7 Memphis

Martin Luther Kings gewaltfreie Protestmethoden brachten den Afroamerikanern 1956 die Freiheit, die Busse in Montgomery/Alabama ohne Einschränkungen zu benutzen. Die Bewegung breitete sich in rasender Geschwindigkeit aus. Im Januar 1957 wurde die Southern Christian Leadership Conference (SCLC) von Pastoren aus zehn südlichen Bundesstaaten in Atlanta/Georgia gegründet. Martin wurde zum Vorsitzenden gewählt.

Martin sagte damals voraus, dass die Menschen im ganzen Land ihn als Wundermann betrachten würden. Und so war es auch. Wie er es prophezeit hatte, wurde Martin Luther King in den folgenden Jahren immer wieder um seine Unterstützung gebeten, wenn es darum ging, Afroamerikaner von verschiedenen Formen der Rassendiskriminierung zu befreien.

Die afroamerikanischen Müllmänner, die im März 1968 in Memphis/Tennessee unter der Leitung von Pastor James Lawson für mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen streikten, waren da keine Ausnahme.

Jim Lawson war ein alter Freund der Kings, und besser als jeder andere hatte er es verstanden, die Bedeutung der Gewaltfreiheit als Ansatzpunkt für die Bürgerrechtsbewegung der Südstaaten zu beschreiben. Jim war in Indien gewesen, und Gandhis Auflehnung durch passiven Widerstand hatte ihn überzeugt. Der Plan für die gewaltfreien Sitzstreiks in Nashville im Jahr 1961 ging vor allem von ihm aus, und dieser Protest war so gut organisiert und spiegelte das Anliegen der Menschen und die Theorie der Gewaltfreiheit so gut wider, dass Martin sagte, in Nashville gebe es „die beste gewaltfreie Bewegung der Südstaaten“.

Aus der Bürgerrechtsbewegung von Nashville gingen Leiter hervor, die sich bis heute im gewaltfreien Kampf engagieren. Neben Jim Lawson ist das Pastor James Bevel, ein Organisator für Volksbewegungen, der unglaublich viel Einblick besitzt und früher einer der führenden Köpfe der Bewegung war. Außerdem Marion Berry, der frühere Bürgermeister von Washington, D.C., Bernard Lafayette, der internationale Workshops für Gewaltfreiheit nach Kings Vorbild organisiert, John Lewis, ein Kongressmitglied der Vereinigten Staaten, und Pastor C.T. Vivian, der Workshops anbietet und Reden und Predigten über Rassenfragen, Rassismus und zeitgenössische amerikanische Politik hält.

Martin Luther King wollte einerseits seine Unterstützung für den gewaltfreien Protest der Müllmänner in Memphis zeigen, aber auf der anderen Seite wollte er sich dort nicht festhalten lassen. Seine hauptsächliche Aufmerksamkeit galt seiner Poor People’s Campaign10, die im April in einem Marsch auf Washington gipfeln sollte. Diese Aktion sollte zum ersten Mal die Armen der gesamten Nation vereinen – arme Weiße aus den Appalachen, Puertoricaner, Hispanoamerikaner, Indianer und Afroamerikaner. Martins Absicht war, nach Memphis zu gehen, dort einen Protestmarsch am 28. März 1968 anzuführen und wieder abzureisen.

Bei diesem Marsch nutzten einige afroamerikanische Teenager die Gelegenheit, um auf dramatische Weise zu demonstrieren, dass zwar alle Afroamerikaner die Freiheit wollen, aber nicht alle auf gewaltfreie Weise. Sie schlossen sich den Reihen der gewaltfreien Demonstranten an, brachen plötzlich aus und fingen an, Steine zu werfen und Fensterscheiben einzuschlagen. Martin war völlig überrumpelt. Er versuchte, Ordnung in die Gruppe zu bringen, aber es gelang ihm nicht. Seine Mitarbeiter hatten Angst, der Ausbruch der Gewalt könnte von einem Rassisten als Vorwand benutzt werden, um Martin zu erschießen. Eine Gruppe von Pastoren lenkte Martin zur Seite und brachte ihn vom Schauplatz fort.

Dass der friedliche Marsch so zerstört worden war, machte Martin sehr zu schaffen. Ein Sechzehnjähriger war während der Zwischenfälle von einem Polizisten getötet worden, 62 Menschen waren verletzt worden und ungefähr 200 hatte man festgenommen.

Für manche Menschen sah es so aus, als hätte King eine gewalttätige Demonstration angeführt. Einige hatten den Eindruck, er habe sich davongestohlen und seine Anhänger im Stich gelassen. Und manche meinten, er hätte die Kontrolle über seine Leute verloren. Andere nutzten die Gelegenheit und verlangten, dass man King das Recht verweigern solle, einen Protestmarsch nach Washington zu führen, weil sonst die Gefahr bestünde, dass die Hauptstadt zerstört werden könnte.

Martin musste seinen Plan aufgeben, nur bei einem Marsch mitzulaufen und Memphis dann zu verlassen. Es war notwendig, dass er eine weitere Demonstration leitete. „In Memphis“, erklärte er seinen Freunden, „steht die Gewaltfreiheit auf dem Spiel.“ Er konnte nicht zulassen, dass die Gewalt das letzte Wort hatte.

Am 3. April verabschiedete sich Martin in Atlanta von seiner Familie und machte sich wieder auf den Weg nach Memphis.

Martin musste eine Weile auf den Start des Flugzeugs warten. Als er endlich an Bord war, machte der Pilot eine Durchsage und begründete die Verzögerung. „Wir haben Dr. Martin Luther King an Bord“, sagte er und erklärte weiter, dass es eine Bombendrohung gegeben habe und dass das Flugzeug am Boden bleiben musste, bis das gesamte Gepäck kontrolliert worden war. Das Flugzeug war bewacht worden, um sicherzustellen, dass nichts schief gehen würde, sagte der Pilot.

Aufgrund des Vorfalls am 28. März schickte Martin vier Männer aus seinem Team, Jesse Jackson, Hosea Williams, James Bevel und James Orange, nach Memphis hinein. Sie sollten mit den jungen Menschen reden, die sich der gewaltfreien Haltung nicht anschließen wollten. Er wollte selbst noch einige Massenkundgebungen abhalten, bevor am Montag, dem 8. April, der Versuch einer gewaltfreien Demonstration in Memphis starten sollte.

Die erste Kundgebung sollte am Abend von Martins Ankunft stattfinden, und kurz nachdem er Zimmer 306 im von Schwarzen betriebenen Lorraine Motel bezogen hatte, traf sich Martin zu einer Besprechung mit seinem Team. Die Kundgebung im Mason Street Temple wurde an diesem Abend ein überwältigender Erfolg. Die militanten Bürgerrechtler und die Anhänger der Gewaltfreiheit kamen bei diesem Treffen zusammen.

Martin hielt eine Rede und erzählte, was er neulich im Flugzeug erlebt hatte. Er sprach auch von Drohungen in Memphis und sagte: „Aber jetzt spielt das wirklich keine Rolle mehr für mich. Denn ich war auf dem Berggipfel … und ich habe hinübergeschaut und das Verheißene Land gesehen.

Vielleicht bin ich nicht dabei, wenn ihr dort einzieht, aber ich will euch heute Abend sagen, dass wir als Volk dieses Verheißene Land erreichen werden. Das macht mich heute Abend froh. Ich sorge mich um gar nichts. Ich habe vor keinem Menschen Angst. Mit eigenen Augen habe ich die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen.“

Die Menschen erhoben sich alle gleichzeitig. Der Applaus war überwältigend – ein Zeichen, dass der gewaltfreie Zusammenschluss der Afroamerikaner in Memphis den Sieg davontragen konnte. Martin war voller Hoffnung.

Am nächsten Morgen fiel den Menschen in Martins Umgebung auf, dass er äußerst gut gelaunt war und irgendwie überglücklich wirkte. Den größten Teil des Tages verbrachte er mit seinen Mitarbeitern in seinem billigen Hotelzimmer, wo er sich mit seinem Team sehr lange über die Bedeutung der Gewaltfreiheit austauschte. Er zeigte sich besorgt, weil das weiße Amerika bisher zu wenig auf die gewaltfreien Proteste reagiert hatte, die in den vergangenen zehn Jahren durchgeführt worden waren.

Hosea Williams äußerte sich später darüber, welche Betonung Martin an diesem Tag auf die Gewaltfreiheit legte: „Dr. King hielt uns eine Predigt. Er sagte, die einzige Hoffnung, die Seele dieser Nation zu befreien, läge in der Macht der Gewaltfreiheit. Er sprach über das Leben von Jesus und Gandhi und erklärte uns: ,Ich habe die Angst vor dem Tod überwunden.‘“

An diesem Nachmittag betrat Ralph Abernathy Zimmer 306 und sah, dass Martin eine doppelte Portion gebratenen Seewolf aß, es war eines seiner Lieblingsgerichte.

„Wo ist meine Portion?“, fragte Abernathy.

„Ich hab nichts für dich bestellt, Doc, aber du kannst bei mir mitessen“, sagte Martin. (Doc oder Doctor nannten sich die engeren Mitarbeiter der Bürgerrechtsbewegung gegenseitig, wenn sie sich den rassistischen Ungerechtigkeiten in Amerika entgegenstellten.) So saßen Martin und Abernathy zusammen und aßen gemeinsam von einem Teller.

Früh an diesem Abend bereitete Mrs Samuel Kyles zu Hause das Abendessen vor. Sie und ihr Mann freuten sich darauf, Martin, seinen Bruder A. D. King und einige Teammitglieder und Mitarbeiter zu Gast zu haben. Martin freute sich auf ein selbst gekochtes Essen. Von den Mahlzeiten in Restaurants hatte er schnell genug.

Während er sich zum Essen umzog, unterhielt sich Martin mit Chauncey Eskridge aus Chicago, dem früheren Rechtsberater der SCLC.

„Chauncey“, sagte Martin, „kannst du Jesse bitte sagen, er soll sich fertig machen?“ Und als Eskridge hinausging, fügte Martin hinzu: „Und sag ihm, er soll eine Krawatte anziehen!“ Chauncey verließ das Zimmer, um Jesse zu suchen.

Gemeint war Jesse Jackson. Er war 26 Jahre alt und leitete die Operation Breadbasket, ein Projekt der SCLC zur Unterstützung der Afroamerikaner. Jesse, ein muskulöser Mann und ehemaliger Baseballspieler, hatte die Chance gehabt, als professioneller Spieler bei den berühmten White Sox in Chicago einzusteigen, aber er hatte sich dagegen entschieden. Stattdessen begann er ein Studium am Theologischen Seminar in Chicago und brach es später ab, um dem Team der SCLC beizutreten. Jesse trug selten das sonst übliche weiße Hemd mit Krawatte. Er neigte eher zu Rollkragenpullovern oder zum Dashiki, einem weiten bunten afrikanischen Gewand.

„Sag Dr. King, ich komme“, erwiderte Jesse auf Chaunceys Hinweis, „aber sag ihm gleich, dass ich keine Krawatte umbinden werde.“ Der gebildete Jesse stammte aus Greenville/Carolina und sprach mit dem typischen Südstaaten-Akzent.

Kurze Zeit später zog Jesse los, um Martin zu treffen. Begleitet wurde er von Ben Branch, dem Leiter und Saxophonisten einer Band, die zur Operation Breadbasket-Ortsgruppe von Chicago gehörte.

Im Zimmer 306 des Motels wurde Martin gerade mit dem Rasieren fertig, einer Tätigkeit, für die er nicht viel übrig hatte. Er hatte sehr zarte und empfindliche Haut. Abernathy kam als Nächstes mit dem Rasieren dran. Als Martin und Abernathy gerade das Zimmer verlassen wollten, fiel Abernathy ein: „Ich habe gar kein Rasierwasser verwendet.“ Er ging noch einmal ins Bad.

Martin trat für einen kurzen Moment auf den Balkon hinaus und schaute auf den Parkplatz hinunter. Er sah Jesse, ohne Krawatte und mit einem grünen Rollkragenpullover. Ben Branch stand neben ihm.

Dr. King fing an zu lachen. „Jesse“, rief er, „wie ich sehe, haben Sie mir nicht gehorcht und tragen keine Krawatte!“

„Dr. King“, sagte Jesse, als er hochschaute und in Martins belustigtes Gesicht sah. „Ich werd mir keine Krawatte umbinden. Ich brauch keine Krawatte, um mit euch allen mitzukommen. Ein Band um meinen Hals hat keinen Einfluss auf meine Art zu esI “ sen!

Dr. King lachte. Es war ein guter Tag gewesen. Mit seinen Mitarbeitern hatte er viel erreicht. Die Vorbereitungen für den geplanten Marsch gingen gut voran. Außerdem war Martins Bruder A.D. auf seiner Heimfahrt nach Louisiana/Kentucky in die Stadt gekommen. Er hatte im Motel eine Pause gemacht und war Martin zufällig über den Weg gelaufen. Die beiden Brüder hatten eine lange, entspannte Unterhaltung geführt, wozu sie in den letzten Jahren nur selten die Zeit gehabt hatten.

Jesse sah wieder zum Balkon hoch und fragte: „Dr. King, erinnern Sie sich an Ben Branch?“

„Ja, natürlich“, antwortete Martin. Bei seiner letzten Reise zu einem Breadbasket-Treffen in Chicago hatte die Band eine bewegende Interpretation von „Precious Lord“ aufgeführt, es gehörte zu Martins liebsten Spirituals. Martin hatte anderen davon erzählt, wie gut ihm dieses Stück gefallen hatte. „Ich möchte, dass ihr heute Abend ,Precious Lord‘ für mich spielt – und spielt es richtig schön für mich.“ King bezog sich auf die Abendkundgebung, bei der die Band auftreten sollte.

Bens Band kombinierte Jazz mit Spirituals, und mit ihrer Musik erreichten sie jeden Samstagmorgen beim Breadbasket-Treffen im Süden von Chicago vier- bis fünftausend Menschen. Ben lächelte und willigte ein, das Stück für Dr. King zu spielen.

Dr. Kings Fahrer Solomon Jones stand neben seinem Wagen und wartete auf Dr. King. Er sah zu ihm hoch. „Dr. King, Sie sollten sich lieber einen Mantel anziehen. Die Luft ist sehr kalt.“

Dr. King lehnte sich über den Balkon und nickte zu Solomons Empfehlung. Es sah aus, als würde er sich gleich abwenden. Jesse fiel ein, dass er beim Essen wahrscheinlich wenig Gelegenheit haben würde, mit Dr. King zu sprechen, und weil er später noch ein paar Dinge wegen des Programmablaufs mit Dr. King zu klären hatte, wollte er ihn um einen Termin bitten. Schnell sagte er: „Oh, Dr. King.“

Dr. King wandte sich leicht in Jesses Richtung und setzte zu einer Antwort an. „Ja?“

In diesem Augenblick war das Krachen eines Schusses zu hören.

Dr. King sagte nur: „Oh!“ und fiel auf den Rücken. Er war am Hals getroffen worden.

Abernathy hatte das Bad verlassen und war auf halbem Weg durch das Zimmer, als der Schuss erklang. Er war der Erste, der King erreichte.

Als andere dazukamen, sahen sie Abernathys fassungsloses Gesicht und hörten, wie er mit gequälter Stimme hilflos sagte: „Martin, Martin.“

James Laue, ein weißer Verbindungsmann zwischen der afroamerikanischen Gemeinschaft und dem Justizministerium, hetzte von seinem eigenen Zimmer den Flur entlang und drückte ein Handtuch gegen die Wunde. Abernathy rannte los und holte ein größeres Handtuch, als das erste sich voll Blut gesaugt hatte. Pastor Andrew Young suchte nach einem Puls bei Martin. Unten auf dem Parkplatz standen an die 15 Schwarze. Sie standen unter Schock und weinten. James Bevel war auf seine Knie gesunken und betete. Abernathy kniete sich vorsichtig über seinen Freund und fing leise an zu beten. Pastor Sammy Kyles, der in Zimmer 306 gewesen war, als der Schuss fiel, legte eine Decke über Martin.