12 Fürsprecherin der Gerechtigkeit

Die Welt, in die sich Coretta Scott King nach Martins Tod stürzte, unterschied sich sehr stark von der Welt, der sie zusammen in Montgomery gegenübergestanden hatten. Zum Teil lag dies daran, dass historische Gerichtsverfahren und Gesetzesentscheidungen die Rechte für die Afroamerikaner durchsetzten, für die die Bürgerrechtsbewegung lange gekämpft hatte. Aber die Vereinigten Staaten hatten sich tief in den Vietnamkrieg verstrickt, eine kriegerische Auseinandersetzung, die unverhältnismäßig viele schwarze Leben forderte und die Regierung um die finanziellen Mittel brachte, die zur Bekämpfung der Armut und der damit zusammenhängenden Probleme nötig gewesen wären. Die wachsende Unzufriedenheit unter den Afroamerikanern, die in den amerikanischen Städten nach Martins Ermordung vulkanartig ausbrach, zerstörte die schwer errungene Einigkeit über die beste Vorgehensweise. Neue Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt und unter anderen Minderheiten zogen die Aufmerksamkeit auf sich.

Als sie allein in die Welt hinaustrat, trug Coretta eine klare und unerschütterliche Vision von Gerechtigkeit in ihrem Inneren, während die Schauplätze, an denen sie sich aufhielt, oft widersprüchlich und verwirrend waren. Obwohl sie sich immer zutiefst Martins Anliegen verpflichtet fühlte, brachte sie doch eine ganze eigene Hingabe mit. Sie dachte oft an ihre prägenden Erfahrungen in der Kindheit und während des Studiums zurück und sagte: „Es war auch schon meine Sache, bevor ich ihm begegnete.“ Mit zahllosen Reisen, Reden und Konferenzen im Laufe der nächsten 35 Jahre nach seinem Tod unterstützte die First Lady der Bürgerrechte überall die Kämpfe gegen das „dreifache Übel“, wie sie es nannte: Rassismus, Armut und Krieg.

Es war nicht einfach. In der Anfangszeit der Bürgerrechtsbewegung hatte sie selten eine öffentliche Rede gehalten. Aber selbst nach ihrer ersten Rede 1958 konnte sie sagen: „Diese Erfahrung hat mich gelehrt, dass Gott von mir will, dass ich singe, aber wer weiß, vielleicht will er auch von mir, dass ich Reden halte.“ Wenn Martin manchmal davor zurückschreckte, sie öffentlich auftreten zu lassen, sagte sie ihm, dass sie seine Berufung teilte. „Verstehst du das nicht?“, fragte sie ihn. „Du weißt doch, ich habe das gleiche Verlangen, den Menschen zu dienen, wie du.“

Coretta fing sehr bald an, ihre Bekanntheit und ihre Stellung zu nutzen, um die Anliegen zu Gehör zu bringen, die ihr besonders am Herzen lagen: Arbeitslosigkeit, Diskriminierung, Fördermaßnahmen, militärische Ausgaben sowie später Gleichberechtigung, AIDS-Aufklärung und Waffengewalt. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1972 trat sie öffentlich als Befürworterin von George McGovern auf, und danach wurde sie von Kandidaten auf allen politischen Ebenen immer wieder um Befürwortung und Unterstützung gebeten.

Sie hielt an Martins starker Ablehnung des Vietnamkriegs fest, obwohl sie sich damit unbeliebt machte, und später, in der Regierungszeit von Ronald Reagan, sprach sie sich deutlich gegen militärische Aufrüstung und den atomaren Wettlauf aus. Sie lehnte beide Kriege im persischen Golf ab und nutzte 1991 ihre Ansprache am Martin-Luther-King-Tag, um zu einem Waffenstillstand im Kampfgebiet aufzurufen. Sie sah eine enge Verbindung zwischen Militarismus und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und zwischen der Unterdrückung von Frauen und dem Militarismus. Sie engagierte sich besonders in den Frauenbewegungen der National Organization for Women, der Women’s International League for Peace und bei Church Women United.

Militärische Ausgaben betrachtete Coretta zum Teil als Unrecht gegenüber anderen Prioritäten, besonders der Bildung. 1991 bemerkte sie: „Die USA geben 55 Cent jedes Dollars, der als Steuer gezahlt wurde, für das Militär aus, verglichen mit nur zwei Cent, die für die Bildung verwendet werden.“ Als Opfer dieser Finanzpolitik nannte sie „amerikanische Schulkinder, die drei Millionen Obdachlosen in Amerika, die 20 Millionen Amerikaner, die jeden Tag Hunger leiden, und die 37 Millionen Amerikaner, die keine Krankenversicherung haben“. Es sei ihre Überzeugung, sagte sie, dass „wir den Analphabetismus und andere gesellschaftliche Probleme nicht lösen können, solange wir nicht die Geißel des Militarismus vom Angesicht der Erde ausradieren können“.

Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit war für Coretta immer ein wichtiges Anliegen. Sie startete Initiativen wie z. B. in der Mitte der 1970er den Aufbau eines Full Employment Action Councel im King Center. Sie selbst agierte dabei als Vorsitzende und wollte das politische Handeln in Bezug auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beschleunigen, weil die Zahl der Arbeitslosen in der afroamerikanischen Gemeinde beständig hoch blieb. Sie war eine starke Befürworterin des Humphrey-Hawkins-Gesetzes von 1978, das durch verschiedene Vorgaben maximale Beschäftigung, steigende Produktivität, Preisstabilität und ein ausgeglichenes Verhältnis von Handel und Etat erreichen wollte.

Die Anliegen Arbeit und Gerechtigkeit standen auch hinter Corettas ausdrücklicher Unterstützung von Quotenregelungen, mit denen versucht werden sollte, die Benachteiligung von Afroamerikanern und anderen Minderheiten im Laufe der amerikanischen Geschichte wiedergutzumachen. Sie wandte sich gegen eine kalifornische Initiative, die Quotenregelungen abschaffen wollte, und schrieb: „Wie mein Mann bin ich sehr davon überzeugt, dass Quotenregelungen wertvoll sind – nicht nur, um die Gerechtigkeit voranzubringen, sondern auch, um die Gesellschaft zu heilen und zu vereinen.“ 1977 schloss sie sich anderen Bürgerrechtsführern und -gruppen bei der Forderung einer bundesstaatlichen Maßnahme zugunsten von Quotenregelungen an, nachdem ein weißer Jurastudent aus Kalifornien dagegen vor Gericht gezogen war.

Corettas beständige Fürsprache zugunsten der Menschenrechte führte dazu, dass sie jedes Jahr eine Rede im King Center hielt, in der sie einen nationalen und internationalen Überblick gab über die Erfolge für die Menschenrechte und die Herausforderungen für sie und die demokratische Regierungsform. Sie nannte es die „State-of-the-Dream “-Rede – eine Lagebestimmung, wie es um den Traum ihres Mannes und um ihren eigenen Traum bestellt war.

Sie reiste viel durch die ganze Welt, und 1977 begleitete sie Andrew Young als Mitglied der U.S. Delegation zur Generalversammlung der Vereinten Nationen.

Zusammen mit Yolanda organisierte sie 1985 Proteste gegen die Apartheidpolitik vor der südafrikanischen Botschaft in Washington, D.C. Doch ihre Südafrikareise im Jahr 1986 war umstritten, weil sie den Staatspräsidenten Pieter W. Botha und den Vorsitzenden der Zulu-Partei, Mangosuthu Bothelezi, treffen wollte. Sie geriet unter Druck und sagte diese Begegnungen in letzter Minute zugunsten eines Besuchs in Soweto und eines Treffens mit Mrs Nelson Mandela und dem Aktivisten Allan Boesak ab. Coretta beschrieb ihre Begegnung mit Winnie Mandela, der Frau des lange inhaftierten Nelson Mandela, als „einen der erhebendsten und sinnvollsten Augenblicke“ ihres Lebens. Der kürzlich in sein Amt eingesetzte Erzbischof Desmond Tuto begleitete sie beim Besuch eines durch die Apartheid entstandenen Elendsviertels. Zehn Jahre später stand sie bei Mandela, als er zum Präsidenten von Südafrika vereidigt wurde.

Mit ihrer Forderung nach voller rechtlicher Anerkennung von Homosexuellen geriet Coretta zwischen die Fronten, ließ sich in ihrer Haltung aber nicht erschüttern. Im November 2000 sagte sie in einer Rede: „Ich appelliere an jeden, der an Martin Luther Kings Traum glaubt, am Tisch der Bruderschaft und Schwesternschaft Platz zu machen für die lesbischen und schwulen Menschen.“ Ihr weiter Blick hinsichtlich der Menschenrechte brachte ihr 2004 eine Ehrung von der amerikanischen Anwaltskammer ein, in der es hieß: „Sie hat die Botschaft von Frieden und Gewaltfreiheit und die Notwendigkeit, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, auf verschiedene Kontinente und in alle Ecken der Vereinigten Staaten getragen.“ Einmal wurde sie von mehreren Leuten gebeten, einen Schwulen wegen seiner sexuellen Orientierung zu entlassen, aber dies lehnte sie ab. Sie sagte, er habe immer ausgezeichnet gearbeitet und jeder Mensch verdiene es, Arbeit zu haben.

Coretta setzte sich oft und beständig für die Entlastung von James Earl Ray ein, der den Mord an Dr. King erst gestanden, dann aber widerrufen hatte. Coretta und andere Mitglieder ihrer Familie glaubten, dass man Ray den Mord in die Schuhe geschoben hatte und dass die Ermordung von Martin vielleicht auf eine größere Verschwörung zurückging, an der möglicherweise sogar die Regierung beteiligt war. Im April 1998 empfahl sie eine Kommission einzusetzen, die herausfinden sollte, wer hinter dem Attentat steckte. Obwohl sie sich mit ihrer Hartnäckigkeit unbeliebt machte, war es für sie doch wichtig, dass eine tiefere Bedeutung hinter der rassistischen Gewalt in Amerika steckte. „Mir ist klar geworden“, sagte sie damals, „dass es vielen Leuten lieber wäre, die Ermordung meines Mannes zu vergessen und als Nation auf die Ziele hinzuarbeiten, die seinen Traum für Amerika ausmachten. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass man die Narben der rassistischen Gewalt nicht heilen kann, wenn man sie nicht dem Licht der Wahrheit aussetzt.“ Nach einer Untersuchung des Justizministeriums wurden jedoch von der Staatsanwaltschaft keine glaubhaften Beweise für eine Verschwörung gefunden, bei der Ray irgendwie für den Mord benutzt worden oder daran beteiligt gewesen wäre.

Coretta nahm an zahllosen Demonstrationen und Protesten teil – angefangen bei einer gewaltigen Demonstration in Charleston/South Carolina im Mai 1969 zur Unterstützung des streikenden Krankenhauspersonals, über eine Kundgebung und einen Marsch zur Unterstützung des Busverkehrs für Schüler in Boston im Jahr 1974, bis hin zu ihrer Verhaftung bei den Protesten gegen die Apartheid im Jahr 1985. Am meisten bedeuteten ihr jedoch wahrscheinlich die zwei Veranstaltungen, die 1983 und 2003 zum Gedenken an den Marsch für Arbeit und Freiheit nach Washington abgehalten wurden. Damals, im Jahr 1963, hatte Martin seine berühmteste Rede gehalten. 1983 leitete sie die Bemühungen, die 800 Menschenrechtsorganisationen – die Coalition of Conscience – und eine halbe Million Demonstranten nach Washington, D.C., brachten. Das Ziel war, sich an den Marsch von 1963 zu erinnern und gleichzeitig die Regierung dazu aufzurufen, sich stärker im Kampf gegen die Armut zu engagieren.

20 Jahre später kam sie mit einer viel kleineren Gruppe – es waren ein paar tausend Menschen – zu einer emotionalen und lebhaften Wiedervereinigung zusammen, bei der ein Gedenkstein zur Erinnerung an Martins Rede enthüllt wurde. Aber die Feierlichkeiten dieses Wochenendes machten auch deutlich, dass sich der Kreis der Bürgerrechtsvertreter erweitert hatte. Er umfasste nicht nur Coretta und die Familie King sowie solche treuen Anhänger der Bewegung wie Pastor Jesse Jackson und den früheren Kongressabgeordneten Eleanor Holmes Norton, sondern auch Amerikaner arabischer Herkunft, Hispanier, Schwule und Lesben und andere Gruppen, die noch nicht so lange dabei waren und sich erst vor kurzem der Kampagne für soziale Gerechtigkeit angeschlossen hatten.

Als Coretta auf ihr 75. Lebensjahr zuging, konnte sie voller Stolz an ihre Reise zurückdenken. „Ich würde mich freuen, wenn die Jahre, die ich im Kampf für den Frieden, die Menschenrechte und eine Gesellschaft ohne Rassismus, Sexismus, Homophobie und alle Formen des Fanatismus eingesetzt habe, dazu beigetragen hätten, das Leben für eure Generation ein bisschen besser zu machen“, sagte sie 2002 im Bennett College. Zwei Jahre später kehrte sie nach Boston zurück, wo sie Martin das erste Mal begegnet war.

Der Kreis hatte sich geschlossen, als sie dorthin reiste, um eine Ehrung ihrer Alma Mater, des New England Conservatory of Music, in Empfang zu nehmen. Wie anders hatte sich alles entwickelt, als sie es sich vor 50 Jahren hätte ausmalen können. Doch durch all diese Erfahrungen hatte Coretta Scott King am Ende ihre Bestimmung gefunden!