm um die Taille. Ich drehe mich leicht zur Seite, damit er das Papier in meiner Tasche nicht bemerkt. »Ich möchte dir jemanden vorstellen«, flüstert er. Er hat also seine Wahl bereits getroffen. Das ging aber schnell.
Ich atme tief durch und nehme ihm das leere Weinglas aus der Hand. »Ich besorge dir noch schnell Nachschub.«
Er küsst mich seitlich auf den Hals und nickt dann in Richtung eines Mädchens, das allein unter einem Kronleuchter steht. Das Licht fällt sternförmig auf ihr glänzendes kastanienbraunes Haar. Sie sieht mir unglaublich ähnlich, ein Ebenbild meiner äußeren Merkmale.
Nachdem Cyrus gegangen ist, ziehe ich Charlotte in eine feste Umarmung. »Danke, dass du meine beste Freundin bist, Char. Wirklich!« Als ich sie freigebe, stehen mir Tränen in den Augen, die ich rasch wegblinzele.
»Meine sensible Seraphina.« Sie streicht mir das Haar aus dem Gesicht und legt für einen Moment ihre Hand auf meine eiskalte Wange. »Ich freue mich auf dein neues Du, das ich schon bald sehen werde.«
Ich schlucke angestrengt, als der Barkeeper ein Glas Rotwein vor mir abstellt. Ich nehme es und bahne mir einen Weg durch die Menge zu Cyrus und dem Mädchen. Als ich mir sicher bin, dass mich niemand beobachtet, klappe ich das Geheimfach des Giftrings auf und schütte den Inhalt mit einer geübten Bewegung in das Glas. Dann gehe ich rasch weiter, begegne Cyrus’ Blick. Er wirkt sehr zufrieden.
Mit einem Mal tut er mir leid. Cyrus, meine geliebter Alchemist, der Mann, der die Magie Wirklichkeit werden ließ, der Mann, der für die Illusion lebt, der sagt: Das Feuer brennt nur für dich violett, Seraphina. Cyrus, der mich so fest hält, dass ich zu ersticken glaube, der mich zu einer Mörderin gemacht hat, der mich lieber selbst töten als mich verlieren würde. Viele Male hat er mir das schon gesagt. Doch nach heute Abend werde ich weg sein – und wir beide werden zum ersten Mal seit Jahrhunderten allein sein.