Kapitel 8
Die einsetzende Stille umhüllt mich, eine dunkle, formlose Präsenz, die mich in Richtung der Leiter treibt. Ich muss überprüfen, ob die Stimme Taryn gehört hat, ob meine Wiedergutmachung, meine letzte Tat auf Erden, fehlgeschlagen ist.
Die Zeit ist von größter Wichtigkeit, und meine Kraft schwindet mit jeder Sekunde, weshalb ich das Buch rasch zurück in die Tasche packe und beides auf dem Kran zurücklasse, um so schnell wie möglich nach unten klettern zu können. Meine Turnschuhe rutschen auf den feuchten Stangen ab, mein Atem geht abgehackt und keuchend. Ich taumele auf die verlassenen Straßen zu.
Der beißende Geruch nach Rauch und verbranntem Gummi, vermischt mit Benzin, peinigt meine Nase. Mein Puls rast, meine Beine zittern, mein Sichtfeld verschwimmt wieder. Ich biege um eine Ecke und stolpere über ein Schlagloch in dem glitschigen Asphalt. Mein Knöchel gibt unter mir nach.
»Verdammt«, schimpfe ich leise vor mich hin.
Vor mir sehe ich das Auto. Flammen schlagen aus der Motorhaube und werfen seltsame orangefarbene Schatten auf die rostigen, verbeulten Türen des Ladedocks. Das Auto steht auf allen vier Rädern, doch die von einem Spinnennetz aus Rissen überzogene Windschutzscheibe deutet darauf hin, dass sich der Wagen mindestens einmal überschlagen haben muss. Der Kupfergeruch von Blut steigt mir in die Nase. Schwindelerregend, überwältigend – er ist überall.
Ich packe den Türgriff, sammle meine letzten verbliebenen Kräfte und ziehe daran. Als er nicht nachgibt, habe ich einen Moment lang das Gefühl, gar nicht hier, sondern tot zu sein, ein Geistermädchen, das lächerlicherweise versucht, Dinge in der realen Welt zu bewegen. Ich schließe die Augen, stelle mir den windumpeitschten Kran vor und ziehe ein letztes Mal. Metall kratzt über Metall und schickt einen misstönenden Nachhall meinen Arm hinauf, als die Tür endlich nachgibt.
Mir stockt der Atem, als sich Erleichterung mit Entsetzen paart. Nicht Taryn sitzt in dem Wagen, sondern ein junges Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren mit zerzausten blonden Locken und einem Silberarmband um das gebräunte Handgelenk. Blut läuft ihr über das Gesicht und durchtränkt den bestickten Kragen ihrer weißen Bauernbluse wie rote Blüten.
Sie ist noch nicht tot, eine Ader pocht noch schwach an ihrem Hals. Doch sie ist kurz davor. Ihr rechter Arm und ihr rechtes Bein scheinen gebrochen zu sein, ebenso wie ihr Hals, und aus einer Platzwunde am Kopf strömt Blut. Auf und ab, auf und ab hebt und senkt sich ihre Brust zusammen mit ihren kleinen, mitleiderregenden Brüsten. Sie hustet, und ein rubinroter Tropfen Blut quillt aus ihrem Mundwinkel. Ein letzter Atemzug, dann ist sie still.
Benommen halte ich ihr zwei Finger an den Hals. Kein Puls. Eine leise Stimme in meinem Hinterkopf sagt mir, dass ich ihr nicht mehr helfen kann, trotzdem lege ich die Arme um die Taille des Mädchens und ziehe so fest ich kann. Ich höre ein metallisches Knacken, als ich sie vom Fahrersitz hieve und auf die Straße lege, und ich kann nur hoffen, dass ich sie nicht noch mehr verletzt habe. Sie ist klein, aber ich bin so schwach, dass ich von der Anstrengung beinahe ohnmächtig werde. Ich knie mich neben sie und drücke ihr den Kopf nach hinten. Dann lege ich meine von ihrem Blut klebrigen Hände auf ihr Herz und versuche, sie wiederzubeleben. Ich halte ihr die Nase zu, bedecke ihren Mund mit meinem und hauche ihr meinen Atem ein.
Ich will sie unbedingt retten, egal wie unwahrscheinlich es ist, dass es mir gelingt. Just in dem Moment, als meine kalten, sterbenden Lippen ihre warmen berühren, überwältigt mich beinahe der Drang, ihren Körper zu nehmen.
Nein!, befehle ich mir und reiße mich von ihren Lippen los, um sofort wieder mit der Herzmassage zu beginnen. Der Geruch ihres Jasminparfüms ist jedoch so stark, und ich bin so benommen, dass mein Instinkt die Oberhand gewinnt, als ich die Lippen wieder auf ihren Mund lege. Anstatt ihr Luft einzuhauchen, atme ich hungrig ein, wieder und wieder. Neue Kraft fließt durch meine Adern, ein Gefühl, als ob man gleichzeitig hinfällt und aufsteht, wie eine Schaukel auf einem Spielplatz. Nach ein paar Minuten schmecke ich etwas Süßes – ihre Essenz.
Ich versuche aufzuhören, aber ich habe keine Kontrolle über mich. Tränen strömen mir übers Gesicht, als ich dem Mädchen die Seele heraussauge und ihre Lebenskraft durch meinen Mund fließt, als ihre Süße mich durchdringt und schließlich abebbt, während sie in den Äther aufsteigt. Ein Gefühl wie tausend elektrische Schläge durchzuckt meinen Körper, blaue Funken tanzen zwischen ihrer Stirn und meiner. Ich denke an das Wetterleuchten, die weit entfernten Lichtblitze am nächtlichen Himmel. Im Sommer sind sie sehr verbreitet, diese Blitze ohne Donner. Ich sehe Wellen, die an den Strand eines einsamen Planeten schlagen, irgendwo im Weltraum. Kleine silberne Glöckchen, die Stimmen von Sternen, die eine Hymne singen. Das Gesicht meiner Mutter erscheint vor meinem geistigen Auge, aber sie sieht anders aus als in meiner Erinnerung. Ihre Haut ist glatt, gläsern und glänzend, himmlische Lichter bilden ihre Iris. Ihr dunkles Haar, ein Spiegelbild meiner selbst, ist aus der Leere des Weltraums gemacht; Kometen ziehen durch die ebenholzfarbenen Locken. Ihr Mund öffnet sich, doch kein Laut kommt über ihre Lippen. Es spielt keine Rolle, ich kann ihre Worte lesen. Noch nicht, Seraphina, sagt sie, noch nicht.
Die Funken werden erst lila, dann weiß. Sie bewegen sich immer schneller und schwindelerregender, und ich erkenne mit einem Schlag, dass ich mich schwer verschätzt habe. Ich habe noch nie einen Körper bewohnt, der dem Tode so nahe ist, und ein heißer Schmerz schießt mir durch die gebrochenen Glieder, selbst als ich schon fühle, wie meine unsterbliche Essenz die Wunden langsam heilt. Ich rolle mich auf dem Asphalt zur Seite und sehe, dass mein alter Körper bereits zu Staub zerfallen ist und vom Wind davongetragen wird.
Das weit entfernte Heulen von Sirenen dringt in mein Bewusstsein. Ich muss hier weg, bevor die Polizei eintrifft. Und ich muss unbedingt meine Tasche holen. Darin ist nicht nur mein Ausweis mit dem Namen, den Cyrus mir gegeben hat, sondern auch das Buch, das niemals in menschliche Hände fallen darf.
Unsicher rappele ich mich auf und mache einen zittrigen Schritt vorwärts. Nur ein paar Meter noch. Der Geruch nach Blut und Benzin bereitet mir Übelkeit, und ich lasse mich auf die Knie fallen. Da sehe ich, dass Taryn mich beobachtet.
Mir ist schwindlig, ich bin außer mir – wie viel hat sie gesehen? – und versuche, nach ihr zu rufen. Aber da biegen schon die flackernden Lichter eines Streifenwagens um die Ecke, und sie verschwindet in einer Gasse. Ich will mich zwingen aufzustehen, zu dem Kran zu gehen und meine Tasche zu holen, doch der Schmerz ist überwältigend. Meine Augen schließen sich, es wird schwarz um mich herum.